GU-Imperium Die Galaktische Union
Der Petroleummotor ließ den Holzrahmen des Kraftrades erzittern, als
Eiffel das Gefährt zum Stillstand brachte. Er stieg herunter und wies
den herbeieilenden Laufburschen an, sorgsam mit dem Kraftrad umzugehen.
Immerhin war es ein persönliches Geschenk von Gottlieb Daimler und
sicherlich das einzige in Levallois-Perret, vielleicht in ganz
Frankreich. Er eilte die Stufen zum herrschaftlichen Haus inmitten der
Fertigungsbetriebe der Eiffel & Cie. hinauf, um seinem Vater die
freudige Nachricht zu überbringen.
Das warme Licht der Abendsonne erfüllte den Raum. Der alte Herr saß am
Kamin, zog genußvolle an einer Zigarre und blickte gedankenverloren
durch die großen Fenster auf die untergehende Sonne. Das Feuer
knisterte. Eiffel drückte die schwieligen Hände seines Vaters: „Das
Richtfest wird pünktlich stattfinden. Wir sind wirklich zur Ausstellung
fertig geworden. Ich bin hier, um dich einzuladen.“
„Ja.“ Der alte Herr nickte.
„Freust du dich gar nicht?“
„Oh ja. Natürlich freue ich mich. Ich wußte, daß du es schaffen
würdest.“
Eiffel legte die Stirn in Falten. „Immer weißt du alles. Das ist...“
„Ja.“ Und nach einer Pause: „Setz dich, Sohn.“ Der alte Herr blickte auf
ein Jugendfoto seiner verstorbenen Frau, das in einem Silberrahmen auf
einem Beistelltischchen stand. In fast allen Privaträumen des Hauses
waren Bilder von Catherine Mélanie Moneuse aufgestellt. Als sich sein
Blick verschleierte, wandte er sich ab. Er holte eine goldene Taschenuhr
heraus und ließ die bunte Gliederkette durch die Aufhängung der Uhr
gleiten. „Du kennst meine Uhr.“
„Natürlich. Du hast sie immer bei dir, Tag und Nacht. Einmal habe ich
sie in die Hand genommen, als ich klein war. Dann hast du mich einen Tag
lang eingesperrt.“ Eiffel lachte, aber sein Vater sah ihn ernst an.
„Magst du sie dir jetzt ansehen? Schau her! Ich halte sie so, daß du
etwas sehen kannst.“ Er ließ den Deckel aufspringen und hielt seinem
Sohn das Zifferblatt hin. „Siehst du? Drei Zeiger. Stunden, Minuten,
Sekunden. Jetzt paß auf.“ Er zog den Drei-Uhr-Knopf heraus und drehte
daran. Plötzlich schienen sich die drei Zeiger zu halbieren. Da waren
nun sechs. Jeder Zeiger hatte nämlich einen verborgenen Zwilling, der
zuvor exakt mitgelaufen war. „Man kann diese Schattenzeiger vor und
zurück stellen. Verstehst du? Vor die Jetzt-Zeit und hinter die
Jetzt-Zeit. Vor und zurück.“ Er machte eine Pause. „Und hier hinten.
Sieh mal.“ Er ließ den hinteren Deckel aufspringen und klappte aus der
Innenseite des Deckels eine Lupe auf. „Sieht man direkt von oben auf die
Karte, erkennt man die Grade eines Koordinatennetzes. Man kann es mit
diesem Rädchen horizontal und vertikal bewegen. Und dieser besondere
Knopf hier, der mit der Sicherung...“
„Vater, was soll das. Ich wollte dich bitten...“
„Still. Paß auf! Was weißt du von unserer Familiengeschichte?“
„Familiengeschichte? Nun, unsere Vorfahren waren Teppichwirker und
Händler, aber...“
Der alte Herr hob die Hand: „Du weißt noch nicht alles. Teppichwirker
und Händler. Sehr richtig. Und doch ist da etwas, was du nicht weißt.“
Das indirekte Licht im Thronsaal sprang von blau auf violett.
„Wo ist Berater Seurig?“
„Hier, Majestät. Ich eile, ich eile, ich bin schon da und stehe Euch
jederzeit zur Verfügung.“
Der König der Galaktischen Union blickte scharf. „Spare er sich diese
Floskeln! Berichte er lieber, was er herausgefunden hat!“
Seurig schlug einen unterwürfigen Tonfall an. „Die Erzeugung
arbeitsfähiger Einheiten auf wasserarmen Welten erfolgt mit unserem
neuen Verfahren innerhalb eines einzigen Sonnenlaufs. Ein großartiger
Erfolg. Auf die ganze Galaktische Union gerechnet würden uns, ganz
hypothetisch gesprochen, binnen Monatsfrist zur Ausbeutung...“, er
bemühte einen Speicherchip, um die genaue Zahl zu finden,
„...zehntausend und zweiundvierzig Planeten im Erdformat zur Verfügung
stehen. Ist das nicht wunderbar?“
„Was erzählt er mir da?“ Der König sah ihn scharf an. „Das interessiert
mich nicht.“
„Bitte verzeiht! Es interessiert Euch nicht? Oh ja! Natürlich, wie
konnte ich das nur vergessen? Das wird Euch interessieren: Wir haben
einen Asteroiden eingefangen und mit dem Palast verkoppelt. Hierdurch
haben wir unsere Kerkerkapazität für die Separatisten erhöht auf...“
„SEURIG!“ Der König explodierte förmlich. „Nun nehme er sich gefälligst
zusammen oder ich lasse ihn öffentlich zu Antimaterie verarbeiten.
Berichte er mir gefälligst, was ich wissen will!“
„Und was wäre das?“ Der Berater tat unschuldig.
„Die Galaktische Union zerfällt. Mein Imperium schwindet. Und er
quasselt von Asteroiden.“
„Verzeiht, Majestät, zuviel Aufregung schadet Euch nur.“
„Als Treibstoff zu enden, schadet meinem Berater wohl auch. Oder?“
Seurig wurde blaß. „Habe ich ihn etwa von der alten Erde ins Zentrum der
Macht geholt, damit er mich für dumm verkauft? Er ist mein Berater, also
heraus mit der Sprache.“
„Die Ausdehnung wird immer drastischer. Die imperialen Randbezirke sind
für unsere Schiffe vielleicht schon bald nicht mehr erreichbar. Der
Rauminhalt der Galaktischen Union hat sich allein in dieser
Kalendereinheit um den Faktor elf erhöht.“
Statt sich über den Landgewinn zu freuen, sackte der König in sich
zusammen. Jetzt war es an ihm, blaß zu werden.
Berater Seurig bemühte sich um einen betroffenen Tonfall: „Die
sprunghafte Ausdehnung des bekannten Raumes führt zu immer größeren
Distanzen zwischen den besiedelten Welten. Die dadurch enorm gewachsenen
Reisezeiten schon im Zentralbereich des Imperiums lassen den
interstellaren Handel früher oder später zum Erliegen kommen. Unsere
Steuern- und Abgabenschiffe von den fernen Kolonien werden uns erst nach
den Reichsfeiern erreichen. Ich habe bereits eine Rationierung aller
Luxusgüter veranlaßt.“ Dabei zog Seurig ein schiefes Gesicht. Man hätte
fast meinen können, er versuchte ein Grinsen zu unterdrücken. Um wieder
ernst zu werden, blickte er auf die vier Finger an der Hand des Königs,
mit der dieser nervös über seinen Bart strich. Seurig kannte nur einen
Menschen mit dieser anatomischen Besonderheit, die nicht aus dieser Zeit
zu sein schien. „Seit dem Zeitreisestop fünf vor zwölf ist die Zunahme
der Ausdehnung allerdings praktisch auf Null zurückgegangen.“
„Ist das alles, was ihm dazu einfällt?“
„Beileibe nicht. Ich selbst stehe der Kommission zur Einstellung aller
Zeitreisen als Leiter vor. Die klügsten Köpfe des Imperiums Seiner
Majestät haben das Problem lokalisiert.“ Seurig lächelte triumphierend.
„Unsere Wirtschaft muß von Zeitreisen unabhängig werden. Denn jeder
Transport eines festen Körpers entlang des Zeitstroms führt zwangsläufig
zu einer beschleunigten Flucht aller Körper im Universum voneinander und
damit zu einer Erweiterung des Raumes.“
Der König klang drohend: „Daß Zeitreisen das Universum aufblasen, ist
schon seit der Erfindung des Radeckes bekannt. Ich will Maßnahmen!“
„Irgendwann werden wir keine Zahnstocher von den Ferengi und keine
Bonbons aus Risa mehr erhalten. Die Produktion dieser Güter kann aber
mit etwas gutem Willen auch hier erfolgen...“
Der König unterbrach Seurig mit einem drohenden Unterton. Er sprach ganz
langsam. „Die Bonbons aus Risa schmecken mir aber besser.“
„Ja... natürlich, Majestät.“ Seurig fuhr schnell fort: „Wir haben das
Zeitportal vorsichtshalber auch für das Finanzministerium und die
Tourismuskonzerne geschlossen. Lediglich die Patrouille reiste zur Erde
der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts.“
„Was? Ist er von Sinnen?“
Seurig bemühte sich ruhig zu sprechen: „Ich lasse dort eine Turbulenz
untersuchen.“
„Durch die Reise der Patrouille wird der Raum wiederum ausgedehnt? Das
kann ich nicht zulassen.“
„Wir können keine Spur unberücksichtigt lassen. Die Patrouille wird in
zwei Komma vier Minuten bereits durch das Zeitportal zurückkehren.
Dürfte ich vorschlagen, daß Ihr das Eintreffen direkt am Portal
erwartet.“
Statt einer Antwort wuchtete sich der König aus dem Thronsessel und
watschelte eilig voraus. Seurig hatte wenig Mühe dem phlegmatisch
gewordenen Monarchen nachzulaufen. Sie postierten sich direkt vor dem
Portal. Der König spielte ungeduldig mit den Kettengliedern einer antik
anmutenden, goldenen Taschenuhr, die an den Kordeln seiner Paradeuniform
baumelte.
„Bitte Vorsicht beim Einlauf der Patrouille!“ Der Portalsvorsteher tat
wichtig bei Ansage seines Spruches. Schließlich hatte man nicht alle
Tage den Monarchen persönlich am Portal.
„QuellEins meldet sich zur Stelle.“ Der kleine, untersetzte
PatrouillenEins stand stramm. Hinter ihm reihte sich seine Mannschaft in
der Reihenfolge auf, wie sie aus dem Portal trat.
Seurig ging auf den Mann zu: „Bequem in der Gegenwart stehen, QuellEins!
Bericht!“
„Turbulenz auf der Zeitlinie ist lokalisiert. Ort Sol, Planet 3,
Frankreich. Zeit 1821.“
„Ursache der Turbulenz? Beteiligte Personen?“
Statt QuellEins antwortete der PatrouillenZwei: „ShroederZwei berichtet
wie befohlen. Es handelt sich um den Einsatz einer Waffe bei einer
Auseinandersetzung eines Husarenregiments mit räuberischem Gesindel.“
„Nähere Angaben!“
„Niemand konnte identifiziert werden.“
Seurig wurde lauter: „Nähere Angaben zur Art der Waffe!“
ShroederZwei trat von einem Bein auf das andere. „Es war aufgrund der
Feuerleistung wohl so etwas wie ein Handstrahler, wie er gewöhnlich von
Attentätern benutzt wird.“ Der Patrouillensoldat blickte verstohlen auf
den König.
Seurig entging der Seitenblick nicht. „1821? Was will damit gesagt sein,
ShroederZwei? Reden, sofort!“
SchroederZwei antwortete stockend: „Der Handstrahler hatte Ähnlichkeit
mit... mit der Uhr Seiner Majestät“, und schnell fügte er an, „des
Königs, der allezeit gepriesen werde, der uns Wohltaten gewährt, der
stets...“
„Dachte ich mir doch“, murmelte Seurig leise.
„Genug!“ Der König ging auf den Mann los, der am liebsten wieder durch
das Zeitportal verschwunden wäre, und packte ihn mit vierfingrigen
Händen. „Was redet er da? Ist er noch bei Trost?“ Der König ballte die
Fäuste und fuchtelte dem Mann vor dem Gesicht herum. „Die Uhr ist ein
absolutes Einzelstück. Nirgendwann kann niemand nirgendwo so etwas
besitzen oder verwenden. Ist das klar?“
Der Mann zitterte.
Seurig, der sich das alles ruhig ansah, räusperte sich. Der König drehte
sich um, das Gesicht gerötet, die Augen wild. „Majestät, erlaubt ihr?“
Seurig sah auf die Uhr, die an den Kordeln baumelte, und tat, als wollte
er etwas daran untersuchen. Der abwehrende König erstarrte, als die
Durchsage des Zeitcomputers mechanisch anlief: „Erhöhung der
Raumausdehnung durch Patrouillentransport um Faktor neuntausend.“
Da packte Seurig die Uhr, riß sie mitsamt den Kordeln von der Uniform
des Königs und erreichte mit wenigen schnellen Schritten das Zeitportal.
In dem zwölfeckigen Rahmen wandte er sich noch einmal um und rief laut:
„Das war´s. Ich trete durch das Portal und trenne jede Welt von der
anderen. Freiheit für alle!“ Seurig lachte und jubelte: „Die Erde
verabschiedet sich hiermit aus dem Verbund Steuern und Abgaben zahlender
Welten, Eure Majestät.“ Ein entsetzliches Sirren hob an, das an der
oberen Grenze der Hörbarkeit die Luft zum Vibrieren brachte. Der König
war fahl geworden. Alles Leben schien von ihm gewichen. Das Licht der
Lampen erreichte ihn nicht mehr. Er wurde fahler und fahler und
schließlich fast durchsichtig. Das Geräusch wurde immer heller und
sirrender. Dann war der König kaum noch zu sehen. Seurig rief noch über
die Schulter: „Versucht lieber nicht, mir zu folgen!“ Dann trat er in
den Brennpunkt des konkav geformten Hohlspiegels und unter blauem
Flimmern wurde sein Transport mit einem grellen Blitz eingeleitet. Das
Entsetzen ließ er hinter sich zurück.
Seurig legte einen Scheit auf die Glut und setzte sich wieder zu seinem
Sohn. „Ja, so kam das. Zuerst war ich bei dem Husarenregiment, später
verdingte ich mich bei einem Holzgroßhändler. Dort lernte ich dann
Catherine Mélanie kennen, deine Mutter. Sie war die Tochter des
Handelsmannes, der meine Talente sehr zu schätzen wußte. Schließlich gab
er sie mir zur Frau. 1824 heirateten wir. Ja, und dann ging es nach
Dijon, wo ich die Präfektur übernahm. Und deine Mutter erwirtschaftete
in dieser Zeit geschickt unser kleines Vermögen, das dir bei deinen
Konstruktionen nicht wenig geholfen hat. Ich selbst hielt mich
weitgehend im Hintergrund, wollte nicht gern gesehen werden.“ Dabei
zwinkerte der alte Mann und schwenkte triumphierend die goldene
Taschenuhr an der bunten Kette. „Ich habe mir oft überlegt, ob ich nicht
zurückkehren sollte, um den Thron zu besetzen. Aber ich wußte irgendwie,
mein Platz war hier. An eurer Seite. Bis heute.“ Er nickte seinem Sohn
freundlich zu, hob aber die Hand, als dieser etwas sagen wollte.
„Ja, ich bin ein Separatist. Bevor die Erde dem Imperium beitreten
mußte, war sie eine prosperierende Welt, mit einer nur planetaren, aber
funktionierenden Wirtschaft. Das Imperium rechtfertigte die Unterwerfung
mit der Begründung eines galaktischen Wirtschaftsraumes, der für alle
Vorteile bringen sollte. In Wirklichkeit wurde die Erde von einer
Abgabenüberlast erdrückt. Das darf nicht geschehen. Deshalb muß die
Erde, müssen alle Welten vor einer Galaktischen Union in Sicherheit
gebracht werden. Endgültig! Ich habe lange mit mir gerungen. Denn es ist
zu befürchten, daß die Steuereintreiber der Zukunft die Wellenfusion als
Antrieb nutzen lernen, um mit superschnellen Schiffen die entlegensten
Planeten zu melken. Kein Weg wird ihnen zu weit sein. Deshalb muß ich
einen weiteren Transport entlang des Zeitstroms einleiten, die
Raumausdehnung gegen unendlich treiben und damit endgültig die Distanzen
zwischen den Welten unüberbrückbar machen. Die Erde wird isoliert und
vielleicht einsam sein inmitten der Nachbarn, die sie nie erreichen
wird, aber frei. Ich stelle die Uhr auf den entlegensten Punkt auf der
Zeitlinie ein, und drücke hier auf diesen Knopf - leb´ wohl, mein Sohn!“
Eiffel war aufgesprungen, rang die Hände, suchte nach Worten.
„Halt´ dich zurück! Keine Eiwände! Ich habe alles durchdacht. Niemand
wird mit einem zweiten Zeitreisegerät hierher kommen und dies
ungeschehen machen. Es würde nichts nützen. Denn dieses Gerät wird auf
einer nie endenden Reise in die Unendlichkeit unerreichbar, uneinholbar
sein. Ich selbst werde hier in dieser Zeit nicht weiter existieren. Noch
einmal, leb´ wohl!“
Damit drückte Seurig auf den Knopf und warf die Uhr in das Kaminfeuer.
Sie verschwand. Eiffel hatte nicht mehr die Zeit, etwas zu sagen, denn
es erklang ein entsetzliches Sirren, das an der oberen Grenze der
Hörbarkeit die Luft zum Vibrieren brachte. Seurig war fahl geworden.
Alles Leben schien von ihm zu weichen. Der eben noch im warmen Licht der
Abendsonne gesessen hatte, wurde fahler und fahler, und schließlich
völlig durchsichtig. Eiffel widerstand dem Drang, seinen Vater
festzuhalten. Er war klug genug, zu ahnen, weshalb er aus dieser Zeit
verschwand. Der noch nicht Geborene hatte den Kontakt zu diesem famosen
kleinen Instrument verloren, das Zeitreisegerät und Waffe in einem war,
und das dem Zeitreisenden half, in einer fremden Zeit zu leben.
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