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Hier eine Geschichte von Alexander Seibold.

GU-Imperium
Die Galaktische Union

Der Petroleummotor ließ den Holzrahmen des Kraftrades erzittern, als Eiffel das Gefährt zum Stillstand brachte. Er stieg herunter und wies den herbeieilenden Laufburschen an, sorgsam mit dem Kraftrad umzugehen. Immerhin war es ein persönliches Geschenk von Gottlieb Daimler und sicherlich das einzige in Levallois-Perret, vielleicht in ganz Frankreich. Er eilte die Stufen zum herrschaftlichen Haus inmitten der Fertigungsbetriebe der Eiffel & Cie. hinauf, um seinem Vater die freudige Nachricht zu überbringen.
Das warme Licht der Abendsonne erfüllte den Raum. Der alte Herr saß am Kamin, zog genußvolle an einer Zigarre und blickte gedankenverloren durch die großen Fenster auf die untergehende Sonne. Das Feuer knisterte. Eiffel drückte die schwieligen Hände seines Vaters: „Das Richtfest wird pünktlich stattfinden. Wir sind wirklich zur Ausstellung fertig geworden. Ich bin hier, um dich einzuladen.“
„Ja.“ Der alte Herr nickte.
„Freust du dich gar nicht?“
„Oh ja. Natürlich freue ich mich. Ich wußte, daß du es schaffen würdest.“
Eiffel legte die Stirn in Falten. „Immer weißt du alles. Das ist...“
„Ja.“ Und nach einer Pause: „Setz dich, Sohn.“ Der alte Herr blickte auf ein Jugendfoto seiner verstorbenen Frau, das in einem Silberrahmen auf einem Beistelltischchen stand. In fast allen Privaträumen des Hauses waren Bilder von Catherine Mélanie Moneuse aufgestellt. Als sich sein Blick verschleierte, wandte er sich ab. Er holte eine goldene Taschenuhr heraus und ließ die bunte Gliederkette durch die Aufhängung der Uhr gleiten. „Du kennst meine Uhr.“
„Natürlich. Du hast sie immer bei dir, Tag und Nacht. Einmal habe ich sie in die Hand genommen, als ich klein war. Dann hast du mich einen Tag lang eingesperrt.“ Eiffel lachte, aber sein Vater sah ihn ernst an. „Magst du sie dir jetzt ansehen? Schau her! Ich halte sie so, daß du etwas sehen kannst.“ Er ließ den Deckel aufspringen und hielt seinem Sohn das Zifferblatt hin. „Siehst du? Drei Zeiger. Stunden, Minuten, Sekunden. Jetzt paß auf.“ Er zog den Drei-Uhr-Knopf heraus und drehte daran. Plötzlich schienen sich die drei Zeiger zu halbieren. Da waren nun sechs. Jeder Zeiger hatte nämlich einen verborgenen Zwilling, der zuvor exakt mitgelaufen war. „Man kann diese Schattenzeiger vor und zurück stellen. Verstehst du? Vor die Jetzt-Zeit und hinter die Jetzt-Zeit. Vor und zurück.“ Er machte eine Pause. „Und hier hinten. Sieh mal.“ Er ließ den hinteren Deckel aufspringen und klappte aus der Innenseite des Deckels eine Lupe auf. „Sieht man direkt von oben auf die Karte, erkennt man die Grade eines Koordinatennetzes. Man kann es mit diesem Rädchen horizontal und vertikal bewegen. Und dieser besondere Knopf hier, der mit der Sicherung...“
„Vater, was soll das. Ich wollte dich bitten...“
„Still. Paß auf! Was weißt du von unserer Familiengeschichte?“
„Familiengeschichte? Nun, unsere Vorfahren waren Teppichwirker und Händler, aber...“
Der alte Herr hob die Hand: „Du weißt noch nicht alles. Teppichwirker und Händler. Sehr richtig. Und doch ist da etwas, was du nicht weißt.“

Das indirekte Licht im Thronsaal sprang von blau auf violett.
„Wo ist Berater Seurig?“
„Hier, Majestät. Ich eile, ich eile, ich bin schon da und stehe Euch jederzeit zur Verfügung.“
Der König der Galaktischen Union blickte scharf. „Spare er sich diese Floskeln! Berichte er lieber, was er herausgefunden hat!“
Seurig schlug einen unterwürfigen Tonfall an. „Die Erzeugung arbeitsfähiger Einheiten auf wasserarmen Welten erfolgt mit unserem neuen Verfahren innerhalb eines einzigen Sonnenlaufs. Ein großartiger Erfolg. Auf die ganze Galaktische Union gerechnet würden uns, ganz hypothetisch gesprochen, binnen Monatsfrist zur Ausbeutung...“, er bemühte einen Speicherchip, um die genaue Zahl zu finden, „...zehntausend und zweiundvierzig Planeten im Erdformat zur Verfügung stehen. Ist das nicht wunderbar?“
„Was erzählt er mir da?“ Der König sah ihn scharf an. „Das interessiert mich nicht.“
„Bitte verzeiht! Es interessiert Euch nicht? Oh ja! Natürlich, wie konnte ich das nur vergessen? Das wird Euch interessieren: Wir haben einen Asteroiden eingefangen und mit dem Palast verkoppelt. Hierdurch haben wir unsere Kerkerkapazität für die Separatisten erhöht auf...“
„SEURIG!“ Der König explodierte förmlich. „Nun nehme er sich gefälligst zusammen oder ich lasse ihn öffentlich zu Antimaterie verarbeiten. Berichte er mir gefälligst, was ich wissen will!“
„Und was wäre das?“ Der Berater tat unschuldig.
„Die Galaktische Union zerfällt. Mein Imperium schwindet. Und er quasselt von Asteroiden.“
„Verzeiht, Majestät, zuviel Aufregung schadet Euch nur.“
„Als Treibstoff zu enden, schadet meinem Berater wohl auch. Oder?“
Seurig wurde blaß. „Habe ich ihn etwa von der alten Erde ins Zentrum der Macht geholt, damit er mich für dumm verkauft? Er ist mein Berater, also heraus mit der Sprache.“
„Die Ausdehnung wird immer drastischer. Die imperialen Randbezirke sind für unsere Schiffe vielleicht schon bald nicht mehr erreichbar. Der Rauminhalt der Galaktischen Union hat sich allein in dieser Kalendereinheit um den Faktor elf erhöht.“
Statt sich über den Landgewinn zu freuen, sackte der König in sich zusammen. Jetzt war es an ihm, blaß zu werden.
Berater Seurig bemühte sich um einen betroffenen Tonfall: „Die sprunghafte Ausdehnung des bekannten Raumes führt zu immer größeren Distanzen zwischen den besiedelten Welten. Die dadurch enorm gewachsenen Reisezeiten schon im Zentralbereich des Imperiums lassen den interstellaren Handel früher oder später zum Erliegen kommen. Unsere Steuern- und Abgabenschiffe von den fernen Kolonien werden uns erst nach den Reichsfeiern erreichen. Ich habe bereits eine Rationierung aller Luxusgüter veranlaßt.“ Dabei zog Seurig ein schiefes Gesicht. Man hätte fast meinen können, er versuchte ein Grinsen zu unterdrücken. Um wieder ernst zu werden, blickte er auf die vier Finger an der Hand des Königs, mit der dieser nervös über seinen Bart strich. Seurig kannte nur einen Menschen mit dieser anatomischen Besonderheit, die nicht aus dieser Zeit zu sein schien. „Seit dem Zeitreisestop fünf vor zwölf ist die Zunahme der Ausdehnung allerdings praktisch auf Null zurückgegangen.“
„Ist das alles, was ihm dazu einfällt?“
„Beileibe nicht. Ich selbst stehe der Kommission zur Einstellung aller Zeitreisen als Leiter vor. Die klügsten Köpfe des Imperiums Seiner Majestät haben das Problem lokalisiert.“ Seurig lächelte triumphierend. „Unsere Wirtschaft muß von Zeitreisen unabhängig werden. Denn jeder Transport eines festen Körpers entlang des Zeitstroms führt zwangsläufig zu einer beschleunigten Flucht aller Körper im Universum voneinander und damit zu einer Erweiterung des Raumes.“
Der König klang drohend: „Daß Zeitreisen das Universum aufblasen, ist schon seit der Erfindung des Radeckes bekannt. Ich will Maßnahmen!“
„Irgendwann werden wir keine Zahnstocher von den Ferengi und keine Bonbons aus Risa mehr erhalten. Die Produktion dieser Güter kann aber mit etwas gutem Willen auch hier erfolgen...“
Der König unterbrach Seurig mit einem drohenden Unterton. Er sprach ganz langsam. „Die Bonbons aus Risa schmecken mir aber besser.“
„Ja... natürlich, Majestät.“ Seurig fuhr schnell fort: „Wir haben das Zeitportal vorsichtshalber auch für das Finanzministerium und die Tourismuskonzerne geschlossen. Lediglich die Patrouille reiste zur Erde der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts.“
„Was? Ist er von Sinnen?“
Seurig bemühte sich ruhig zu sprechen: „Ich lasse dort eine Turbulenz untersuchen.“
„Durch die Reise der Patrouille wird der Raum wiederum ausgedehnt? Das kann ich nicht zulassen.“
„Wir können keine Spur unberücksichtigt lassen. Die Patrouille wird in zwei Komma vier Minuten bereits durch das Zeitportal zurückkehren. Dürfte ich vorschlagen, daß Ihr das Eintreffen direkt am Portal erwartet.“
Statt einer Antwort wuchtete sich der König aus dem Thronsessel und watschelte eilig voraus. Seurig hatte wenig Mühe dem phlegmatisch gewordenen Monarchen nachzulaufen. Sie postierten sich direkt vor dem Portal. Der König spielte ungeduldig mit den Kettengliedern einer antik anmutenden, goldenen Taschenuhr, die an den Kordeln seiner Paradeuniform baumelte.
„Bitte Vorsicht beim Einlauf der Patrouille!“ Der Portalsvorsteher tat wichtig bei Ansage seines Spruches. Schließlich hatte man nicht alle Tage den Monarchen persönlich am Portal.
„QuellEins meldet sich zur Stelle.“ Der kleine, untersetzte PatrouillenEins stand stramm. Hinter ihm reihte sich seine Mannschaft in der Reihenfolge auf, wie sie aus dem Portal trat.
Seurig ging auf den Mann zu: „Bequem in der Gegenwart stehen, QuellEins! Bericht!“
„Turbulenz auf der Zeitlinie ist lokalisiert. Ort Sol, Planet 3, Frankreich. Zeit 1821.“
„Ursache der Turbulenz? Beteiligte Personen?“
Statt QuellEins antwortete der PatrouillenZwei: „ShroederZwei berichtet wie befohlen. Es handelt sich um den Einsatz einer Waffe bei einer Auseinandersetzung eines Husarenregiments mit räuberischem Gesindel.“
„Nähere Angaben!“
„Niemand konnte identifiziert werden.“
Seurig wurde lauter: „Nähere Angaben zur Art der Waffe!“
ShroederZwei trat von einem Bein auf das andere. „Es war aufgrund der Feuerleistung wohl so etwas wie ein Handstrahler, wie er gewöhnlich von Attentätern benutzt wird.“ Der Patrouillensoldat blickte verstohlen auf den König.
Seurig entging der Seitenblick nicht. „1821? Was will damit gesagt sein, ShroederZwei? Reden, sofort!“
SchroederZwei antwortete stockend: „Der Handstrahler hatte Ähnlichkeit mit... mit der Uhr Seiner Majestät“, und schnell fügte er an, „des Königs, der allezeit gepriesen werde, der uns Wohltaten gewährt, der stets...“
„Dachte ich mir doch“, murmelte Seurig leise.
„Genug!“ Der König ging auf den Mann los, der am liebsten wieder durch das Zeitportal verschwunden wäre, und packte ihn mit vierfingrigen Händen. „Was redet er da? Ist er noch bei Trost?“ Der König ballte die Fäuste und fuchtelte dem Mann vor dem Gesicht herum. „Die Uhr ist ein absolutes Einzelstück. Nirgendwann kann niemand nirgendwo so etwas besitzen oder verwenden. Ist das klar?“
Der Mann zitterte.
Seurig, der sich das alles ruhig ansah, räusperte sich. Der König drehte sich um, das Gesicht gerötet, die Augen wild. „Majestät, erlaubt ihr?“ Seurig sah auf die Uhr, die an den Kordeln baumelte, und tat, als wollte er etwas daran untersuchen. Der abwehrende König erstarrte, als die Durchsage des Zeitcomputers mechanisch anlief: „Erhöhung der Raumausdehnung durch Patrouillentransport um Faktor neuntausend.“
Da packte Seurig die Uhr, riß sie mitsamt den Kordeln von der Uniform des Königs und erreichte mit wenigen schnellen Schritten das Zeitportal. In dem zwölfeckigen Rahmen wandte er sich noch einmal um und rief laut: „Das war´s. Ich trete durch das Portal und trenne jede Welt von der anderen. Freiheit für alle!“ Seurig lachte und jubelte: „Die Erde verabschiedet sich hiermit aus dem Verbund Steuern und Abgaben zahlender Welten, Eure Majestät.“ Ein entsetzliches Sirren hob an, das an der oberen Grenze der Hörbarkeit die Luft zum Vibrieren brachte. Der König war fahl geworden. Alles Leben schien von ihm gewichen. Das Licht der Lampen erreichte ihn nicht mehr. Er wurde fahler und fahler und schließlich fast durchsichtig. Das Geräusch wurde immer heller und sirrender. Dann war der König kaum noch zu sehen. Seurig rief noch über die Schulter: „Versucht lieber nicht, mir zu folgen!“ Dann trat er in den Brennpunkt des konkav geformten Hohlspiegels und unter blauem Flimmern wurde sein Transport mit einem grellen Blitz eingeleitet. Das Entsetzen ließ er hinter sich zurück.

Seurig legte einen Scheit auf die Glut und setzte sich wieder zu seinem Sohn. „Ja, so kam das. Zuerst war ich bei dem Husarenregiment, später verdingte ich mich bei einem Holzgroßhändler. Dort lernte ich dann Catherine Mélanie kennen, deine Mutter. Sie war die Tochter des Handelsmannes, der meine Talente sehr zu schätzen wußte. Schließlich gab er sie mir zur Frau. 1824 heirateten wir. Ja, und dann ging es nach Dijon, wo ich die Präfektur übernahm. Und deine Mutter erwirtschaftete in dieser Zeit geschickt unser kleines Vermögen, das dir bei deinen Konstruktionen nicht wenig geholfen hat. Ich selbst hielt mich weitgehend im Hintergrund, wollte nicht gern gesehen werden.“ Dabei zwinkerte der alte Mann und schwenkte triumphierend die goldene Taschenuhr an der bunten Kette. „Ich habe mir oft überlegt, ob ich nicht zurückkehren sollte, um den Thron zu besetzen. Aber ich wußte irgendwie, mein Platz war hier. An eurer Seite. Bis heute.“ Er nickte seinem Sohn freundlich zu, hob aber die Hand, als dieser etwas sagen wollte. „Ja, ich bin ein Separatist. Bevor die Erde dem Imperium beitreten mußte, war sie eine prosperierende Welt, mit einer nur planetaren, aber funktionierenden Wirtschaft. Das Imperium rechtfertigte die Unterwerfung mit der Begründung eines galaktischen Wirtschaftsraumes, der für alle Vorteile bringen sollte. In Wirklichkeit wurde die Erde von einer Abgabenüberlast erdrückt. Das darf nicht geschehen. Deshalb muß die Erde, müssen alle Welten vor einer Galaktischen Union in Sicherheit gebracht werden. Endgültig! Ich habe lange mit mir gerungen. Denn es ist zu befürchten, daß die Steuereintreiber der Zukunft die Wellenfusion als Antrieb nutzen lernen, um mit superschnellen Schiffen die entlegensten Planeten zu melken. Kein Weg wird ihnen zu weit sein. Deshalb muß ich einen weiteren Transport entlang des Zeitstroms einleiten, die Raumausdehnung gegen unendlich treiben und damit endgültig die Distanzen zwischen den Welten unüberbrückbar machen. Die Erde wird isoliert und vielleicht einsam sein inmitten der Nachbarn, die sie nie erreichen wird, aber frei. Ich stelle die Uhr auf den entlegensten Punkt auf der Zeitlinie ein, und drücke hier auf diesen Knopf - leb´ wohl, mein Sohn!“

Eiffel war aufgesprungen, rang die Hände, suchte nach Worten.
„Halt´ dich zurück! Keine Eiwände! Ich habe alles durchdacht. Niemand wird mit einem zweiten Zeitreisegerät hierher kommen und dies ungeschehen machen. Es würde nichts nützen. Denn dieses Gerät wird auf einer nie endenden Reise in die Unendlichkeit unerreichbar, uneinholbar sein. Ich selbst werde hier in dieser Zeit nicht weiter existieren. Noch einmal, leb´ wohl!“
Damit drückte Seurig auf den Knopf und warf die Uhr in das Kaminfeuer. Sie verschwand. Eiffel hatte nicht mehr die Zeit, etwas zu sagen, denn es erklang ein entsetzliches Sirren, das an der oberen Grenze der Hörbarkeit die Luft zum Vibrieren brachte. Seurig war fahl geworden. Alles Leben schien von ihm zu weichen. Der eben noch im warmen Licht der Abendsonne gesessen hatte, wurde fahler und fahler, und schließlich völlig durchsichtig. Eiffel widerstand dem Drang, seinen Vater festzuhalten. Er war klug genug, zu ahnen, weshalb er aus dieser Zeit verschwand. Der noch nicht Geborene hatte den Kontakt zu diesem famosen kleinen Instrument verloren, das Zeitreisegerät und Waffe in einem war, und das dem Zeitreisenden half, in einer fremden Zeit zu leben.

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