Der Ausgangspunkt: Ein Hefteintrag
Weil ich wissen wollte, welche Erfahrungen meine Klasse mit ihren iPads gemacht hat, bat ich sie, mir ihre schönsten Hefte zu zeigen. Das waren dann vor allem Mathematik und die Naturwissenschaften, auch PuG (Politik und Gesellschaft, vormals: Sozialkunde), aber keine Sprachen. Ich bin nicht gut mit Tafelanschriften, schon gar nicht mit ohne Tafel, sondern nur Whiteboard/Beamer; außerdem gehen Sprachen vielleicht anders vor.
In einem Heft fiel mir ein Eintrag auf, in dem es um Extremismus ging. Er begann mit einer Definition, die ich für brauchbar halte:
Politischer Extremismus: Parteien/Vereinigungen, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung beseitigen wollen.
Danach kamen zwei Spalten, linksextrem und rechtsextrem, analog zu den zwei Abschnitten im Buch, die die Grundlage für diesen Eintrag bildeten. Dort gibt es, notabene, auch noch einen dritten Abschnitt, den religiös begründeten Extremismus und Islamismus. Mit den Inhalten der Spalte zum Linksextremismus war ich so ganz und gar nicht zufrieden, dass ich spontan eine Verfassungsviertelstunde ausrief. Zu sehr schienen mir nämlich die Begriffe „links“ und „linksextrem“ vermengt.
Ich denke, manches von dem, was früher normal war, ist jetzt links, und was früher links war, ist jetzt linksextrem. Zugegeben, zwei Beiträge bei Mastodon haben mich dqfür sensibilisiert:
Wie der Rechtsruck zum Linksruck umgedeutet wird:
Als Frau eine eigene Stimme zu haben ist nicht mehr liberal sondern „Links“.
Umweltschutz ist nicht mehr konservativ sondern „Links“.
Inklusion ist nicht mehr humanistisch sondern „Links“.
Mitgefühl ist nicht mehr christlich sondern „Links“.
Aktuelle Wissensstände zB über Biologie & Klima sind nicht mehr Wissenschaft, sondern „Links“.Und schon können Rechte gleichzeitig alle Machtpositionen besetzen und sich als Minderheit diskriminiert fühlen.
https://mastodon.social/@jensscholz/114878984311563153
Ebenfalls bei Mastodon gesehen habe ich ein Plakat von einer Demo, auf dem steht:
„Rechts“ ist da, wo [das] Grundgesetz „links“ ist.
https://troet.cafe/@sabinalorenz/114878440397908673
Kleiner Test in der Klasse
Wir versicherten uns in der Klasse, dass wir die Verfassung als eine Umsetzung der freiheitlich-demokratische Grundordnung sehen. Und damit sollte die eigentlich gemeinsame Mitte sein. Allerdings fragte ich dann, ob Konzepte wie „allgemeine Menschenrechte“ oder „Gleichheit der Menschen“ oder „gerechte Welt“ links oder rechts oder Mitte sind? Oder linksextrem? Die Schüler und Schülerinnen sind keinesfalls dagegen, aber sie verorten das als links. Oder sogar linksextrem. Obwohl das so auch schon im Grundgesetz steht. Wie hieß es oben? Wenn das Grundgesetz links ist, bist du rechts?
Ich hatte den entsprechenden Artikel schon aufgeblättert am Beamer und stellte die alte Fangfrage, ob „Eigentum verpflichtet“ ein linker Slogan sei oder FDGO. Linker Slogan, eindeutig – obwohl das brettlbreit vorne am Beamer zu sehen war, Artikel 14.
Weitere Gedanken
Ein Problem besteht sicher darin, dass Konzepte zu Schlagworten verkommen. „Soziale Gerechtigkeit“ verorten die SuS als links oder linksextrem, weil sie glauben, dass es bedeutet, die Kluft zwischen Arm und Reich nicht zu groß werden zu lassen. Sicher schreiben sich die Nazis das auch auf ihre braune Fahnem, nur bedeutet das dann halt etwas anderes: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Je nachdem, was man unter „sozial“ und „Gerechtigkeit“ versteht.
„Eigentum verpflichtet“ kann ebenso alles Mögliche heißen. In welchem Umfang und in welcher Form? (Wozu: das steht da, nämlich zugleich mit der eigenen Nutzung zum Wohle der Allgemeinheit zu dienen. Nicht des Volkes übrigens, sondern der Allgemeinheit.)
„Sicherheit“ und „Streitkräfte“, das habe ich nicht gefragt, sind wahrscheinlich rechte Konzepte. Ist aber auch FDGO, ist auch Mitte. Das Grundgesetz kann natürlich in weiten Teilen geändert werden, und vielleicht kann man sagen, dass manche Aspekte innerhalb des Grundgesetzes links sind und andere rechts. Aber sicher weder linksextrem oder rechtsextrem. Da war bei der Tabelle nicht ganz klar; ein unglückliches Zusammenspiel von Verkürzung bei Hefteinträgen; mit der Lehrkraft habe ich darüber gesprochen.
Ich hätte auch gerne wieder den Begriff „rechts“ etabliert, aber das geht wohl nicht mehr, weil rechts heute stets rechtsextrem heißt; also nennen wir das „konservativ“. Außerdem hätte ich davon getrennt noch die Kategorien „neoliberal“ und „umweltaktivistisch.“ Linksextremismus im Sinn des Terrorismus der 1970er Jahre verstehe ich; Anarchismus im 19. Jahrhundert verstehe ich. Das mit der autonomen Szene in Deutschland, also was man meist als „linksextrem“ bezeichnet, verstehe ich tatsächlich nicht – ist das einfach nur Gewaltspaß wie bei Fußballhooligans? Da stecken doch weder linke Gedanken noch politischer Gestaltungswille dahinter, oder?
(Unbeendet, aber in den Sommerferien darf ich das.)
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