Literarische Welten (Fragment)

(3 Kommentare.)

(Na gut. Ich sitze wieder an zwei längeren Beiträgen über KI, noch ganz altmodische, es geht nicht um Text- oder Bilderzeugung. Aber das zieht sich wohl noch länger hin, denn theoretisch glaube ich es verstanden zu haben; praktisch macht das Ding aber noch nicht das, was es soll, und erst wenn es das tut, kann ich mir sicher genug sein, das auch wirklich verstanden zu haben. Deshalb habe ich dieses Fragment herausgekramt.)

Die Vergangenheit ist bekanntlich ein anderes Land mit anderen Regeln. Das macht es interessant, sich mit Geschichte zu beschäftigen. Aber auch Geschichten, hier vor allem: Bücher, Romane, zeigen mir andere Welten mit anderen Regeln. Das mag ich. Das gilt vielleicht vor allem für Genreliteratur, aber doch auch ebenso für diejenige, die man gemeinhin als realistisch bezeichnet.

Da ist erstens die außerliterarische Welt, die für mich erschaffen wird: Was ist das für eine Welt, in der die Leute solche Bücher schreiben? Für welches Publikum ist das gedacht, in welcher Tradition steht das? Welches Publikum hat in welcher Form die Odyssee zuerst gehört? Was waren das für Leute, die den Werther ernst nahmen?

Da ist zweitens die innerliterarische Welt, in der Zufall und Notwendigkeit eine ganz andere Rolle spielen als in unserer. In der die Menschen nicht so sind wie in meiner Welt. Was ist das für eine Welt, in der so schöne Dinge geschehen? Was ist das für eine Welt, in der so traurige Dinge geschehen? Es ist, nur allenfalls von experimenteller Literatur abgesehen, immer eine geplante, bewusst gesetzte Welt. Ist das eine Welt, die es gibt, es geben könnte, die es geben sollte? Wer kann mir da ein Vorbild sein? Ein Buch erschafft eine Welt, und ein interessantes Buch erschafft eine Welt, die anders ist als die vielen anderen Welten, die es bereits vor diesem Buch gab.

Es gibt Bücher, die ich in angenehmer Erinnerung behalte, ohne mich eigentlich an viel daraus erinnern zu können. Beim erneuten Lesen erkenne ich die Welt aber doch gleich wieder. Denn es ist die Welt des Buches, die ich in Erinnerung habe, oder jedenfalls der Eindruck, den sie hinterlassen hat, und gar nicht so die Handlung. Das erklärt auch das mit den Serien. Man liest ein Buch aus einer Serie, erfreut sich an der Welt, und greift zum nächsten Band, eben weil der dieselbe Welt zeigt.

Das in Sherlock-Holmes-Kreisen recht bekannte Sonett „221b“ von Vincent Starrett zeigt so eine Welt. Es endet mit den Versen:

A yellow fog swirls past the window-pane
As night descends upon this fabled street:
A lonely hansom splashes through the rain,
The ghostly gas lamps fail at twenty feet.
Here, though the world explode, these two survive,
And it is always eighteen ninety-five.

Die Welt des Sherlock Holmes und ihre Kulissen sind nämlich das Interessante, nicht die Geschichten, von denen viele gar nicht so gut sind, wie man sie vielleicht in Erinnerung hat.

Spielen alle Discworld-Romane in derselben Welt? Sicher alle Romane um Sam Vimes, vielleicht sogar der Rest, bis auf die ersten zwei vielleicht. Spielen alle Krimis von Raymond Chandler in derselben Welt? (Beim vorletzten bin ich mir nicht sicher.) Dickens, Lovecraft, Dunsany. Jeder Roman von Ian McEwan ist eigen und anders als die anderen und erschafft eine eigene Welt, viele davon – aber nicht alle – interessant. Es gibt gut geschriebene Bücher, bei denen mich die Welt nicht so interessiert, und handwerklich weniger gute Bücher, bei denen ich die Welt dennoch sehr schätze. Und dann gibt es Isak Dinesen oder Teri Hulme, die mit Büchern neue Welten erschaffen, die mir zuvor völlig fremd waren.


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3 Antworten zu „Literarische Welten (Fragment)“

  1. Ein schöner Hinweis! Mir gefällt die Welt der Gesellschaftsromane von Fontane, zumal sie den Eindruck erweckt, der Welt im Deutschland am Ende des 19. Jh. recht ähnlich zu sein. Ähnliches gilt für die Welt der meisten Romane Jane Austens, auch wenn es eine enge begrenzte Welt ist. – Dass beide Autor*innen schreiben können, kommt noch hinzu.

  2. Aginor

    Zur Scheibenwelt:

    Ich bin zu ca. 99.5% sicher dass die Geschichten in der Tat alle in der selben Welt spielen.

    Ich meine mich sogar zu erinnern dass das mal als Frage in einem Interview gestellt wurde, und vom Autor bejaht wurde. Kann aber ehrlich gesagt die Quelle gerade nicht finden.

    Gruß
    Aginor

  3. @Aginor Ich bin da eher nach Gefühl gegangen. Formal spielen alle Scheibenwelt-Geschichten in derselben Welt, das ja. Und wahrscheinlich auch sonst, egal, was man da herumdeutelt. Aber die innere Logik, die Werte, das, was ich an Pratchett so schätze, fängt nicht gleich am Anfang an. So wie ich sie in Erinnerung habe, sind die ersten beiden Bände Fantasy-Parodien, bei denen die Scheiben-Welt für mich nicht besonders interessant ist. Nichts, wo ich sagen würde, da will ich wieder hin. Das Gefühl, dass die Scheibenwelt eine Welt ist, die – gegen Widerstände, und auf Basis von Individuen – immer besser wird, immer humaner, moderner, toleranter, entwickelter, kommt zum Beispiel erst später auf. Aber das ist zugegeben eine sehr wirre Definition davon, was eine Welt ist.

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