(Ich weiß nicht, ob ich das schon mal geschrieben habe. Das wird in letzter Zeit immer mehr ein Problem. Ich mache das jetzt seit achteinhalb Jahren, manchmal fällt mir nichts mehr ein; andere Male stelle ich fest, dass ich meine Gedanken schon mal früher aufgeschrieben habe.)
Es geht um die Sprache in Aufsätzen ab der 10. Jahrgangsstufe bis hin zum Abitur. Die zeichnet sich aus durch Nominalisierungen, umständlichen Satzbau und Phrasen.
Nominalisierungen
Ein paar Beispiele aus Aufsätzen:
- Man kann eine Reduzierung der Verse pro Strophe feststellen.
- Auch ist eine Erleichterung seinerseits zu hören, denn…
- Das Treffen der beiden Personen geschieht, nachdem…
- …löst einen Verwirrungszustand in dem Leser aus.
- Zu beachten ist, dass die Abiturienten eine sehr starke Kompetenzsteigerung erfahren.
Besser sind hier Nebensätze und Verben: Es werden weniger Verse pro Strophe; jemand ist erleichert; Personen treffen sich einfach und der Leser wird verwirrt.
An den Nominalisierungen sind wir teilweise selber schuld. Wir drillen die armen Schüler in den Aufsatz-Gliederungen zum Nominalstil, bis sie nicht mehr anders können.
Satzbau
Es gibt Schüler, die erst einmal nicht anders können als ihre Gedanken in einen einzigen Satz (genauer: eine einzige Periode) zu packen. Das geschieht automatisch, fast zwanghaft. Und spätestens ab dieser Jahrgangsstufe haben die Schüler schon recht komplexe Gedanken. Wenn man die in eine Periode packt, wird die recht umständlich:
Gerade in der heutigen Zeit in der westlichen Welt, wo viele Leute nahe beieinander leben, die einerseits an einen hohen Lebensstandard gewohnt sind, sich andererseits an eine Methode, diesen zu erreichen, nämlich immer an den größtmöglichen eigenen Profit zu denken, gewöhnt haben, was wiederum der Gesellschaft schadet, sind die so genannten Tugenden, wie zum Beispiel Bescheidenheit, Rücksicht und Verantwortungsbewusstsein, allen voran jedoch Mitgefühl, um so wichtiger.
In Deutsch fürs Leben von Wolf Schneider gibt es eine schöne Anleitung zur „Satzzertrümmerung“, wie er das nennt, mit Beispielen, wie man solcher Ungetüme Herr wird. Die teile ich gerne mal meinen Schülern aus. Danach verbesserte ein Schüler meiner 10. Klasse den Satz oben so, wobei bewusst nichts an Inhalt und Wortwahl geändert wurde:
Heutzutage leben in der westlichen Welt viele Menschen nahe beieinander. Diese sind an einen hohen Lebensstandard gewöhnt und versuchen immer, diesen zu erreichen. Hierbei denken sie stets an den größtmöglichen eigenen Profit, was jedoch der Gesellschaft schadet. Deshalb sind heute Tugenden wie zum Beispiel Bescheidenheit, Rücksicht und Verantwortungsbewusstsein, aber vor allem Mitgefühl sehr wichtig.
Wenn man solche Sätze verständlich macht, versteht man sie auch leichter. Das birgt die Gefahr, dass man auch eventuelle Schwächen im Gedankengang leichter erkennt. Zum Üben ein weiterer Satz aus einem Schüleraufsatz:
Im Gegensatz dazu steht seine Frau Jokaste, die erst erfreut über die Meldung des Boten, dass Polybos, der Ziehvater von Ödipus, verstorben sei und somit die Angst ihres Mannes, den eigenen Vater zu töten, unbegründet ist, ist, dann jedoch durch die Schilderung des Boten über seine Bekanntschaft mit Ödipus bemerkt, dass sie durchaus eine weit engere Beziehung zu ihrem Mann haben könnte, als sie es zunächst vermutet hatte.
Ganz ernsthaft: Meine Schüler waren geradezu entrüstet darüber, dass plötzlich ein Lehrer weniger umständliche Sätze fordert. Ich bin mir einigermaßen sicher, dass keine Lehrkraft der Jahre zuvor das so erklärt hat, aber bei den Schülern hängen geblieben ist trotzdem: Ich soll umständliche Sätze machen. Hauptsätze are for sissies.
Das ist zum Teil eine ganz natürliche Entwicklung. Die Schüler wollen anspruchsvolle Texte schreiben, sind auch stolz darauf, so etwas zu können, und schießen dabei über das Ziel hinaus. Und jetzt müssten sie lernen, wieder einfachere Sätze zu bauen. (Manche Erwachsene verlassen nie dieses Stadium.)
Satzzeichen
Der erste Schritt zur Satzzertrümmerung ist, ab und zu mal einen Punkt zu machen. Oder ein anderes Satzzeichen. Meine Schüler (10. Klasse) waren geschockt, als ich ihnen sagte, sie dürften auch einen Doppelpunkt zur Verbindung zweier Sätze verwenden. Einen DOP-pel-PUNKT! (Tumult im Klassenzimmer.) Oder ein Semikolon. Auch mal, für ganz verwegene, einen Gedankenstrich – auch wenn Frau Rau und ich, die wir beide dieses Satzzeichen schätzen, unterschiedliche Ansichten dazu haben, wie angebracht es in welchen Textsorten ist. Gedankenstriche führen gerne mal zu Parenthesen – und wir wissen alle, wie schwer man die Finger davon lassen kann, wenn man erst einmal auf den Geschmack gekommen ist.
Welche Unterschiede Satzzeichen zwischen zwei Sätzen machen, kann man bei diesen Sätzen ausprobieren:
- Formal ist der Kopf deines Briefes nicht korrekt; die Betreffzeile fehlt. (Korrekturbemerkung)
- Es besteht nur aus natürlichen Substanzen. Es ist völlig ungefährlich. (Dauerwerbesendung)
- Das ist mit Fruchtsaft gemacht, da sind viele Vitamine drin. (Werbung für Süßigkeit)
- Mutter feierte bis 4 Uhr früh. Ihre Kinder erstickten. (Schlagzeile)
Meistens ist es noch besser, den Zusammenhang zwischen zwei Sätzen nicht durch ein Satzzeichen anzudeuten, sondern ihn explizit zu machen, indem man Konjunktionen benutzt (weil, so dass, obwohl, während) oder Adverbien (deshalb, gleichzeitig, trotzdem). Zur Not gehen auch Präpositionen (durch), aber die führen automatisch zu Nominalstil, und mit dem übertreiben es viele Schreiber ja ohnehin.
Phrasen
„Ebenfalls nicht zu vernachlässigen ist der Punkt, dass…“ So beginnen gerne mal Argumente in der Erörterung. Das ist einmal problematisch, weil da etwas ganz und gar Nebensächliches im Hauptsatz steht. Das eigentlich Wichtige muss sich in einer Nebensatzkonstruktion ein Plätzchen einrichten, und da kann es eng werden. (Nichts gegen Nebensätze. Einige meiner besten Sätze sind Nebensätze.) Schlimmer ist das aber, weil das so eine leere Phrase ist. Und daran, fürchte ich, sind tatsächlich nur wir Lehrer schuld.
Wir bringen den Schülern nämlich bei, Überleitungen zu machen. Und legen ihnen dazu oft genug eine Liste von Phrasen vor, die sie verwenden sollen. Ich glaube, man sollte Schülern mal probeweise Überleitungen verbieten; vielleicht kämen dann zusammenhängendere Texte heraus.
Anhang 1: Zum Üben.
Es darf daher getrost, was auch von allen, deren Sinne, weil sie unter Sternen, die, wie der Dichter sagt: „versengen, statt leuchten“, geboren sind, vertrocknet sind, behauptet wird, enthauptet werden, daß hier einem sozumaßen und im Sinne der Zeit, dieselbe im Negativen als Hydra gesehen, hydratherapeutischen Moment ersten Ranges – immer angesichts dessen, daß, wie oben, keine mit Rosenfingern den springenden Punkt ihrer schlechthin unvoreingenommenen Hoffnung auf eine, sagen wir, schwansinnige oder wesentielle Erweiterung des natürlichen Stoffgebietes zusamt mit der Freiheit des Individuums vor dem Gesetz ihrer Volksseele zu verraten sich zu entbrechen den Mut, was sage ich, die Verruchtheit haben wird, einem Moment, wie ihm in Handel, Wandel, Kunst und Wissenschaft allüberall dieselbe Erscheinung, dieselbe Frequenz den Arm bieten, und welches bei allem, ja vielleicht gerade trotz allem, als ein mehr oder minder modulationsfähiger Ausdruck einer ganz bestimmten und im weitesten Verfolge excösen Weltauffasseraumwortkindundkunstanschauung kaum mehr zu unterschlagen versucht werden zu wollen vermag – gegenübergestanden und beigewohnt werden zu dürfen gelten lassen zu müssen sein möchte.
Christian Morgenstern, aus der Vorrede zu den Galgenliedern.
Anhang 2:
Jeder Intellektuelle hat eine ganz spezielle Verantwortung. Er hat das Privileg und die Gelegenheit, zu studieren. Dafür schuldet er es seinen Mitmenschen (oder ‚der Gesellschaft‘), die Ergebnisse seines Studiums in der einfachsten und klarsten und bescheidensten Form darzustellen. Das Schlimmste – die Sünde gegen den heiligen Geist – ist, wenn die Intellektuellen es versuchen, sich ihren Mitmenschen gegenüber als Propheten aufzuspielen und sie mit orakelnden Philosophien zu beeindrucken. Wer’s nicht einfach und klar sagen kann, der soll schweigen und weiterarbeiten, bis er’s klar sagen kann.
Karl Popper, „Wider die großen Worte“, ein Brief des Philosophen Karl Popper, der 1971 in der Zeit erschien. Dieser Brief enthält auch die vielzitierten Übersetzungen (jedenfalls sind sie mir oft begegnet), in denen Popper die seiner Meinung nach schwülstigen und unklaren Äußerungen von Adorno und Habermas in verständliches Deutsch übersetzt.
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