In der letzten Stunde habe ich mit der 10a Karten gespielt. So eine Art Mau-Mau. Mau-Mau geht ja ganz einfach: Am Anfang deckt man eine Karte auf, und die Spieler versuchen der Reihe nach ihre Karten loszuwerden, indem sie sie ablegen. (Lassen wir alle Sonderkarten mal weg.) Die Ablageregel lautet: Man kann eine Karte ablegen, wenn sie die gleiche Farbe (Herz, Pik, Kreuz, Karo) hat wie die oben liegende Karte, oder wenn sie den gleichen Wert hat.
In meiner Variante wurde allerdings eine andere Regel verwendet, die nur ich als Spielleiter, sozusagen, kannte. Eine geheime also. Einige Schüler waren die Mitspieler, die nach und nach versuchten ihre Karten loszuwerden. Es gibt auch einfache Regeln für die Bepunktung, aber die sind im Moment nicht wichtig.
Am Anfang muss man bei diesem Spiel raten und einfach eine Karten ausspielen und schauen, was der Spielleiter sagt. Vielleicht hat man Glück („Geht“), vielleicht Pech („Geht nicht“). Man hat vorerst einfach nicht genug Material, als dass man sinnvoll raten könnte, wie die geheime Regel lautet. Aber wenn man das Spiel ein, zwei Runden beobachtet, dann hat die ersten Vermutungen. Da waren ein paar rote Karten, die immer gingen. Oder: nach der Pik 9 waren alle Karten, die abgelehnt wurden, Pik; die Karte, die dann akzeptiert wurde, war Herz.
Aufgrund dieser Beobachtungen stellt man Theorien auf. „Nach einer Karte mit einer ungeraden Zahl muss immer ein Herz kommen.“ Oder: „Nach einer Pik-Karte muss immer ein Herz kommen.“ Es geht bei dem Spiel zwar nicht darum, die Regel herauszufinden, sondern darum, seine Karten loszuwerden. Aber das geht natürlich leichter, wenn man die Regel kennt. Also folgt man erst mal seiner Vermutung und legt die entsprechenden Karten ab.
Meist bricht diese erste Vermutung schon bald zusammen. Irgendeine gespielte Karte passt nicht; entweder der Spielleiter weist eine Karte zurück, auch wenn die laut der vermuteten Regel akzeptiert werden sollte, oder die Karte eines Mitspielers wird akzeptiert, obwohl man nicht weiß warum.
Es ist sehr schön, sich selber und den anderen Spielern beim Theoriebilden zuzuschauen. Man sieht die Köpfe leuchten, hört kleine Ausrufe: „Ich glaub, ich hab’s.“ Ein paar Runden später das verständnislose Kopfschütteln, wenn die Theorie verworfen werden muss und man sich die bisher gespielten Karten noch einmal genauer anschauen muss.
Erfahrene Spieler, die zum Beispiel vermuten: „Nach einer Pik-Karte muss immer ein Herz kommen,“ testen das im Experiment. Man wartet, bis eine Pik-Karte liegt, und legt dann ein Herz an. Leider kann man nicht immer bestimmen, welche Karte gerade oben liegt. Es geht bei diesem Spiel eher um Beobachtungen, und die Möglichkeiten für Experimente – also die Wiederholung einer beobachteten Erscheinung unter kontrollierten Bedingungen – sind gering.
Allerdings muss man auch das andere ausprobieren: Man wartet, bis eine Pik-Karte liegt, und legt dann extra kein Herz. (Oder man hofft, dass ein Mitspieler das macht.) Dann sagt der Spielleiter vielleicht „Geht nicht“, und das bestätigt die Vermutung. Oder er sagt „Geht“, und man ist überrascht. Aber auch dann ist das kein fehlgeschlagenens Experiment. Es gibt keine fehlgeschlagenen Experimente, allenfalls schlampig durchgeführte. Wenn bei einem Experiment nicht das herauskommt, was man erwartet, ist das keinesfalls ein Fehlschlag, sondern eine interessante Beobachtung, aus der man etwas lernen kann. Vielleicht lautet die Regel in Wirklichkeit ja: „Nach einer Pik-Karte muss immer eine rote Karte, also Herz/Karo, kommen.“
Es kommt nämlich oft vor, dass die vom Spieler vermutete Regel erst einmal viel komplizierter ausfällt, als die des Spielleiters tatsächlich ist. Das geschieht, wenn man kein Muster in den vorliegenden Daten erkennt und deshalb versucht, viele kleine Ausnahmen und Sonderregeln aufzustellen, damit die gespielten Karten passen. Kann ja auch stimmen so; in meiner Spielerrunde war das aber selten der Fall – wenn bei jeder neuen gespielten Karte wieder eine Ausnahme zum bisherigen Regelsatz kommt, dann ist man wohl auf dem Holzweg. Manchmal ist die eigene Regel auch einfacher nur enger gefasst als die tatsächliche, so wie in dem Fall oben, wo jede rote Karte spielbar ist, man aber glaubt, dass nur Herzen erlaubt sind. Solange man da nicht kritisch die Gegenprobe macht, wird man immer Herz legen, das wird immer funktionieren, und die eigene, unnötig enge Regel, wird bestätigt. (Bis man mal kein Herz auf der Hand hat und dem Spielleiter sagt, man kann nicht. Dann wählt der ein Karo aus, legt es an und gibt die vier Strafkarten.)
Dieses Spiel gibt es wirklich, und es ist – eine nur mäßig schräge Spielerrunde vorausgesetzt – tatsächlich gut spielbar, anders als andere Kuriositäten. Es heißt Eleusis, und ich habe vor Jahren schon mal darüber geschrieben, wenn auch aus anderer Perspektive. Robert Abbott erfand es 1959, ich spiele meist die erweiterte Version von 1977; 2006 veröffentlichte Hohn Golden eine vereinfachte Version Eleusis Express, die auch an Grundschulen spielbar sein soll. Daneben gibt es Varianten von Spieleverlagen, etwa „Geheimcode“ von der Firma Winning Moves. Das wird nicht mit regulären Spielkarten gespielt, sondern mit Karten von berühmten Pesonen aus der Geschichte – die jeweils zu einer bestimmten Farbe (rot, gelb) und Kategorie (Denker, Politiker, Künstler) gehören, mit bestimmter Rahmenform (rund, eckig, spitz). Nicht sehr spielbar, obwohl es von Alex Randolph ist. Das Original von Abbott gibt es in einigen Spielebüchern oder als Broschüre bei Abbot selber – für fünf Dollar einschließlich Porto, allerdings nur auf Papier und nur per Scheck oder US-Bargeld, also noch nicht so sehr webfreundlich. Aber Eleusis Express kann man ausdrucken, da fehlen halt einige der philosophischen Überlegungen aus der Broschüre.
Neu war mir das Spiel „Mao“ (Wikipedia), eine Art Eleusis-Abkömmling, das nach dem großen Vorsitzenden Mao benannt ist, dessen geheime Regeln man befolgen muss, ohne sie zu kennen; die Etymologie könnte aber tatsächlich vom deutschen Mau-Mau kommen, mit dem Mao mehr Ähnlichkeiten aufweist als mit Eleusis.)
— Ein anderes Spiel von Abbott, „Babel“, will ich mal mit Schülern ausprobieren. Ein Handelsspiel für acht bis vierzig Personen, die sich miteinander unterhalten müssen, um Karten zu tauschen und zu kombinieren, die sie dann beim Spielleiter gegen Punkte und neue Karten eintauschen. Müsste auch in der Fremdsprache gehen. Und vielleicht, irgendwann mal, so etwas wie die San Tilapian Studies von Emily Short, ein Erzählspiel für eine Party mit 30-40 Spielern.
Nachtrag: Link zu Material zu Eleusis, via Bob Abbotts Seite.
Eleusis funktioniert einfach als Spiel, aber man kann es natürlich auch als Allegorie auf die wissenschaftliche Methode sehen. Es gibt Regeln, Naturgesetze. Die kennt man nicht, und man kann sie auch nie erfahren. Man beobachtet die Natur und stellt Vermutungen an; aufgrund dieser baut man die Natur in kontrollierter Umgebung nach und stellt Experimente an, die die Vermutungen bestätigen oder auch nicht. Wenn man genug Experimente hat, stellt man eine Theorie auf. Die Theorie erlaubt Vorhersagen, und wenn sich später die Vorhersagen mit der Wirklichkeit decken, dann gilt die Theorie erst einmal als bewiesen. Mehr geht nicht in der Wissenschaft – in das Hirn des Spielleiters (oder Gottes) kann man nicht hineinsehen.
(Außerdem kann ich so vielleicht erklären, warum die Beispiele der Schülern in Erörterungen meist nichts bringen. „Mein Onkel hat einmal…/Eine Cousine von mir hat…/Ich selber habe…“ – das ist etwa so aussagekräftig wie bei Eleusis: „Ich habe mal eine Kreuz 7 gelegt, und die wurde nicht akzeptiert.“)
Im Moment komme ich auf wissenschaftliches Vorgehen, weil in meinem Teil des Internets gerade wieder Homöopathie diskutiert wird. Die Kaltmamsell verweist auf einen Artikel in den Science Blogs über die Rolle der Homöopathie in der Ausbildung zum Pharmazeutiker-Ausbildung; versöhnlicher dazu Frau Nuf. Lesen Sie das nach, bei der Kaltmamsell und den ScienceBlogs, auch die jeweils vielen Kommentare. (Unbedingt den schönen Kommentar von Schlappohr bei dem ScienceBlog-Artikel lesen, mit dem herzerwärmenden Austausch zwischen Apotheker A und Herrn H.)
Leben kann ich gut mit der Argumentation: „Tests haben bewiesen, dass Homöopathie funktioniert.“ Das ist nicht dumm, sondern nur falsch.
Leben kann ich auch mit: „Man kann Homöopathie nicht beweisen, das liegt in der Natur der Sache.“ Das ist schon etwas dumm, aber auch das regt mich wenig auf. Diese Person gibt wenigstens zu, dass Homöopathiegläubigkeit eine Religion ist, und wenn ich mit Religion auch meine Schwierigkeiten habe, habe ich keinen Anlass, darüber zu streiten.
Mit anderen Argumenten habe ich mehr Probleme:
- Die Pharmalobby hat etwas gegen Homöopathie. Wieso sollte sie? Kann man doch Geld mit machen. Die Homöopathielobby ist doch Teil der Pharmaindustrie. Vermutlich ist das schlechte Image von Pharma nur auf das Ph- am Anfang zurückzuführen – phishing, phreaking, lauter böse Sachen.
- Jeder kann doch frei entscheiden, was er tut. Abgesehen davon, dass das, was man für freie Entscheidung hält, natürlich immer beeinflusst ist von Umfeld und Erziehung: Klar kann jeder frei entscheiden, hat auch niemand etwas dagegen gesagt. Das heißt aber nicht, dass jeder frei entscheiden darf, was eine Tatsache ist und was nicht. „Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung, aber niemand hat das Recht auf eigene Fakten.“ (Patrick Moynihan) Außerdem gilt das mit der freien Entscheidung wohl nur für natürliche Personen; Gesundheitsministerien und Krankenversicherungen können sicher nicht frei entscheiden, sondern müssen sich an irgendetwas halten – an Tatsachen; Bürgerwünsche; Lobbywünsche. Man wünscht sich, sie halten sich vor allem an das erste.
- Wissenschaft kann nichts beweisen, sondern nur Theorien aufstellen. Das ist eine Wortspielerei, die zeigt, dass der Mensch keine Ahnung hat, wovon er spricht. Natürlich kann die Wissenschaft nur Theorien aufstellen, siehe Eleusis oben. Wenn die Theorien brauchbar sind, erlauben sie Vorhersagen, die bestätigt werden. Wenn das oft genug geschieht, darf man von bewiesen reden. Aber klar, natürlich ist immer möglich, dass ein Stein plötzlich nach oben fällt statt nach unten. Aber so unwahrscheinlich, dass man davon ausgehen kann, dass die Tehorie der Schwerkraft trotzdem bewiesen ist – und wenn das doch einmal geschieht, ist ein Naturwissenschaftler der erste, der sich darüber freut.
- Alles mit den Wörtern mechanistisches Weltbild darin. Gemeint ist damit nur, dass sich Dinge gemäß Regeln verhalten, so wie bei Eleusis; das heißt nicht, dass man diese Regeln kennt. Die Alternative zu dem, was etwas unsachlich so genannt wird, lautet: Dinge verhalten sich nicht nach Regeln. Also doch Wunder.
- Möglicherweise wird die Wissenschaft eines Tages feststellen, dass Homöopathie doch funktioniert. Nur jetzt kann sie es noch nicht beweisen. Es geht nicht ums Beweisen, es geht ums Feststellen. Man hat noch nicht festgestellt, das Homöopathie funktioniert.
- Bei meinem Onkel hat es auch geholfen.
Dieser letzte Satz ist problematisch, und vermutlich der wichtigste. Woher weiß man, ob etwas wahr ist? Woher weiß man, dass Astrologie, Handauflegen, Hausaufgaben, Lebendiges Wasser, Aspirin funktionieren? „Mein Onkel hat festgestellt, dass es funktioniert. Ich habe festgestellt, dass es funktioniert. Deshalb funktioniert es.“ Ein naheliegender Schluss. Der muss aber nicht stimmen; ich selber bin da ganz demütig und misstraue meinen eigenen Feststellungen manchmal. Alles andere erschiene mir wie Größenwahn. So ähnlich wie es optische Illusionen gibt, gibt es auch kognitive Illusionen, und woher will man wissen, ob man nicht auf eine hereingefallen ist? Das ist so ähnlich, wie wenn man bei Eleusis beobachtet, dass eine Herz 3 angelegt werden kann. Daraus die Regel abzuleiten: man kann (immer) eine Herz 3 anlegen, das wäre verfrüht. Bei Eleusis sieht man schön, wie Spieler Muster erkennen, wo keine sind.
Schlimm ist, dass so etwas die Deutschlehrer machen müssen statt die Biolehrer. Überhaupt, mit Esoterik haben es die Schulen manchmal, wie es die Süddeutsche unter „Aromadusche im Klassenzimmer“ schreibt: „Lehrer setzen immer häufiger zweifelhafte Methoden in den Klassenzimmern ein.“ Auch aus innerschulischen Gründen will ich dazu nicht viel schreiben. Zitieren möchte ich allerdings folgende kluge Frage, die Anne Höhl in diesem Artikel stellt:
Doch ist das Drücken einiger Energiepunkte wirklich so schlimm? Ist es gefährlich, wenn Kinder zur besseren Konzentration mit Lavendel beduftet werden? „Geschadet wird im Allgemeinen nicht dadurch, dass etwas getan, sondern dadurch, dass etwas unterlassen wird“, sagt Wolfgang Hund. Unterlassen wird die gezielte Hilfe von pädagogischen Fachleuten, wenn zum Beispiel Aufmerksamkeitsdefizite oder Lernschwächen auftreten.
Da rührt sich die Erinnerung des Deutschlehrers. Genau diese Frage stellt Daja in Nathan der Weise, und Nathan gibt genau diese Antwort darauf. Nathans Tochter Recha ist von einem christlichen Tempelritter aus dem brennenden Haus gerettet worden, bildet sich aber ein, ein Engel habe sie geschützt:
Recha. – Ich also, ich hab einen Engel
Von Angesicht zu Angesicht gesehn;
Und meinen Engel.Nathan. Doch hätt‘ auch nur
Ein Mensch – ein Mensch, wie die Natur sie täglich
Gewährt, dir diesen Dienst erzeigt: er müsste
Für dich ein Engel sein. Er müsst‘ und würde.Recha. Nicht so ein Engel; nein! ein wirklicher;
Es war gewiss ein wirklicher!
Recha will aber lieber auf wundersame Weise gerettet worden sein; Nathan weist sie darauf hin, dass die Realität wunderbar genug ist:
Nathan. Wie? weil
Es ganz natürlich, ganz alltäglich klänge,
Wenn dich ein eigentlicher Tempelherr
Gerettet hätte: sollt‘ es darum weniger
Ein Wunder sein? – Der Wunder höchstes ist,
Dass uns die wahren, echten Wunder so
Alltäglich werden können, werden sollen.
[…] Lass mich! – Meiner Recha wär‘
Es Wunders nicht genug, dass sie ein Mensch
Gerettet, welchen selbst kein kleines Wunder
Erst retten müssen? Ja, kein kleines Wunder!
Denn wer hat schon gehört, dass Saladin
Je eines Tempelherrn verschont? dass je
Ein Tempelherr von ihm verschont zu werden
Verlangt? gehofft? ihm je für seine Freiheit
Mehr als den ledern Gurt geboten, der
Sein Eisen schleppt; und höchstens seinen Dolch?
Darauf vermittelnd Daja, Nathans Haushälterin und Rechas Ziehmutter:
Was schadet’s – Nathan, wenn ich sprechen darf –
Bei alledem, von einem Engel lieber
Als einem Menschen sich gerettet denken?
Fühlt man der ersten unbegreiflichen
Ursache seiner Rettung nicht sich so
Viel näher?
Da ist genau die Frage aus dem Artikel oben. Nathans Antwort: Weil der Glaube an das Wunder echte Tätigkeit verhindert. Recha schwärmt für den Engel, um den heimatlosen Tempelritter in Jerusalem kümmert sich niemand; vielleicht schläft er hungernd irgendwo unter Brücken. (Nathan jagt Recha ein wenig Schreck ein, schwarze Pädagogik und so.)
Nathan: Kommt! hört mir zu. – Nicht wahr? dem Wesen, das
Dich rettete, – es sei ein Engel oder
Ein Mensch, – dem möchtet ihr, und du besonders,
Gern wieder viele große Dienste tun? –
Nicht wahr? – Nun, einem Engel, was für Dienste,
Für große Dienste könnt ihr dem wohl tun?
Ihr könnt ihm danken; zu ihm seufzen, beten;
Könnt in Entzückung über ihn zerschmelzen;
Könnt an dem Tage seiner Feier fasten,
Almosen spenden. – Alles nichts. – Denn mich
Deucht immer, dass ihr selbst und euer Nächster
Hierbei weit mehr gewinnt, als er. Er wird
Nicht fett durch euer Fasten; wird nicht reich
Durch eure Spenden; wird nicht herrlicher
Durch eu’r Entzücken; wird nicht mächtiger
Durch eu’r Vertraun. Nicht wahr?
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