1. Über Referate
Die zwei besten Referate, die ich je gehört habe, kamen ohne Präsentationssoftware, sogar ohne ausgeteiltes Papier aus. Das war einmal in der 6. Klasse: das selbst gewählte Thema Frequenzmodulation und Amplitudenmodulation. Nur mit Tafelanschrift. Der Referent kannte sein Thema und sein Publikum und brachte beides zusammen. Und das zweite Referat war in der 9. Klasse: Exkursionstag nach Salzburg. Die Referentin hatte nur eine Handvoll handbemalter Kartons, die sie – ähnlich wie Bob Dylan im Video zu „Subterranean Homesick Blues“, aber natürlich mit begleitender gesprochener Rede statt Liedtext – der Reihe nach vorzeigte und fallen ließ. Auch hier: Interesse und Wissen um das Thema, und richtige Einschätzung des Publikums. So wünsche ich mir Referate, und real existierende Referate erfüllen diese beiden Punkte aus hier nicht genannten Gründen selten, weshalb ich damit hadere.
Referate haben mehrere Ziele. Sie sollen a) eine Note ergeben, b) Inhalte dem Publikum vermitteln, c) das Halten von Referaten üben, also quasi Selbstzweck, oder etwas erweitert, das Werkzeug kennenlernen. Das gilt zum Beispiel für die 6. Klasse Natur und Technik, wo das Arbeiten mit Präsentationssoftware explizit als Inhalt im Lehrplan steht. (Ich verwende den Begriff des Referats sehr allgemein und trenne ihn erst einmal nicht von der Präsentation oder dem Vortrag.) Das gilt nicht nur für Präsentationssoftware, sondern auch für das Erstellen von Podcasts, Erklärvideos, Sketchnotes, Mindmaps, eBooks, Flyern und Plakaten, digital oder otherwise. Die Theorie dahinter ist, glaube ich, dass die Lernenden d) beim Verarbeiten von fachlichen Inhalten während der Erstellung dieser Produkte etwas über die fachlichen Inhalte lernen und e) das Arbeiten in einer Gruppe lernen.
a) ist optional und am wenigsten Interessant aus meiner Sicht als Lehrkraft, b) ist klassisch der Hauptzweck, c) wurde früher mal für wichtig gehalten; um d) soll es in diesem Blogeintrag gehen und bei e) bin ich skeptisch, das ist hier aber nicht Thema.
Meine Frage also: Wie viel lernt man fachlich beim Erstellen eines solchen Produkts – Präsentation, Podcast, Poster, Portfolio? Wie viel man als Publikum lernt, ist natürlich ebenfalls eine interessante Frage, die vor allem beim klassischen Referat wichtig ist; bei anderen produktorientierten Wissensaufbereitungsprodukten gibt es ja manchmal mehr Produktion als Rezeption, da scheint mir das nicht ganz so wichtig zu sein.
Im einen Fall lernt man wenig, weil man das Thema schon beherrscht, etwa bei der Amplituden- und Frequenzmodulation. Das ist natürlich völlig in Ordnung, Schwerpunkt ist dann die Vermittlung des Themas, das Publikum soll schließlich etwas lernen. In der Schule ist dieser Fall eher selten.
Ein anderer prototypischer Fall: Man recherchiert, informiert sich, strukturiert die Information im Kopf um, und wählt Teile davon für das Publikum aus und strukturiert für dieses noch einmal neu. Dabei lernt man viel! Das geschieht, fürchte ich, nicht so oft, wie man gerne hätte.
Ein häufiger Fall: Das Referat oder das vergleichbare Produkt ist eine Zusammenfassung und Präsentation der einfacheren Teile der entsprechenden Wikipediaseite in eigenen Worten. Das bringt dem Publikum eventuell nur mäßig viel, und dem Produktersteller oder der Produkterstellerin… ich kann das schwer beurteilen. Weiß man, dass man da nicht unbedingt viel weiß, oder glaubt man, über das Thema einigermaßen Bescheid zu wissen? Ich habe jedenfalls den Verdacht, oder das Vorurteil, und sicher nicht genug Grundlage dafür, dass die oft beeindruckend hübsche Oberfläche von Werkzeug-Produkten auch den Benutzenden suggeriert, sie hätten inhaltlich etwas davon gehabt, und dass das nicht stimmt.
These: Mit moderner Software, mit oder ohne KI, lassen sich schicke Produkte entwerfen, auf die man stolz sein muss. Aber dieser Werkzeuggebrauch täuscht darüber hinweg, welche inhaltlichen Kompetenzen man erworben hat.
(Gegenthese: Old man yelling at clouds; bin schlecht gelaunt; ich mache es meinen SuS zu einfach, weil ich meine Kriterien nicht genug präzisiere.)
Wäre es nicht besser, möglichst ohne Werkzeuge zu arbeiten, ohne Papier, ohne Präsentation, ohne Podcast? So wie diese zwei Referate ganz am Anfang?
2. Laienhafte Gedanken zu Sokrates
Kritik am Werkzeug und an neuen Medien hat Tradition. Man erwähnt dabei oft Platon, der Sokrates in einem fiktiven didaktischen Gespräch, Phaidros, gegen die Verwendung von schriftlichen Aufzeichnungen argumentieren lässt. Verkürzt wird das gerne so wiedergegeben: Schrift ist schlecht, weil man dann träge wird und sich nichts mehr selber merkt, sich aber einbildet, etwas zu wissen. Das Kernstück dieser Argumentation liegt im dort erzählten Mythos von der Erfindung der Schrift. Der ägyptische Gott Theuth sei zu Thamus, König von Ägypten, Thamus, gegangen, um ihm seine Erfindungen zu zeigen, damit der die unter das Volk bringe. Thamus kommentiert die verschiedenen Erfindungen, darunter vor allem eben die der Schrift:
Als er aber an die Buchstaben gekommen, habe Theuth gesagt: Diese Kunst, o König, wird die Ägypter weiser machen und erinnerungsreicher, denn als ein Mittel für den Verstand und das Gedächtnis ist sie erfunden. Jener aber erwiderte: O kunstreichster Theuth, Einer weiß, was zu den Künsten gehört, ans Licht zu gebären; ein Anderer zu beurteilen, welches Verhältnis von Schaden und Vorteil es denen gewährt, die es gebrauchen werden. So hast auch du jetzt als Vater der Buchstaben das Gegenteil dessen gesagt, was sie bewirken. Denn diese Erfindung wird der Lernenden Seelen vielmehr Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung des Gedächtnisses, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittelst fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden. Nicht also für das Gedächtnis, sondern nur für die Erinnerung hast du ein Mittel erfunden. Auch von der Weisheit vermagst du deinen Lehrlingen nur den Schein, nicht die Sache selbst beizubringen. Denn indem sie nun vieles gehört haben ohne Unterricht, werden sie sich auch vielwissend zu sein dünken, da sie doch unwissend größtenteils sind, und schwer zu behandeln, nachdem sie dünkelweise geworden statt weise.
Übersetzung Friedrich Schleiermacher, Berlin 1804, Rechtschreibung angepasst
Interpretiert wird das dann gerne so, dass Sokrates oder Platon sich dem Leitmedienwechsel widersetzen, und dass das kurzsichtig und fruchtlos ist. Wikipedia entnehme ich, dass Kernthemen dieses Dialogs das Verhältnis von Rhetorik und Philosophie und die Rolle der Schrift im Vergleich zur Mündlichkeit sind, dass es darüber viel zu sagen gibt, dass man das im Kontext von anderen Werken sehen muss, dass die Forschung sich uneins ist. Ich bin überhaupt kein Philosophie- oder Platon-Experte, nicht mal hobbymäßig, und kann nicht das Geringste zur fachwissenschaftlichen Platondeutung beitragen. Aber zur verbreiteten laienhaften Deutung des Dialogs vielleicht schon. Den Phaidros habe ich zum ersten Mal Mitte zwanzig gelesen, auf Englisch, für ein Seminar an der Uni, und danach noch weitere Male auf Deutsch, weil, na ja, weil Pirsig.
Die Kritik an der Schriftlichkeit bezieht sich, so wie ich das lese, auf philosophisches Arbeiten. Jemanden „eine Weisen“ zu nennen, das könne man als Mensch gar nicht beurteilen, Sokrates schlägt „Freund der Weisheit“ als Begriff für einen Denker vor, wie er ihm vorschwebt. Solch ein Philosoph schreibt keine Reden, arbeitet nicht mit geschriebenen Texten. Als Gedächtnisstütze, okay. Die Kritik an der Schrift als Mittel der Philosophie ist, dass ihr das Dialogische des Gesprächs oder der Rede fehlt, die unmittelbare Rückmeldung des Publikums auf der einen Seite, die Möglichkeit, das Gespräch anzupassen, auf der anderen. Und das macht die Philosophie aus.
Wer nicht über den Dialog arbeitet, sondern mit geschriebenem, vorgefertigtem Text, über den lässt Platon Sokrates so urteilen:
Also wer nichts besseres hat als was er nach langem Hin- und Herwenden, Aneinanderfügen und Ausstreichen abgefasst oder geschrieben hat, den wirst du mit Recht einen Dichter oder Redenschreiber oder Gesetzverfasser nennen [aber eben nicht einen Freund der Weisheit].
Die Kritik an der Schrift scheint mir also nicht so universell zu sein, wie es der ägyptische Mythos vielleicht nahelegt. Für Dichter, Redenschreiber und Gesetzverfasser ist die Schrift ein brauchbares Werkzeug, nur eben nicht für die Philosophie.
(Was würde Platon sagen zu gesprochenen Texte ohne Dialogmöglichkeit – Erklärvideos? Gut, die sind wie Lysias‘ Rede durchgestylt und vorbereitet; man müsste wohl Audioaufnahmen von spontanen Reden heranziehen. Die sind dann ja auch so totes Wissen. Und was zu geschriebenen Texten mit Dialogmöglichkeit – Mastodon, Blogs? Findet da nicht auch Diskurs statt? Schreiben die Leser und Leserinnen deshalb weniger Blogkommentare, sondern mehr Mastodon- oder Twitter-Reaktionen, weil das flüchtiger, dialogischer ist, und damit philosophischer?)
3. Was heißt das für Referate und die Schule?
Vermutlich gar nichts, ist eine andere Domäne. Und vielleicht irren sich Platon oder Sokrates ja auch. (Fußnote: Neulich erst wieder in der Bildungsszene den Unsinn gelesen, der ihm oder Aristoteles oder Platon zugeschrieben wird: „Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität “ und so weiter. Alter Blogeintrag zu diesem Mythos. Auch da ist egal, was Sokrates gesagt hat, schon mal, weil er es ja gar nicht gesagt hat.)
Aber testen wir das dennoch mal auf Anwendbarkeit. Sind Schüler und Schülerinnen, die ein Referat halten, eher etwas wie Philosophen und Philosophinnen, oder eher Dichter, Redenschreiber und Gesetzverfasser? Vermutlich tatsächlich doch ersteres. Dass man mit schriftlicher Vorbereitung, Präsentation oder Auswendiglernen des Textes, zu wenig flexibel auf die Situation reagieren kann, das haben wahrscheinlich alle schon mal gesehen. Und wenn man das nicht vorher klar macht, greifen SuS oft automatisch zum Auswendiglernen. Klar muss das nicht so sein. Oft fehlt aber wirklich das dialogische Element bei der Präsentation, wofür es natürlich viele Gründe gibt – selbst wenn die Refererierenden Freunde und Freundinnen der Weisheit sein müssen, das Publikum ist es nicht unbedingt.
Vielleicht muss man einfach unterscheiden: Bei Referaten muss man viel wissen und das vermitteln; bei anderen Produkten muss man nicht unbedingt so viel wissen, weil die Vermittlung auch weniger das Ziel ist, sondern, hm, die Beschäftigung mit dem Thema. Das klingt negativer als ich möchte, es soll eigentlich nur ein bisschen negativ klingen.
Konsequenz, so oder so: Klarer machen, worum es bei Referaten geht; andererseits auch nicht zu viel verlangen.
Gegenthese 1: Auch beim Erstellen von Poster, Podcast, Portfolio, bei denen es im schulischen Zusammenhang meist nicht um das Erreichen eines Publikums gehen dürfte, lernt man viel über den Stoff und nicht nur über das Werkzeug.
Gegenthese 2: Es ist völlig okay, mehr über das Werkzeug zu lernen als über den Stoff, oder sich dem Stoff auf eine andere als die analytisch-akademische Art zu nähern.
Ich habe ansonsten vergessen, worauf ich hinauswollte.
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