Heinrich Mann, Professor Unrat

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Ich höre viele Podcasts, aber wenige Hörbücher; eigentlich lasse ich mich nur per E-Mail über neue kostenlose Erscheinungen auf vorleser.net informieren, und da gab es neulich Professor Unrat von Heinrich Mann, gelesen von Marina Frenk, sechseinhalb Stunden in einer Datei. Das Buch habe ich nie gelesen, die Verfilmung nie gesehen. Fast hätte ich das Hörbuch nicht angehört, aber dann gewann mein Ordnungssinn. Es hat sich dann sehr gelohnt, auch wenn ich nicht immer alles mitgekriegt haben dürfte – ich höre das beim Pendeln, und auf dem Rückweg döse ich da schon manchmal.

Was ich vorher wusste: Der Gymnasialprofessor Raat, genannt Professor Unrat, verfällt einer Halbweltsängerin aus dem Blauen Engel und verliert dadurch seine Stellung und Würde. Tatsächlich ist das alles aber differenzierter, und das Buch endet anders als der Film nicht an dieser Stelle, sondern geht noch weiter.

Also: Unrat wird im Untertitel als Tyrann bezeichnet, und das ist er auch. Er unterrichtet Griechisch und Latein; ob er das gut macht oder schlecht, ist nicht bekannt. Er ist auch nicht unbedingt jähzornig, aber er rächt sich gerne an den Schülern, die ihn zu sehr mit seinem Spitznamen „Unrat“ necken. Er droht: „Ihnen kann ich auf Ihrem Wege noch recht hinderlich werden. Ich werde Sie – immer mal wieder – hineinlegen, merken Sie sich das!“, und macht diese Drohung auch wahr, so gut es geht.

Bei einem Schüler, auf den er es besonders abgesehen hat, entdeckt er ein Gedicht auf Rosa Fröhlich, die im Lokal zum Blauen Engel singt, und verfolgt eine Schülergruppe dorthin, um sie auffliegen zu lassen. Diese ersten Begegnungen zwischen dem Lehrer und der Sängerin haben mir beim Hören sehr gut gefallen. Hätte ich das beim Lesen auch so empfunden? „Sie sagen ja gar nischt mehr?“, mit diesem Tonfall, in dem Marina Frenk das vorträgt, hätte ich das wohl nicht im Ohr gehabt. – Unrat steht ratlos vor der Künstlerin Fröhlich. (Sie wird fast immer nur als die Künstlerin Fröhlich adressiert, was eine ganz eigene Wirkung hat. So als würde man immer nur der Faschist Höcke sagen, jedesmal.) Sie bringt ihm nicht den Respekt entgegen, den er gewohnt ist, und damit weiß er schlicht nicht umzugehen. Dabei verspottet sie ihn nicht, oder nur sanft, versteht ihn ebenso wenig wie er sie, und ist eher neugierig als selber tyrannisch.

Schließlich lässt sich die Künstlerin Fröhlich von Unrat aushalten, es kommt zu einem Skandal anlässlich einer öffentluichen Gerichtsverhandlung; Unrat verliert seine Stellung und nach doch etwas hin und her heiratet er sie. Sie leben einigermaßen glücklich; ihm ist bewusst, dass sie Verehrer hat, er genießt das vielleicht sogar. Schließlich geht ihm das Geld aus, er beginnt etwas mit Griechisch-Nachhilfeunterricht zu verdienen, der sich aber bald zu Gelagen mit Gesang, Schäferstündchen, Glückssspiel entwickelt, an denen die wichtigen Persönlichkeiten der Stadt teilnehmen. Es kommt zu Skandalen, Pleiten, Betrug, gebrochenen Verlöbnissen. Die Erzählinstanz bezeichnet Unrat inzwischen als Anarchisten. Unrat genießt es sichtlich, die Stadt und ihre Jugend zu verderben; insbesondere an drei ehemaligen Schülern will er sich rächen, treibt zwei davon nach und nach ins gesellschaftliche Abseits. Da hat er fast etwas von einem Grafen von Monte Christo, ähnlich tragisch und freudlos und erbarmungslos, nur mit wenig Anlass.

Am Ende scheitert er doch an seiner Eifersucht und die Künstlerin Fröhlich an ihrer Unbekümmertheit und die Stadt ist froh, nichts mehr mit dem Paar zu tun haben zu müssen.

Ich gestehe: Unrat ist mir nicht völlig unsympathisch. Mit Hilfe des manic pixie dreamgirls in Form der Künstlerin Fröhlich entkommt er seinem bürgerlichen Korsett. Ja, sein Verhältnis zu ihr ist nicht gleichberechtigt; er handelt auch sonst unter Zwängen. Geld und Ansehen sind ihm aber nicht wichtig, da steht er drüber. Andererseits ist sein manisches Verfolgen der ehemaligen Schüler nicht rational und bösartig. Allerdings stellt er ihnen – zumindest in dieser späten Phase – keine geplanten Fallen, sondern macht nur Angebote zum Ruin.

In Wikipedia steht, das Buch „zeigte, welche Höhe die Doppelmoral des Bürgertums erreichen kann, wenn es sich von Sekundärtugenden bestimmen lässt.“ Doppelmoral, definitiv. Aber doch eher nicht bei Unrat selber, sondern beim Rest der Stadt? Sekundärtugenden: das passt zum Untertan, glaube ich, aber hier fiel mir das nicht besonders als Thema auf.

(Sprachliche Marotten des Professors: „Aufgemerkt nun also“ und „traun fürwahr“; vielleicht traue ich mich, die selber einmal anzubringen.)


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8 Antworten zu „Heinrich Mann, Professor Unrat“

  1. Danke für den Tipp; gelesen habe ich den Unrat nie zuende (vielleicht auch, weil’s Schullektüre war), nun werde ich es mit dem Hören versuchen.
    Die ersten Minuten hören sich ganz angenehm, wahrscheinlich hat man damals zu schnell gelesen.

  2. Axel Stolzenwaldt

    Anno 1990: Im Abitur legt mich mein Lateinlehrer rein, so wie Unrat es mit seinen Schülerinnen getan hat: Die einzige Fünf in meiner Schullaufbahn.
    Und das ist kein Lehrerinnen-Bashing, ich weiß, dass die meisten Lehrerinnen das so nicht gemacht hätten und auch heute nicht machen würden. Aber es gab (und gibt) immer noch Lehrerinnen, die ihre Machtgelüste auf dem Rücken der Kinder und Jugendlichen austragen.

  3. Ich glaube, dass es das gab; hoffe, dass es das nicht mehr gibt, kann es aber nicht ausschließen. Dass man im Unterricht den Tyrannen gibt, noch eher, ein Zeichen von Hilflosigkeit und Frustration vielleicht; nachtragend mit Noten sein kann wohl nur böser Wille sein. (Nicht alle als ungerecht empfundenen Noten sind das, aber dieser Fall klingt schon danach. Es gibt ja immer Zweitkorrektoren, aber dennoch ist Hereinlegen möglich.)

  4. Axel Stolzenwaldt

    Ergänzung: Das Hereinlegen ging im mündlichen Abitur, im schriftlichen Abitur gab’s eine Vier.
    Auch die Vornote war zwischen Drei und Vier, aber die Art zu fragen und die Schwierigkeit im Verlauf des Gesprächs zu steigern war schon auffällig, so was ist aber schwer nachzuweisen.
    Leider muss ich feststellen, dass es bis heute, wenn auch zum Glück nur sehr wenige, Kolleginnen und Kollegen gibt, die in unratscher Manier Kinder und Jugendliche drangsalieren.
    Da solche Fälle vorkommen, diese aber nicht justitiabel sind, muss zu anderen Mitteln gegriffen werden:
    In einem dieser Fälle wurde die Kollegin ins Kultusministerium weggelobt, in einem anderen der Kollege an eine andere Schule abgeordnet, was nicht viel geholfen hat.

  5. MM

    Extra-Punkte bekommt man, wenn man weiß, woher das „Traun fürwahr“ stammt. Der Ursprung ist nämlich die einst sehr populäre Übertragung von Homers Odyssee durch Johann Heinrich Voß. Inhaltlich ist es nämlich eigentlich eine Doppelung, aber der gute Mann musste für das Versmaß schinden… Sprachlich natürlich schon zu Heinrich Manns Zeiten altertümlich. Im Gegensatz zu der Weltfremdheit des Professors steht das Plattdeutsch der einfachen Lübecker.

  6. Das ist sehr schön. Ich hatte das gar nicht mitgekriegt, dass diese Wörter natürlich aus dem Latein- und Griechisch-Hintergrund Unrats kommen. Das passt sehr gut zu ihm. Allerdings habe ich gerade die Voß-Odyssee durchsucht (alte Klage: warum habe ich nicht leicht Online-Zugriff auf eine Ilias oder Odyssee in der Voß-Übersetzung in vernünftigem EPUB-Format, zefix!), da gibt es eine Handvoll „traun“, aber kein „traun fürwahr“, und auch bei der Ilias bin ich nach allerdings oberflächlicher Suche nicht fündig geworden. Ist diese spezielle Doppelform, und sowohl Homer als auch die Übersetzungen sind natürlich voll mit Formeln, vielleicht üble poetische Nachrede gegen den Voß?

  7. MM

    Es kann sein, dass ich mir von den Extra-Punkten, die ich mir großschnäuzig zugestanden habe, einige wieder aberkennen muss. Eventuell bezog sich die Polemik gegen Voß, auf die ich gestoßen bin, auf den kollektiven Gebrauch von „traun“ und „fürwahr“, die beide reichlich vorkommen. Die Doppelung wäre dann also die parodistische Leistung von Heinrich Mann. Immerhin erwähnt die Reclam-Ausgabe, dass er „Homers Werke in zwei Bänden“ übersetzt von Voß besaß. Puh, vielleicht bin ich doch kein Chatbot, dem die Fantasie durchgeht!

  8. Es sind aber auch zwei schöne Wörter, traun fürwahr! Ich verstehe allerdings, dass man sie überstrapazieren kann, und vielleicht hat Voß das wirklich getan.

    Bin selber eher Team Schadewaldt, auch wenn ich gerne Voß-Zeilen im Deutschunterricht verwende: „Jetzo entblößte sich von den Lumpen der weise Odysseus, / Sprang auf die hohe Schwell‘, und hielt in den Händen den Bogen / Samt dem gefüllten Köcher; er goß die gefiederten Pfeile /
    Hin vor sich auf die Erd‘, und sprach zu der Freier Versammlung.“

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