Pavić und Chabon; Chasaren, Kiewer Rus und Waräger

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Meine erste Begegnung mit den Chasaren war ein Buch von Milorad Pavić, Das Chasarische Wörterbuch. Lexikonroman, Original von 1984, deutsche Ausgabe gebunden 1988, Taschenbuch 1991. Die gebundene Version gab es in zwei Versionen, einer männlichen und einer weiblichen, die sich textlich an – glaube ich – nur einer Stelle unterscheiden, die aber nicht als solche markiert ist. Der Benutzerhinweis zu Taschenbuchausgabe schreibt: „Die Vereinigung des weiblichen und des männlichen Exemplars hat stattgefunden.“ (Ein Blatt ist doppelt in beiden Varianten im Taschenbuch, das heißt, die Seitennummern wiederholen sich. Das ist noch kein Beispiel für die von mir noch gesuchte Vereinnahmung von Seitennummern als erzählerischem Mittel, aber ein Schritt dorthin.)

Natürlich, eine alte Handschrift: Aus dieser Zeit stammt das Buch dann ja auch. Es präsentiert sich als „Rekonstruktion der ursprünglichen Daubmannus-Ausgabe von 1691 (vernichtet 1692) mit den Ergänzungen bis in die allerneueste Zeit.“ Vorworte erläutern die (fiktiven) historischen Grundlagen und die (ebensolche) Herkunft des Wörterbuchs und seinen Aufbau; der Hauptteil des Texts besteht aus ebendiesem Wörterbuch – aus einzelnen Lexikoneinträgen, alphabetisch sortiert, die zusammen die Geschichte der Chsaren erzählen, vielleicht. Man liest das Buch nicht unbedingt chronologisch, Tatsächlich sind es sogar drei Wörterbücher, die sich inhaltlich überschneiden, jeweils aus vor langer Zeit aus christlicher, islamischer und jüdischer Sicht zusammengestellt. Vielleicht lösen sie das Rätsel, was eigentlich aus den Chasaren geworden ist.

Der Hintergrund: Die Chasaren waren ein Volk und Reich zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer und bis weit in den Norden hinauf. Um das Jahr 900 herum konvertierten weite Teile dieses Reichs zum Judentum, vermutlich nicht nur die Oberschicht, sondern auch die Bevölkerung. Historisch ist da viel umstritten. Als der christlich missionierende Kyril (der einen Vorläufer der heutigen nach ihm benannten Kyrillischen Schrift entwickelte, die dann aber erst später in Bulgarien entstand) zu den Chasaren kam, weiß er noch nichts vom Judentum dort. Im Westen der Chasaren lag das Byzantinische Reich (Verbündete), im Süden das Kalifat (eher Gegner), im Norden die Kiewer Rus (Handelspartner und Gegner). Die Kiewer Rus schließlich eroberte die Hauptstadt des Chasarenreichs, und die Chasaren… verschwanden? Dass die aschkenasische Juden mehrheitlich auf die Chasaren zurückgehen, gilt als überholte These.

Die Kiewer Rus nun: Noch eine andere Geschichte. Seit dem 9. Jahrhundert tauchen die Waräger als Händler, Krieger und Siedler auf, ursprünglich wohl aus Schweden und Finnland, kamen sie hinunter bis zum Schwarzen und Kaspischen Meer. Die Waräger waren Wikinger, Normannen, so richtig mit Streitäxten. Unter dem englischen Namen Varangians sind sie mir etwas vertrauter. Bekannt sind sie, oder jedenfalls: bekannter sollten sie sein für zwei Sachen: Erstens dafür, dass sie die Varangian Guard bildeten, die Warägergarde, eine Elitegruppe im Byzantinischen Reich und Leibwache des Kaisers (10. – 14. Jahrhundert). Ja, die Wikinger kamen herum; kein Wunder, dass in der Hagia Sofia mindestens zwei Graffiti-Inschriften in Runenschrift gibt, wie erst neulich wieder durch die Presse ging.

Hier etwas, das möglicherweise „Halfdan war hier“ heißt, mehr steht bei Wikipedia:

Hermann Junghans, Runen Hagia Sophia, CC BY-SA 3.0 DE

Das andere, wofür man diese Wikinger-Untergruppe kennen sollte: Sie gründeten die Kiewer Rus, ein Wikingerreich um Kiew herum. Das Wort „Rus“ – siehe auch: Belarus, Russisch, Russland – ist ein ursprünglich nordgermanisches Wort, die Rus waren eine sesshaft gewordene Untergruppe der Waräger. Bald vermischten sie sich allerdings mit der ostslawischen Bevölkerung. Aus dem einst sehr großen Reich der Kiewer Rus gingen die Ukraine hervor, Russland, Belarus. Der Niedergang des Reichs waren erst die Mongolen, dann Iwan der Große. Wieso erfahre ich das alles erst jetzt? Ich weiß wirklich nichts über Osteuropa oder Zentralasien. (Die Antinormannenthese, dass die Kiewer Rus nicht von Skandinaviern gegründet wurde, war mal politisch beliebt, gilt aber als überholt.)

Das zweite Mal, und zwar erst kürzlich, begegneten mir die Chasaren, und die Rus, in Michael Chabons kurzem Roman Gentlemen of the Road (2007). Chabon kenne und schätze ich, obwohl viele seiner Bücher dann doch nicht so gut sind wie erwartet. The Yiddish Policemen’s Union (2007) ist allerdings meisterlich. In Gentlemen geht es um zwei Abenteurer: den jüdischen Zelikman aus Regensburg – gebildet und bleich und düster, ohne grimdark zu sein, Arzt und sentimental-zynisch, mit einer Art Florettvorläufer als Waffe, und Amram aus Abessinien, schon etwas älter, Streitaxt, die sich im chasarischen Reich herumtreiben, zuerst als kleine Trickbetrüger, dann als Söldner und Intriganten. Die Geschichte ist kompetent geschrieben, nicht sehr überraschend, aber sie besticht durch das unvertraute und doch glaubwürdige Setting. Wir haben die zumindest teilweise jüdischen Chasaren, muslimische Soldaten und Überfälle der Wikinger-Rus. Dabei ist das kein historischer Roman, sondern ein Abenteuerroman, historic fantasy, ohne sorcery: Chabon hat zur Vorbereitung Fritz Leiber gelesen (das Vorbild merkt man am ehesten), George Macdonald Fraser (nachvollziehbar) und Michael Moorcock (mir unverständlich); Moorcock ist das Buch auch gewidmet. Ich hätte ihm eher Robert E. Howard empfohlen, dessen Conan er natürlich kennt, und seine Orientgeschichten, oder Harold Lamb, mit den Abenteuern des Kosaken Khlit ums Kaspische Meer herum. Sehr schön das Nachwort, in dem sich Chabon quasi dafür entschuldigt, einen unseriösen Abenteuerroman geschrieben zu haben, dessen ursprünglicher Titel Jews with Swords leider nicht zu halten war.

***

Wie ich auf all das gekommen bin: Ich recherchierte anlässlich des Nibelungenlieds in der 7. Klasse nach Waffen mit Namen, insbesondere Schwertern, also wie Balmung, Excalibur, Sturmbringer und Stich und so weiter. Da stieß ich auf die Axt Defiler of Your Mother, die in Gentlemen of the Road auftaucht. Die Beschreibung der Gentlemen klang gut, Chabon kannte ich, und dann fielen mit REH, Lamb und Pavić rasch viele Bausteine zusammen. Man weiß nie, wozu noch so esoterisch scheinendes Wissen gut ist.


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