(Was ein pädagogischer Tag ist.)
Dieses Jahr kam ein Gast: Diplompsychologe Bernd Willkomm hielt vor der Lehrerschaft einen Vortrag zum Thema Stress, Stressbewältigung und Psychotrauma im Kontext des Schulalltags. Der Vortrag war sehr gut, es ging um Krisenbewältigung, nicht den üblichen Alltagsstress. Ich will hier zusammenfassen, was für mich das Interessanteste war, auch um es mir dadurch zu eigen zu machen, indem ich es für mich umformuliere.
Was ist Stress? Nach einer möglichen Definition ist das eine Reaktion auf innere oder äußere Einwirkungen.
Wie äußert sich Stress? Ich habe nicht daran gedacht, nachzufragen. Es beginnt jedenfalls immer mit Adrenalin. (Mehr zu psychotraumatischem Stress weiter unten.)
Wie entsteht Stress? Durch einwirkende Stressoren: Lärm, Leid, Schmerz, ein traumatisches Erlebnis, vieles mehr. Wenn die möglichen Stressoren als nennenswerte Beeinträchtigung empfunden werden und wenn sich der der Mensch nicht in der Lage fühlt, die Situation zu bewältigen, dann reagiert der Mensch mit Stress.
Wovon hängt es ab, ob ein möglicher Stressor als solcher empfunden wird und eine Stressreaktion erfolgt? Das ist individuell verschieden. Ein Faktor ist: Was als normal empfunden wird, führt nicht zu Stress. Was man als normal empfindet, hängt von Normen und Werten ab, vom Selbstbild und Weltbild. Beides entwickelt sich das ganze Leben lang, und natürlich vor allem bei Jugendlichen.
Selbstbild heißt: Wer bin ich und was will ich?
Das Weltbild: Eine wichtige Funktion des Weltbilds ist, dass sich der Mensch darin geborgen fühlt. Beeinflusst und stabilisiert wird das Weltbild durch Familie, Freunde, Vereine, Kirche, Schule, Gesellschaft. Diese stabilisierenden Faktoren sorgen für Orientierung, Anerkennung, Erfolg, Halt, Akzeptanz und Regeln. Fehlen sie, ist man angreifbarer. Das Weltbild spielt eine Rolle, wenn es um die Einschätzung von Stressoren geht. Das eigene Handeln muss mit Selbst- und Weltbild kompatibel sein. Geht das nicht, ist ein Trauma möglich.
Wie versucht der Mensch, Stress zu bewältigen? Man versucht die Bewertung der Situation ändern, indem man seine Einstellungen und Werte ändert, um so die Erlebnisse zu normalisieren. Oder man versucht, den Stressor zu vermeiden, auszuschalten, zu reduzieren, zu verändern. (Das kann durchaus destruktive Formen annehmen. Wenn man keine Möglichkeit sieht, dem Stressor auszuweichen außer durch Gewalt gegen sich oder andere.) Besser, aber dem Menschen nicht immer möglich, ist eine logische Analyse, vor allem die Möglichkeit der Aussprache. Letztlich helfen zum Beispiel auch noch Entspannungstechniken.
Ist Stress immer etwas Schlechtes? Ich habe nicht daran gedacht, danach zu fragen.
Was ist psychotraumatischer Stress? Stress infolge eines Psychotraumas. Er kann mittel- und langfristige Folgen haben, einen ausgebildeten Therapeuten erfordern. Allerdings sind 2/3 aller Fälle auch Selbstheiler, die ohne therapeutische Hilfe die Traumatisierung überwinden.
Wie äußert sich psychotraumatischer Stress? Vielfältig, auch verzögert, zum Beispiel in Form von Amnesie, Aphasie, Albträumen, Depressionen, Schlafstörungen, Aggression.
Was löst ein Psychotrauma aus? Nicht das Ereignis selber (Unfall, Tod) sondern damit verbundene Schuldgefühle, Hilflosigkeit, Bedrohung, Betroffenheit.
— Im Vortrag gab es mehr Beispiele als ich angegeben habe, und natürlich noch anderes und bestimmt auch andere Schwerpunkte, vor allem den des Psychotraumas. Für mich war die Beziehung Weltbild-Selbstbild besonders interessant, auch wenn ich jetzt beim Schreiben gemerkt habe, dass ich noch nicht alles gedanklich im Griff habe. Aber ich denke, das sind beides Punkte, an denen die Schule viel Einfluss hat.
Was tragen wir in der Schule zum Selbstbild und Weltbild der Schüler bei? Ich habe mich in meinem Selbst- und Weltbild recht komfortabel eingerichtet. Ist jede Kombination von Weltbild und Selbstbild, die Stressfreiheit ermöglicht, als gleich gut zu bewerten? Oder landen wir dann nicht beim Soziopathen, der möglicherweise tatsächlich nicht unter Stress leidet?
Wo kommt mein Weltbild her? Sicher auch von der Geborgenheit im Elternhaus. Respekt, Achtung, Würde. Mir sind aber auch schon früh verschiedene Weltbilder angeboten worden. „With great power comes great responsibility“ – ich bin Spider-Man-Leser seit 1979. Nicht lachen! Atheistisch ist mein Weltbild auf jeden Fall, klassisch naturwissenschaftlich orientiert. Nihilistisch war ich aber nie. Im Angebot waren Weltbilder aus Macbeth:
To-morrow, and to-morrow, and to-morrow,
Creeps in this petty pace from day to day
To the last syllable of recorded time,
And all our yesterdays have lighted fools
The way to dusty death. Out, out, brief candle!
Life’s but a walking shadow, a poor player
That struts and frets his hour upon the stage
And then is heard no more: it is a tale
Told by an idiot, full of sound and fury,
Signifying nothing.
Oder Nathans Worte an Recha:
Wie? weil
Es ganz natürlich, ganz alltäglich klänge,
Wenn dich ein eigentlicher Tempelherr
Gerettet hätte: sollt‘ es darum weniger
Ein Wunder sein? – Der Wunder höchstes ist,
Daß uns die wahren, echten Wunder so
Alltäglich werden können, werden sollen.
Ohn‘ dieses allgemeine Wunder, hätte
Ein Denkender wohl schwerlich Wunder je
Genannt, was Kindern bloß so heißen mußte,
Die gaffend nur das Ungewöhnlichste,
Das Neuste nur verfolgen.
Die folgende Zen-Anekdote passt gut in mein alles andere als fatalistisches Weltbild:
Ein reicher Mann bat Sengai, etwas für das Glück seiner Familie aufzuschreiben, so daß es von Generation zu Generation im Gedächtnis behalten würde. Sengai verlangte einen großen Bogen Papier und schrieb: „Vater stirbt, Sohn stirbt, Enkel stirbt.“ Der reiche Mann wurde ärgerlich. „Ich bat Euch, etwas für das Glück meiner Familie zu schreiben! Warum macht Ihr solch einen Scherz?“ „Ich hatte nicht die Absicht, einen Scherz zu machen“, erklärte Sengai. „Wenn dein Sohn vor dir sterben würde, so würde dich das sehr bekümmern. Wenn dein Enkel vor deinem Sohn sterben würde, so würde dies euch beiden das Herz brechen. Wenn deine Familie Generation auf Generation in der Reihenfolge dahinscheidet, die ich genannt habe, so ist das der natürliche Ablauf des Lebens. Das nenne ich wahres Glück.“ (Aus: Ohne Worte, ohne Schweigen von Paul Reps)
Wenn man an Weltbild und Selbstbild denkt, bekommt Bildung eine konkrete Bedeutung, die eben doch über Allgemein- und Ausbildung hinausgeht, und deren Nutzen man vielleicht so Leuten erklären kann, die ihn sonst nicht sehen.
Fußnote 1: Ich muss doch mal das didaktisch schön aufbereitete Material zu This I Believe lesen und einsetzen. Vielleicht im Englisch-LK, ginge natürlich auch auf Deutsch.
Fußnote 2: Um noch einmal zur Stressvermeidung zu kommen: Mir hilft auch das Bloggen dabei, glaube ich.
Jetzt aber gute Nacht zusammen, ich muss schauen, dass ich ins Bett komme, morgen früh aufstehen und abends Elternsprechabend.
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