Ich kann mich noch gut erinnern, als der Film „The Elephant Man/Der Elefantenmensch“ von David Lynch 1980 herauskam. Nicht weil ich ihn gesehen hätte, ich war dreizehn Jahre alt und leicht zu verstören. Aber es kamen Ausschnitte im Fernsehen, die habe ich mitgekriegt. Wenn ich jetzt nachblättere: John Hurt, Anthony Hopkins, Anne Bancroft, John Gielgud. Dass der Film auf einer wahren Begebenheit beruht, war damals schon Thema. In der jüngsten Ausgabe des kuriosen kleinen vierteljährlichen Büchermagazins Slightly Foxed, das ich seit 2010 abonniert habe und jedesmal lese (es liest sich eher wie gut recherchierte Blogeinträge), stand ein Beitrag über das Büchlein, in dem die ursprüngliche Geschichte von John Merrick zuerst erschien.
Frederick Treves (1853 – 1923) war ein berühmter, erfolgreicher und wohl auch fähiger viktorianischer Chirurg. Hat Bücher geschrieben, die Blinddarmoperation im UK eingeführt, und den zukünftigen König zwei Tage vor der Krönung am Blinddarm operiert („on a table in the Music Room at Buckingham palace“). Mit fünfzig zog er sich aus der Chirurgie zurück und reiste und schrieb viel. Die Sammlung kleiner Geschichten, deren erste und titelgebende die des Elefantenmenschen ist, ist sein bekanntestes Buch; gibt es digital bei Gutenberg – anders als Highways and Byways in Dorset, „in which he documented the villages, people and customs of his native county following a series of epic bicycle journeys“ (Daniel Creamer, in Slightly Foxed No. 72). Das tät mich schon auch reizen, wenn es das digital irgendwo gäbe.
Alle Geschichten in The Elephant Man and Other Reminiscences sind non-fiction, Erinnerungen. „The Elephant Man“ ist natürlich die bekannteste. In „The Old Receiving Room“ beschreibt Treves, wie in seiner Anfangszeit das Äquivalent zum Emergeny Room aussah, als das mit der Hygiene erst langsam anfing:
There was no object in being clean. Indeed, cleanliness was out of place. It was considered to be finicking and affected. An executioner might as well manicure his nails before chopping off a head. The surgeon operated in a slaughter-house-suggesting frock coat of black cloth. It was stiff with the blood and the filth of years. The more sodden it was the more forcibly did it bear evidence to the surgeon’s prowess. I, of course, commenced my surgical career in such a coat, of which I was quite proud.
Andere Geschichten sind fast schon sentimentale O.-Henry-Geschichten, manche bitter: „The Idol with Hands of Clay“ erzählt von einem Chirurgen, der sich ohnehin überschätzt, von seiner Frau vergöttert wird, und auf ihr Drängen und gegen sein besseres Wissen an ihr operiert, als eine Operation nötig ist. Es geht nicht gut aus, und ist sehr gut geschrieben.
„A Cure for Nerves“ ist aus der Sicht einer Patientin geschrieben und wirkt dadurch gänzlich fiktional. Die Beschreibung einer Depression und die Reaktion der Umwelt darauf erkennt man wieder – aber der Text lässt sich auch als sehr atmosphärische Geistergeschichte lesen, so ein bisschen „Yellow Wallpaper“ dabei, aber auch mit Blut, das die Zimmerdecke rot färbt.
Und noch eine Geistergeschichte gibt es, „A Restless Night“, die ebenfalls ganz fiktional wirkt. Der Ich-Erzähler, Treves, ist in Indien bei einem Kollegen, wo sie auf einer Reise in einem heruntergekommenen Bungalow übernachten. Der Kollege erzählt eine Geschichte, die der Ich-Erzähler im Traum fortsetzt – mit einer Plage von (Bisam-)Ratten, blinden Mördern, Gestalten in der Nacht, einer furchtbaren Rache. Aber alles nur ein Traum. Die Geschichte könnte von Kipling sein. (Mal abgesehen von den “unclean natives“, von denen Kipling so pauschal nie geschrieben hat. Das Wort, kurzer Check, taucht in einer rasch konsultierten digitalen One-Volume-Ausgabe sämtlicher Geschichten insgesamt 9 mal auf, jeweils anders verwendet als die 2 mal bei Treves.)

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