Vor zwanzig Jahren bloggte ich mal über meine Jugendjahre, die damals zwanzig Jahre her waren, und zwar insbesondere über unseren Clubraum: https://www.herr-rau.de/wordpress/2004/11/es-geht-auch-ohne-baumhaus-jugendjahre.htm
Ich glaube, wir nannten es nicht Clubraum; wir wussten nicht einmal, dass wir einen Clubraum hatten. Einen Club hatten wir, dann.
Ein Freund wohnte – mit seiner Familie – auf dem Werksgelände einer Augsburger Textilfabrik. Gleich nach dem Pförtnerbereich kam eine kleine Brücke, und gleich nach dieser war links das Haus, zwei- oder dreistöckig, mit ein oder zwei Eingängen, glaube ich. Mein Freund wohnte im ersten Stock, glaube ich wieder, aber da waren wir selten, sondern auf dem Dachboden: Ein großer, staubiger, je nach Sonnenstand auch mal lichtdurchfluteter Speicher, an dessen Ende ein kleiner abgetrennter Raum war, so richtig mit Türe. Darinnen ein Fenster und teilweise schräge Fenster.
In der 5. oder 6. Klasse trafen wir uns dort, um Plastik-Flugzeugmodelle zu kleben. Ab der 7. Klasse tapezierten wir die Wände mit Science-Fiction- und Comic-Postern und Risszeichnungen aus Perry-Rhodan-Heften; in Regalen und am Boden waren Heftromane und Taschenbücher von Flohmarkt gestapelt, wir lasen und lasen; der Plattenspieler spielte leise „Das Geisterschiff vom Ohio“. Märchenhaft. Und uns völlig normal. Das währte ewig und für immer – also drei Jahre lang? – und stellte Phase 2 und Phase 3 meiner Zeit vor dem Lehrersein dar:
- Die Grundschulfreunde
- Die frühen Clubjahre (mit drei Mitgliedern)
- Die späteren Clubjahre (mit fünf Mitgliedern)
- Die Jahre im Star-Wars-Fandom, zeitgleich mit vielen Überschneidungen: die Rollenspielerjahre
- Grundstudium: die alten Schulfreunde
- Hauptstudium: Frau Rau und die anderen Augsburger
Ich weiß nicht, wann ich zum letzten Mal in diesem Clubraum war, es war kein großes Ereignis, ich bin ihm wahrscheinlich unsentimental begegnet. Zu sehr lockten neue Interessen.
Dass zehn Jahre später die Fabrik, wie etwa zeitgleich alle Augsburger Textilwerke, stillgelegt wurde, habe ich mitgekriegt, aber es hat mich nicht berührt. Das kommt erst jetzt mit dem Alter, wo ich versuche, Dinge festzuhalten, solange es keine Mühe macht. Die Fabrik, das war das Haunstetter Martini-Zweigwerk.
Das war der Stammsitz des 1832 gegründeten Unternehmens Martini & Cie., weniger bekannt als das spätere Werk im eigentlichen Augsburger Textilviertel, das heute als Martinipark Industriedenkmal und Gewerbegebiet ist. Schon in den 1970ern wurde sie Teil des Textilkonzerns in Augsburg, behielt aber den alten Namen, Martini MCA Textilveredelungswerke GmbH. Dierig gibt es heute noch, als Augsburger Textil- und vor allem Immobilienkonzern. Gegründet 1805 in Schlesien, wurde Dierig dort 1844 zu einem Schauplatz des Weberaufstands, siehe Heine und Büchner Hauptmann, zefix (in dessen Drama die Firma „Dittrich“ heißt).
Anfang der 1990er Jahre wurde das Werk also geschlossen. Weil gleich östlich davon mit Siebenbrunn das Trinkwassereinzugsgebiet Augsburgs beginnt, kaufte die Stadt 1994 das Gelände und ließ es bis heute unbebaut und geschützt, nachdem 1995 das Werk abgebrochen wurde:

Die Brücke über den Lochbach, die ich nach – oder war es doch vor? – dem Pförtnerbereich überquerte die ist noch da. Sonst: ist da gar nichts mehr. Gestern war ich zum ersten Mal seit vierzig Jahren dort und sah mich kurz um. Wo früher ein Textilwerk war, sieht es jetzt so aus:


Ich hatte den Ort nicht gleich gefunden, in der Erinnerung etwas durcheinander gebracht, so dass ich hinter den Messerschmidt-Werken zu suchen begann, knapp 600 Meter nördlich davon. Zwei Minuten, nachdem ich die Straßenbahn verlassen hatte, traf mich diese Szene:

Schlechte Bildqualität, aber das Motiv schien mir überraschend passend. Die Schienen, die gehen geradwegs durch bis zum Textilwerk und in die andere Richtung nach dem eigentlichen Augsburg. Nicht mehr benutzt, natürlich, schon lange nicht.
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