Die Wohnungen meiner Kindheit und Jugend

(3 Kommentare.)

Hinter diesen drei Türen bin ich aufgewachsen. Das Treppengeländer war aber nicht immer so rot, glaube ich.

Am meisten bin ich in der rechten Wohnung dieses Stockwerks aufgewachsen, dort wo die Tür offen steht. Gelebt habe ich aber in allen drei Wohnungen. Das kann ich am besten mit dem Grundriss dieses Stockwerks erklären:

Die rote Wohnung

Die rote Wohnung, das war die meiner Eltern. Da, wo „Kinderzimmer“ steht, war ursprünglich das Schlafzimmer meiner Eltern (und wir in deren), aber schon bald bekamen mein Zwillingsbruder und ich dieses Zimmer. Und was war das für ein Zimmer! Ein Stockbett, mein Bruder unten, ich oben. Für Faschings- und Geburtstagsfeiern wurde das obere Bett abgenommen und auf den Boden gestellt, wo dann beide Elemente als Couch dienten:

1979

In unserem Zimmer war ein eigener Fernseher, den wir benutzen durften, wie wir wollten. Ich kann mich jedenfalls nicht an Einschränkungen erinnern, außer dasss irgendwann Schlafenszeit war. Verrauschte Gruselfilme auf ORF 1 und 2. Und es gab eine Intellivision-Spielekonsole. Das Antennenkabel dazu kam aus dem Wohnzimmer, mit einem Bohrer mit einem gaaaanz langen Bohreinsatz wurde durch die Wand ein Loch gebohrt. Ein ausgemusterter Spielautomat stand auch lange am Boden herum. (Rotamint Goldene 7 Record?) Hier ein frühes Bild des Kinderzimmers mit Funkfernsteuerung auf elektrischer Schreibmaschine neben Fernseher im dunklen rechten Hinter- und meiner Marvel-Sammlung im Vordergrund:

1979

Im elterlichen Wohnzimmer Fernseher und Videorekorder, dieser schon sehr früh, angefangen mit der Generation vor Betamax. An die erste Möbelgeneration kann ich mich nicht erinnern, aber die roten Goldmann-Krimis im Regal (Agatha Christie, Edgar Wallace) habe ich ein paar Jahre später während einer Krankheitsphase alle gelesen:

1971
Technikturm 1980

Außerdem ein Balkon, zu dem man auch hinein und heraus klettern konnte. Seitlich neben dem Balkon Indianerzelt, Plantschbecken oder Tischtennisplatte, je nach Alter:

1970

Dahinter Wohnblock-Spielplatzanlage mit Schaukeln und Sandkasten und große Grünfläche zum Ballspielen, sofern einen der Hausmeister nicht verscheuchte.

1969

In der Küche eine echte Speisekammer. So eine mit Luftschlitzen in einen Luftschacht nach draußen. In einem Winter froren mal die Mineralwasserflaschen ein. (Inzwischen zugemauert.)

(Bildmontage aus 21. Jahrhundert)

Das (oben rot gefärbte) Arbeitszimmer war meistens ein Ort für Computer und Bogenschießen-Paraphernalia, später ein Zimmer meines jüngeren Bruders, zu Studienzeiten auch mal mein Zimmer.

Die grüne Wohnung

Die grüne Wohnung war die meiner Großeltern. Wir gingen ein und aus, Sonntags wurde häufig in deren Wohnzimmer gegessen (von meiner Mutter in ihrer Küche gekocht und hinüber getragen). Das Büfett, das meine Großeltern zur Hochzeit 1923 bekamen, stand da – genau das, das jetzt in meinem Zimmer steht, einen ramponierten Fuß hat und schon etliche Umzüge mitgemacht hat. Mein Bruder und ich schliefen oft bei den Großeltern und verbrachten viele Abende dort: Bonanza, Die Straßen von San Francisco, Dalli Dalli.

Die gelbe Wohnung

Nach dem Tod meiner Großeltern zogen die Nachbarn aus der mittleren, gelben Wohnung in die linke, grüne um, und meine Eltern mieteten diese mittlere Wohnung dazu, ließen die Wand durchbrechen, so dass das gelbe Wohnzimmer mit dem roten Gang verbunden war. So war ein neues Esszimmer entstanden:

1987

Das Bild an der Wand von einem Arbeitskollegen meines Vaters, glaube ich. Einladungen mit viel Verwandtschaft gab es oft: Taufen, Beerdigungen, Kommunionen.

Mein Zwillingsbruder und ich zogen um in das gelbe Schlafzimmer, mein kleiner Bruder in das rote Kinderzimmer, das (rote) Arbeitszimmer war ein Arbeitszimmer für meine Mutter und Gästezimmer, und die gelbe Küche wurde neues Arbeitszimmer meines Vaters: randvoll mit Druckern (immer so zwei, drei), Computern (drei, meist), einem Tischkopiergerät (Mitte der 1980er Jahre), Endlospapier, Kopierpapier, Monitoren, Elektrobastelkram, Modem, Akustikkoppler. Wie schade, dass ich keine Bilder habe außer diesem kleinen bisschen elektrische Typenrad-Schreibmaschine, vom Rechner aus als Drucker angesprochen:

1985

Das gelbe Schlafzimmer: Zwei Betten, Arbeitstische, Monitor und Computer (der gute Commodore 64), Fernseher (natürlich), Tische zum Arbeiten und Tischchen zum Feiern. Das waren die Feuerzangenbowlenfeste der letzten zwei, drei Schuljahre. Fotos von diesem Zimmer gibt es kaum, hier eines von der Tür, mit dem Ölofen (zentrale Einspeisung), der manuell gezündet werden musste und dabei gelegentlich puffte und nachts durch die kleine Öffnung im Deckel Bilder an die Decke zeichnete. (Links ein Ausschnitt aus dem Schrank mit Videorekorder, CD, Kassettendeck, TV.)

1986
Comicsammlung 1985

Ich wohnte lange zuhause. Als ich während des Studiums ein Jahr in England war, fragte ein Freund, zu dem ich bereits ein wenig den Kontakt verloren hatte, meine Eltern, ob er und seine Freundin eine Weile dort wohnen könnten – kein Geld, keine Wohnung, andere Probleme. Und eine zahme Ratte als Haustier. Ja, das ging. Solche Leute waren meine Eltern.


Waren meine Eltern reich? Sicher nicht. Über Geld wurde nicht geredet, und die Wohnungen sind auch kleiner, als es aussehen mag. Meine Mutter arbeitete immer wieder mal Teilzeit in Bürotätigkeiten; mein Vater war bei Siemens – etwas Technisches, nicht Management. Er verdiente aber gut. Meine Eltern waren aus einer und Teil einer Schicht, die es nicht mehr gibt – Kleinbildungsbürgertum? Weder meine Eltern noch meine Großeltern waren auf dem Gymnasium, geschweige denn an einer Universität. Maximal Realschule für die Mädchen, Volksschule für die meisten Buben, so war das auf dem Dorf oder in der kleinen Stadt. Mütterlicherseits waren aber Honoratioren da: mein Großvater war (ehrenamtlicher) Bürgermeister einer Gemeinde von gut dreitausend Einwohnern, heute ein Stadtteil.

Und vor allem war Bildung da, und Bildungsinteresse, und eine gewisse Weltläufigkeit. Meine Mutter bekam als Kind Schillerballaden zum Einschlafen vorgelesen, und mochte das sehr. Vater und Mutter entdeckten Oper für sich, ich weiß gar nicht wie. Theater als Kunstform interessierte sie wenig, Theater als Ort für gesprochenen Text sehr. Zwei Schwestern meiner Mutter waren nach Amerika verheiratet (die Nachkriegszeit), der Großvater besuchte sie mit dem Schiff, geflogen wurde erst in der Generation meiner Eltern – dann aber oft, und viel die USA besucht. Daher kannte man spare ribs und Guacamole und gegrillten Mais schon sehr früh, in der ersten Hälfte der 1970er Jahre, bevor das allgegenwärtig wurde.

Ich hatte als Kind das Gefühl, alles zu bekommen, was ich wollte; aber ich wollte auch nicht unbedingt viel. Spielzeug, Musikinstrumente, Reisen, interessantes Essen. Heute habe ich nur basses Erstaunen für meine Eltern und ihre Generation und höchstmöglichen Respekt. Und ich halte mich für sehr privilegiert.


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Kommentare

3 Antworten zu „Die Wohnungen meiner Kindheit und Jugend“

  1. […] Rau erinnerte sich an die Wohnungen seiner Kindheit und Jugend. Herr Buddenbohm fuhr Bahn (u.a. durch Langenhagen). Gabriele Frankemölle machte Pastrami und Anke […]

  2. Trulla

    Sehr gern gelesen.

    Was mich dabei besonders berührt ist Ihre Wertschätzung (zu Recht) der fürsorglichen und liberalen Haltung Ihrer Eltern, wie sie sowohl den Großeltern als auch den Söhnen und deren Freunden zugutekam.

    Eine schöne Kindheit und Jugend. Bestes Rüstzeug für alles, was später kommen mag.

    Ihre Eltern, lieber Herr Rau, werden diesen Text hoffentlich zu lesen bekommen. Er wird sie glücklich machen.

  3. Vielen Dank. Und ja. Die Eltern wissen das. Hier lesen sie aber nur selten, glaube ich, aber so kann ich immer wieder davon erzählen, was ich schreibe. :-)

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