Stochastische Verantwortlichkeit

(16 Kommentare.)

Der große Kabarettist Hanns Dieter Hüsch hat mal einen kurzen Monolog gemacht: „Jeder braucht jeden“, erschienen auf Feine Komödien – Feine Tragödien (1991), der Text steht in Du kommst auch drin vor. Leider finde ich sie online nur bei Diensten, die ich nicht nutze; hier ein Zitat daraus:

Ich kann zum Beispiel Gedichte machen, aber das ist nichts Besonderes, dafür können Schreiner Tische und Stühle machen, oder, ich kann ohne meinen Bäcker nicht leben, denn ich brauche das Brot, das er macht, er kann zwar ohne mich leben, denn er braucht meine Gedichte nicht, oder vielleicht manchmal doch, aber einen Schuster braucht er für seine Füße, denn Schuhe kann er ja nicht machen, und der Schuster braucht wieder den Schneider für seinen Leib, und der Schneider braucht wieder Brot und Schuhe, vielleicht auch Gedichte für seine Seele.

So richtig schön wird das erst in Hübschs gestelzt-schnoddrig-schneller Vortragsweise. Für mich heißt dieser kleine Monolog: Jedes Individuum steht mit allen anderen in Kontakt, tauscht Dienstleistungen oder Güter aus – aber gemeint sind natürlich auch andere Arten des Austausches, der Kommunikation, des Aufeinander-Angewiesen-Seins. Nicht alle stehen mit allen direkt in Verbindung, aber der Bäcker mit dem Schuster und der mit dem Schneider und der mit dem Dichter: zumindest indirekt hängt alles zusammen. Wir sitzen ja auch wirklich alle in einem Boot, auch die Telefondesinfizierer, und vielleicht gerade die, wobei es natürlich stimmt, dass die einen rudern und die anderen ein Luxusleben führen. Dass alle alle brauchen, heißt nicht, dass es Gerechtigkeit gibt. Und was heißt brauchen überhaupt? Sagen wir: Alle haben auf alle anderen Auswirkungen, wenn auch vielleicht nur kleine; da kommen wir schneller zu einer Einigung.

Wir teilen uns zum Beispiel die Atmosphäre des Planeten. Wenn ich Auto fahre, oder S-Bahn, oder sonstwie Energie aufwende, dann erzeugt das CO2. Das ist nichts Schlimmes, aber es ist so. Wenn ich irgendwo ein Kleidungsstück kaufe, hat das Auswirkungen auf die Atmosphäre, auf den Laden, in dem ich es kaufe, die Angestellten dort, auf die Wirtschaft insgesamt, in meinem Land, in dem Land, in dem das Kleidungsstück produziert wurde, in dem Land, aus dem die Rohstoffe für das Kleidungsstück herkommen. Der Einfluss ist sehr gering bei einem einzelnen Kleidungsstück, aber er ist da. Und wie sich der Einfluss auf, sagen wir, das Bruttonationaleinkommen oder die Sterbefallzahlen in einem dieser Länder auswirkt, das ist wahrscheinlich nicht ganz einfach – das ist so die Sache mit der Kleidung aus Bangladesch: Unterstützt man damit Ausbeutung oder gibt man den Menschen dort arbeitet? (Wie schön, dass die Frage schwer zu beantworten ist, dann fällt es leichter, nicht darüber nachzudenken. Wobei schwer aber nicht unmöglich heißt, und für chaotisch halte ich diese Systeme ohnehin nicht.)

Noch bei mir?

Wer sich ohne gute Gründe nicht impfen lässt, ist für den Tod anderer Menschen verantwortlich.

Das ist drastisch formuliert, aber es scheint mir so offensichtlich, dass ich tatsächlich Schwierigkeiten habe mir vorzustellen, wie man das nicht verstehen kann. Aber ja, Menschen sind wohl empfindlich bei deutlichen Worten. (Siehe alten Blogeintrag zu: „Ja, ich will ihre Kinder verändern“ – was glauben die denn, was Lernen, Wachstum, Bildung ist?) Drastisch formuliert, wie gesagt, aber die Frage, wie schlimm oder verwerflich oder vermeidbar das ist, ist eine andere, schwierigere Frage. Zu dieser vielleicht später mehr..

Anlass dieses Blogeintrags ist ein Eintrag in einem anderen Blog, das ich schon lange verfolge, und das am Abdriften ist – noch keine größeren Verschwörungstheorien, aber Impfverweigerung und Links auf verworrene Seiten. Es ist tatsächlich der einzige Fall in meinem beruflichen, familiären, privaten und internetten Umfeld, wo ich so etwas erlebte. Ein Schwerpunkt des Blogeintrags ist: Ich will mich nicht impfen lassen. Ich bin doch gesund. Ich weise sogar mit einem Test nach, dass ich gesund bin. Ich stecke also niemanden an. Wieso muss ich Einschränkungen hinnehmen?

Ich habe Folgendes dort kommentiert:

(1) Ich verstehe halbwegs noch die Haltung: Ich will mich nicht impfen, weil – unbestimmte Angst davor, weil der Glaube es einem verbietet, kurz: aus religiösen Gründen. Ich denk mir meinen Teil, aber kann das fast nachvollziehen.

(2) Ich verstehe die folgende Haltung: Ich will mich nicht impfen, und nehme billigend in Kauf, dass andere deswegen sterben. Einfach gesagt: Mein Recht auf Unversehrtheit wiegt höher als das Recht anderer, zu leben. Das klingt dramatischer, als es ist, denn irgendwie leben wir alle nach dieser Maxime. Es ist ja nicht so, dass 1 Ungeimpfte für 1 Toten verantwortlich wäre. Vielmehr ist 1 Ungeimpfte stochastisch für eine kleinere Zahl an Toten verantwortlich. Sollen wir 0,25 Tote sagen? Nein, das ist übertrieben, und das wäre ethisch zu leicht. Also: für einen Hundertstel-, Tausendstel-, Hunderttausendsteltoten? Ab irgendeiner Grenze würde jeder von uns sagen: Ja, isso, Recht auf Leben schön und gut, aber andere Rechte sind auch wichtig. Und das stimmt ja auch.

(3) Was ich aber gar nicht verstehe: Die Haltung, man sei mit der Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen, *nicht* für einen Anteil der Toten verantwortlich. Die Punkte (1) und (2) sind Wert- und Gewichtungsurteile, potentiell schwierig. Aber (3) ist eine Frage des Verstandes, ist Realitätsleugnung, reine Rechnerei. [ …]

Vielleicht muss ich das aber doch noch einmal erklären, in dem Blog wurde das als ungeheuerlich bezeichnet. Wer sich nicht impfen lässt, hat eine höhere Wahrscheinlichkeit, jemanden anzustecken, als jemand, der geimpft ist. Nicht so viel höher wie gehofft, wohl; es kursieren zur Zeit Kommentare zu verschiedenen, auch missverstandenen Studien dazu, aber sei‘s drum. Wer sich nicht impfen lässt, nimmt mit weitaus höherer Wahrscheinlichkeit jemandem einen Platz im Krankenhaus weg als jemand, der sich impfen lässt. Und beides führt zum Tod von anderen Menschen. Ist das nicht klar?

Ja: In einer idealen Welt würden nur Infizierte andere Menschen meiden, unter Einschränkungen wie Quarantäne oder Zutrittsverbot zu Veranstaltungen leiden. Aber, und auch das scheint mir offensichtlich, man weiß es halt nicht. „Ich bin gesund und stecke niemanden an“ – wahrscheinlich wahr, aber das kann man a) nicht sicher wissen und b) kann man sich doch trotzdem infizieren, auch wenn man gesund ist. Und dann verläuft das wahrscheinlich relativ harmlos, und nur mit etwas Pech Intensivstation. Das scheint aber doch wohl ein Problem zu sein, denn die Intensivstationen sind voll. Das ist unstrittig unter Menschen, die nicht Verschwörungen anhängen..

Rechtlich: Gar keine Frage, da ist man sauber, wenn man die Impfung verweigert. Um ein anderes Beispiel zu nehmen: Auch wenn man grob fahrlässig handelt und dabei den Tod eines Menschen billigend in Kauf nimmt und es dann nicht zu dem Tod kommt, wird man ja nicht wegen grob fahrlässiger Tötung angeklagt (glaube ich). Wenn man nur mit 50% Wahrscheinlichkeit jemanden getötet hättte und es nicht dazu kam, dann ist man nicht halb schuldig des Totschlags.

Ethisch dagegen: Doch. Für vielen Coronatoten tragen die Impfverweigernden schuld. Nicht alle an einem, oder einem Viertel, ein Hunderttausendstel vielleicht . 18 Millionen impffähige Ungeimpfte für einige hundert Tote pro Tag. Ich nenne das stochastische Verantwortlichkeit. Das ist, wie wenn die Verschwörer Lose ziehen, wer jetzt einen Anschlag ausführen muss.

Wie verwerflich ist das? Da fängt für mich das Werturteil und Gewichten an. Denn allein durch meinen Lebensstil und mein Verhalten, meinen Konsum, meinen Energieverbrauch, meinen vermeidbaren CO2-Ausstoß bin ich ja ohnehin mitverantwortlich für den Zustand der Welt, für Klima, Armut, Hunger, Todesfälle in Fabriken, die für mich produzieren. Aber nur ein bisschen, und nur weit weg. Und ich mache ja auch ein bisschen Gutes. Und damit muss und kann ich leben, unter Zudrückung beider Augen. Verhalten ist immer ein Kompromiss zwischen dem eigenen Wohlergehen und dem anderer – sonst könnte man nicht mehr aus dem Haus treten und wir müssten alle wie Sankt Martin wirklich unsere Mäntel teilen. Aber zu leugnen, dass das alles so ist – das verstehe ich nicht.


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Kommentare: 16

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Kommentare

16 Antworten zu „Stochastische Verantwortlichkeit“

  1. Katrin

    Ich bin da ganz bei Ihnen. Und diese horrend hohen Inzidenzwerte müssten jetzt echt nicht sein! Das macht mich sehr wütend. Wütend machen mich aber auch die Geimpften (ich bin selbst durchgeimpft und bekomme im Januar meine Boosterimpfung), die meinen, nicht mehr vorsichtig sein zu müssen, weil sie ja geimpft sind. Abstände werden nicht mehr eingehalten, auf das Maskentragen teilweise verzichtet. Auch als Geimpfter oder Geimpfte kann man ansteckend sein und auch angesteckt werden. Und auch wenn der Verlauf wahrscheinlich nicht so schwer ist wie bei Ungeimpften, ich möchte bitte gar nicht erkranken oder auch nur das Virus in mir tragen. Niemand weiß, was das Virus langfristig bewirkt im Körper. Auch andere Viren haben Langzeitwirkungen (z.B. Krebs), die man nicht haben möchte. Wirklich nicht! Daher verstehe ich überhaupt nicht, was so schlimm ist am Abstand halten, ausreichend Lüften und Maske tragen.

  2. Die meisten Geimpften, die ich kenne, sind erfreulicherweise weiterhin vorsichtig, und die ganze Zeit über gewesen. Nicht so vorsichtig wie nur irgend möglich, mich eingeschlossen, aber doch zu meiner Zufriedenheit. (Ich war dann auch leider nicht bei der Ukulelenrunde gestern.)

  3. Her ICE-Fahrer

    Sehr klare Worte, denen ich voll zustimme. Danke dafür! Aber wie kann man die Ungeimpften doch noch zur Impfung bewegen? Für Argumente sind die meisten nicht mehr zugänglich und eine Impfpflicht wird ihren Widerstand eher noch verstärken, fürchte ich. Außerdem kaum zu kontrollieren ohne weitreichende Eingriffe. Ich sehe gerade keinen Ausweg aus der Situation.

  4. Danke. Ich mag den Gedanken einer „stochastischen Verantwortung“ sehr, er gibt lange gedachten Gedanken einen sehr knackigen Namen.

  5. Johanna

    „Ich bin gesund und stecke niemanden an“ wird ja definitiv nicht so bleiben.
    Wer nicht geimpft ist wird sich demnächst infizieren.

  6. -thh

    „Auch wenn man grob fahrlässig handelt und dabei den Tod eines Menschen billigend in Kauf nimmt und es dann nicht zu dem Tod kommt, wird man ja nicht wegen grob fahrlässiger Tötung angeklagt (glaube ich).“

    Grundsätzlich korrekt. Strafrechtlich gesehen kann man nur Vorsatztaten versuchen; fahrlässiges Handeln, das nicht zum „Erfolg“ führt, also den Tatbestand einer einschlägigen Strafnorm verwirklicht, ist straflos. Eine Bestrafung wegen fahrlässiger Tötung setzt zunächst voraus, dass jemand tot ist; ist das nicht der Fall, kommt es auf alles andere nicht mehr an.

    (Wer allerdings den Tod eines Menschen als möglich erkennt und billigend in Kauf nimmt, der handelt – strafrechtlich – nicht fahrlässig, sondern bedingt vorsätzlich, es geht dann also nicht um fahrlässige Tötung, sondern um versuchten Totschlag, und der ist strafbar. Daher „grundsätzlich korrekt“. :))

  7. >Aber wie kann man die Ungeimpften doch noch zur Impfung bewegen?
    Ich weiß nicht. Ich habe aber Hoffnung. (Wegen Naturell.) Diejenigen, die protestieren wollen, die kriegt man nicht; der Rest durch Impflicht.

    >Wer nicht geimpft ist wird sich demnächst infizieren.
    So ziemlich, aber wohl auch nicht alle. Bis zur Herdenimmunität dauert es ohne Impfung lange, und wenn sie mal da ist, gibt es einen Teil, der sich nicht infizieren wird. Irgendwann kippt das exponentielle Wachstum in logarithmisches. Aber viele werden sich infizieren, das ja.

    > Daher “grundsätzlich korrekt”. :)
    Ah, danke! Ich hatte schon Verdacht, dass da etwas nicht ganz stimmt.

  8. War Pony

    Das grundsätzliche Problem scheint zu sein, dass Menschen in unserem Land ihre individuelle Freiheit für Demokratie halten. Zugleich ist die Demokratie bisher nicht in der Lage gewesen, dieser Minderheit klar zu machen, dass Minderheitenrechte keineswegs die Gefährdung der Mehrheit und ihrer Freiheit rechtfertigen. Welche Alternativen zum Ruf nach der Staatsmacht oder zur Hoffnung auf die Wirksamkeit der Aufklärung gibt es?

  9. Lieber Th.,
    ich habe dem einen Musikfreund, der sich nicht impfen lässt und dessen alte Eltern größte Sorge haben, den Link zu Deinem Beitrag geschickt. Er bekommt seit Tagen von mir Post, aber ich erhalte keine Antwort – er weiß wohl, dass er Argumente, die auf Wissenschaft basieren und nicht auf Glauben, nicht entkräften kann.
    Er ist der einzige im näheren Umfeld, die um drei oder vier Ecken sind mir egal, sollen sie sich infizieren – leider auf Kosten der Behandlungsbedürftigen.
    Leid tun mir seine Eltern, die sich sehr sorgen. Der Vater ist der Freund, dem ich schon 65 Jahre verbunden bin, bei der Mutter sind es etwas weniger Jahre.
    Und – man mag es nicht glauben: Der Impfverweigerer trägt vor sich stolz den Titel „Dr. rer. nat.“.
    Ich hab`s so satt, ich mag darüber nicht mehr reden.
    Dank jedoch für Deinen Beitrag.

  10. @ War Pony:
    Leider ist es keine Minderheit – es ist ein Drittel der Bevölkerung, die sich impfen lassen kann.

  11. >Welche Alternativen zum Ruf nach der Staatsmacht oder zur Hoffnung auf die Wirksamkeit der Aufklärung gibt es?

    Ich setze auf diese beiden Optionen. Anderswo geht’s ja auch. Wie bei den Klassenclowns, die den Unterricht und der anderen stören, Energie von Lehrkräften und der Klasse abziehen und für sich beanspruchen, um die wir uns viel kümmern. Bei manchen wächst es sich raus, aber alle kann man nicht retten.

    >Dank jedoch für Deinen Beitrag.
    Gerne. Vielleicht hilft es ja etwas, uns, oder anderen.

  12. […] Stochastische Verantwortlichkeit […]

  13. Sehr schön. Danke.

  14. […] H. eskaliert und Herr R. findet kluge […]

  15. Martin

    In der Tat sehr schön formuliert, verleiht meinen Gefühlen für diese Nicht-Impfer in bissl ein rationales Gerüst.
    Danke für den Text

  16. […] Herr Rau über (stochastische) Verantwortlichkeit. […]

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