Die Einleitung
Innovative Prüfungskultur: Wie könnte man Prüfungen neu gestalten, indem man neu denkt, oder neue Umstände hinzukommen (wie Distanzunterricht) oder neue technische Möglichkeiten (wie Videokonferenzen, oder Tablets)? Gestern war ich auf einer Fortbildung dazu für das Fach Deutsch. Dort wurde ein Konzept vorgestellt, das – neben vielen anderen – im Rahmen eines Schulversuchs erprobt wird. Bei solchen Schulversuchen kann man über die Grenzen der GSO hinausgehen. (Und über die Grenzen der KMS-Dienstvorschriften: Deutsch-Aufsätze etwa sind fürs Gymnasium regelmäßig peinlich genau in solchen geregelt, für die Realschule wohl gar nicht, da gelten nur Lehrplan und GSO. Ein Traum.)
Im Prinzip ging es darum, die Schüler und Schülerinnen als Prüfung erst einen Aufsatz schreiben zu lassen, den einzusammeln und eine Woche danach den ursprünglichen Aufsatz + Feedback zurückzugeben mit dem zweiten Teil der Prüfung: das Feedback einzuarbeiten. Die Note errechnet sich dann aus der Qualität des ursprünglichen Aufsatzes und der Art und Weise, wie das Feedback (und hier nur das) umgesetzt wurde. Das lässt sich auch alles ohne Computer machen, aber digitale Werkzeuge machen das Austeilen, Einsammeln, Korrigieren, Verwalten sehr leichter, auch wenn die Aufsätze weiterhin auf Papier geschrieben wurden.
Gewinn: Selbstvertrauen und Zuversicht der Schülerinnen und Schüler. Mittelfristig wohl kein Ziel dabei ist das Schreiben am Rechner.
Ohne diese Feedbackkultur, die neben dem Produkt auch den Prozess bewertet, und die natürlich geübt werden muss, stellt es dieser Twitterbeitrag für das Fach Englisch vor:
#twlz Klassenarbeiten müssen nicht nur klassisch oder nur alternativ sein. Hier ein Vorschlag für eine hybride #Klassenarbeit in #Englisch. Teil 1 paper&pencil, Teil 2 #OpenBook & #digital gemäß der #4K. #prüfungskultur pic.twitter.com/RwgfbcCKhn
— Schulentwickler (@schulentwicklr) May 28, 2022
Gemeinsam ist beiden Ansätzen die Mehrteiligkeit der Prüfung: Es wird nicht alles auf einmal geschrieben. Das gefällt mir alles sehr gut. Und ich hoffe, dass sich die Rahmenbedingungen für mein Fach einmal ändern werden, so dass ich das auch machen kann, weil ich glaube, dass dabei viel gelernt wird.
Aber spielt unter den gegenwärtigen Umständen keine Rolle für mich. Das heißt bei den Aufsätzen ja, jeden Aufsatz zweimal zu korrigieren. (Und die Übungsaufsätze wohl auch.) Wer so etwas Sinnvolles möchte, muss mich dafür entlasten: Schon jetzt nehmen die traditionellen Aufsätze eine unverhältnismäßig große Rolle im Deutschunterricht am bayerischen Gymnasium ein, weil mehr oder weniger nur sie als Deutsch-Schulaufgaben möglich sind.
Der Ist-Zustand
Schulaufgaben: So heißen in Bayern große angekündigte Prüfungen. Man schreibt im Fach Deutsch, wenn es vierstündig ist, 4 Stück im Jahr, und traditionell sind das immer ganze Aufsätze, so zwischen knapp zwei Seiten am Anfang und zehn später.
Müssen Schulaufgaben immer Aufsätze sein? Die Gymnasiale Schulordnung GSO sagt: „Im Fach Deutsch sind Diktate oder grammatische Übungen als Schulaufgaben nicht zulässig.“ Das heißt dann wohl ex negativo, aber eben nicht explizit, dass das nur solche Aufsätze sein können. Denn was gäbe es sonst außer Aufsätzen, Diktaten und grammatischen Übungen? (Natürlich gibt es da viel; ich will lediglich darauf hinweisen, dass bei der GSO-Erstellung sicher nicht viel Phantasie im Spiel war.)
Die Bayerische Schulordnung BaySchO deutet das in einem Modus-Anhang mit drei zusätzlichen Optionen an: „Debatte ersetzt je eine Schulaufgabe (Aufsatz)“ oder „Präsentation ersetzt eine Aufsatzschulaufgabe“ oder „Test aus formalsprachlichen und Sprachverständnisanteilen in Deutsch ersetzt eine Aufsatzschulaufgabe“. Diese Aufzählung scheint mir als abgeschlossen gedacht, Aufsatzschulaufgabe als regulär gesetzt.
Es ist zwar außerdem in keiner Schulordnung definiert, was eine „schriftliche Schulaufgabe“ ist, egal in welchem Fach, dennoch gilt laut GSO: „Pro Fach kann höchstens eine Schulaufgabe durch andere gleichwertige Leistungsnachweise ersetzt werden.“ Käme ich damit durch zu sagen, dass meine eigene Prüfungskonstruktion einfach nur eine andere Form der Schulaufgabe ist, und es damit ja auch gar nicht um den Ersatz einer Schulaufgabe durch etwas anderes geht?
Und dann gibt es – nur für das Gymnasium – noch die KMS, die über Schulordnung und Lehrplan hinaus weiter einschränken und festzurren, was eine Schulaufgabe im Fach Deutsch ist: Nämlich tatsächlich und nur so ein Aufsatz, so wie wir ihn alle aus der Schulzeit kennen. Zähneknirschend wird zur Kenntnis genommen, was im Modus-Anhang als Optionen steht, aber lieber wäre es dem Ministerium, davon keinen Gebrauch zu machen, sondern bei den Aufsätzen zu bleiben.
Und solange wir bei den Aufsätzen bleiben, sehe ich keine Möglichkeit für ernsthaft innovative Prüfungsformen.
Die Gründe:
- Die Aufsätze machen zu viel Arbeit. Ich kann es mit meiner dienstlichen Verpflichtung, mir meine Gesundheit und Arbeitsfähigkeit zu bewahren, nicht vereinen, über diese elendiglichen Aufsätze und ihre Vorbereitung hinaus mehr Prüfungen zu schreiben als nötig. Ohne Prüfungen aber keine Prüfungskultur. Innovativ mache ich dann lieber ohne Prüfung.
- Die Aufsätze haben ein zu hohes Gewicht. Sie zählen so oder so zwei Drittel der Note, egal was ich sonst Innovatives an Notengebung mache. Und weil sie so viel Gewicht haben und so oft geschrieben werden, dominieren sie den Unterricht.
Das Kultusministerium erinnert in seinem letzten KMS zwar daran, dass „die Erhebung weiterer kleiner Leistungsnachweise im Verlauf des Schuljahres dazu beitragen, im Rahmen der Jahrgangsstufentests erzielte Leistungen ggf. zu relativieren bzw. auszugleichen,“ scheint also eine Vielzahl an Prüfungen gutzuheißen, aber wieso soll ich die Schülerinnen und Schüler mit noch mehr Leistungsnachweisen triezen?
Eine kleine Einschränkung: Was doch geht
Ja, man kann auch mit den Schulaufgaben innovativ sein, oder innovativlich. Schulaufgabe mit Gruppenarbeitsphase (wobei die Note letztlich doch nur auf dem einzeln geschriebenen Aufsatzergebnis beruhen darf, weil ansonsten Einzelleistungen nicht bewertbar sind); habe ich schon gemacht. Schulaufgabe, bei dem der Themenbereich vorher schon bekannt ist, für den einzeln oder gemeinsam Material gesammelt wurde. Auch schon gemacht, aber benotet wird nur der Aufsatz, und dann kann man doch das Material aus dem Buch nehmen statt selber sammeln zu lassen. Das Recherchieren ist dann ja schön und gut, eine separate Fähigkeit, ändert aber nur wenig an dem, was die Note dann ausmacht, dem Aufsatz.
Man könnte Aufsätze zu Hause schreiben lassen, so als ganz kleine Facharbeit, am heimischen Rechner oder dem in der Bibliothek, mit aller Möglichkeit des Überarbeitens und Zeiteinteilens! Moment, nein, könnte man nicht; das gab’s früher und ist dann gestrichen worden, wahrscheinlich aus juristischen Gründen.
Und man kann eben 1 Schulaufgabe durch etwas anderes ersetzen, das tatsächlich innovativ ist, sofern man es als Debatte oder Präsentation verkaufen kann. Auch schon gemacht, also die Präsentation. Ein Vorschlag: Statt Referaten übers Jahr verteilt Präsentationsschulaufgabe. Klartext: 1 Schulaufgabe weniger, und das Referat zählt mehr, das man vielleicht ohnehin gemacht hätte. Des Kollegen Ergänzung: Diese Präsentationsschulaufgabe ausführlich vorbereiten lassen und dann per Video zuhause nur für die Lehrkraft (und eventuell weitere Interessierte?). Bedenkenswert.
Und man kann innovativ sein, indem man die SuS die Schulaufgabe im Computerraum schreiben lässt, also freiwillig jedenfalls, wobei man darauf achtet, dass diejenigen, die lieber handschriftlich schreiben, nicht durch das Klacken der Tastatur benachteiligt sind, und auch nicht dadurch, dass sie nicht so gut tippen können, etwa weil sie weniger Informatikunterricht haben und seltener am Rechner arbeiten. Ja, auch das habe ich schon gemacht. Scheint mir noch das Innovativste, und das finde ich traurig.
Und man kann die SuS ihre Unterlagen verwenden lassen, open book exam. Alter Hut, sicher noch nicht genug verbreitet, aber auch nicht unüblich. So zeitgemäß sind die Schulen mitunter schon.
Der Elefant im Zimmer: Das Abiturformat
Die Lehrpläne sind innovativ genug, lassen jedenfalls Freiraum. Die Aufsatz-Vorschriften tun das nicht. Und das Abitur, auf das wir ja auch vorbereiten sollen (wäre ja schön, wenn die SuS nur etwas lernen sollten, aber man muss ja auch aufs Ende sehen), das ist es überhaupt nicht.
Die mögliche Zukunft
Aufsätze streichen. Ganz. Oder von mir aus: 1 Schulaufgabe im Jahr ist eine Aufsatzschulaufgabe, der Rest prüft anderes. Oder überhaupt nur 2 Schulaufgaben pro Jahr statt 4 – das reicht völlig.
Was man da Zeit sparen würde! Wie man die sinnvoll nutzen könnte! Zum Beispiel zum tatsächlichen Schreibenlernen. (Das lernt man bei Schulaufgaben ja nicht. Grammatik auch nicht.)
Kommentator Peter Ringeisen hat diesen Zustand so beschrieben:
Ich sehe dem Blogeintrag über den Verzicht auf Aufsatz-Schulaufgaben mit Vergnügen entgegen! Die Spannungsmaus fiept schon ganz ängstlich unter dem Sofa hervor, und der persönliche Brief mit argumentierendem Abschluss vibriert auf der Schreibtischplatte, ja scheint kurz vor der Explosion zu stehen … oder vor der Exposition? Egal, es gilt ja noch Inhalte strukturiert wiederzugeben und dialektisch angelegte Erörterungen in konjunktional verwebten Abfolgen von Behauptung, Begründung, Beispiel und Rückbezug zu schreiben, ohne die die Schreibkünste ganzer Generationen degenerierte. Oder nicht? Bis zum Essay hinauf hangeln sich dann die Genies unter den Germanophilen, wo sie im Elysium der sprachlichen Bilder, pointierten Formulierungen und geschmeidig, aber rezipientenbezogen dargebrachten Statements brillieren.
Wie? Och ja, man könnte auch mehr lesen. Oder mehr Theater spielen. Oder mehr diskutieren. Oder mehr Zeit für gründliche Grammatikarbeit nutzen. Oder für die Erweiterung des Wortschatzes; inklusive der unregelmäßigen (oder auch starken) Verben.
Und dabei habe ich mich noch gar nicht zu den Abiturformaten geäußert. Dabei soll es auch bleiben.
Was man über Peters Vorschläge hinaus Sinnvolles mit der Zeit anfangen könnte, auch jenseits der im KMS vorgeschlagenen zusätzlichen Grammatikprüfungen, dazu schreibe ich jetzt nichts. Da fällt einem zu leicht etwas ein.
Bleibt die Gretchenfrage: Kann man etwas Schulaufgaben-Wertiges schreiben ohne dass das eine Aufsatz-Schulaufgabe ist? Also, wenn man dürfte und es bei vier Schulaufgabe bleiben müsste? Denn wenn Deutsch Kernfach bleiben soll, woran mein Herz übrigens nicht hängt, muss es ja weiterhin Schulaufgaben geben.
Sinnvolle Schulaufgabenformate, die nicht Aufsätze sind
Jetzt müsste ich eigentlich liefern. Tatsächlich ist mir inzwischen der Gedanke, einfach die Anzahl der Schulaufgaben-Aufsätze zu halbieren, mindestens ebenso verlockend. Aber hier ist meine angefangene Liste, für die ich mich über weitere Vorschläge freue und selber welche hinzufügen werde, wenn ich dazu komme:
- Debatte. Schon jetzt als Modusmaßnahme möglich, aber nur einmal.
- Vortrag. Schon jetzt als Modusmaßnahme möglich, nur einmal; habe ich schon ausprobiert, funktioniert.
- Grammatikschulaufgabe. Sollte ein Selbstläufer sein.
- Analyse eines kurzen Texts auf Basis eines Kommunikationsmodells, Umfang 400 Wörter.
- Überhaupt, Umfang 400 Wörter: Da geht viel. Da lässt sich überprüfen, ob jemand etwas kann. Ich glaube, Lehrkräfte lassen gerne volle Aufsätze schreiben, nicht nur, weil sie das müssen, sondern weil sie Prüfungen als Gelegenheit zum Lernen sehen. Das sollte aber nicht sein.
- Das Klügste, was dir zu einem gedicht einfällt, in maximal 400 Wörtern.
- Stilmittelanalyse als Multiple Choice.
- Überhaupt, Sachen wissen, etwa in der Literaturgeschichte.
- C-Test wie in der Fremdsprache: Gibt den Leistungsstand wieder, taucht in Jahrgangsstufenarbeiten in der Fremdsprache ständig, in Deutsch nie auf. Das Problem: Man kann nicht so simpel darauf lernen wie das bei Aufsätzen theoretisch möglich wäre. Es misst nur die Leistung, und Aufgabe der Schule wäre es, diese Leistung zu ermöglichen – im Moment geschieht weder das eine noch das andere.
- Hörspiel schreiben und aufnehmen.
- Im Lehrplan gibt es je nach Jahrgangsstufe zum Beispiel vier Bereiche, wovon einer „Schreiben“ ist, und nur der wird geprüft. Die anderen, etwa „Sprachgebrauch und Sprache untersuchen und reflektieren“ oder „Sprechen und Zuhören“, spielen für Schulaufgaben kaum keine Rolle. Ist da nichts Wichtiges dabei? Die Schülerinnen und Schüler „erkennen und beurteilen sprachliche Klischees und diskriminierenden Sprachgebrauch“ – sollen sie als Schulaufgabe einen gegebenen Text verbessern und überarbeiten.
(Mehr wäre schön, aber ich muss jetzt anderes machen.)
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