Kirill Eskov, The Last Ringbearer (Stand 50%)

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Ich bin erst bei knapp der Hälfte des Buchs, will aber jetzt schon darüber schreiben. Ich darf das, es ist ein Blog. Mit Spoilern, aber nicht vielen.

Der Herr der Ringe aus der Sicht Saurons und der Orcs: So war mir das Buch beschrieben worden, das hatte ich erwartet. Die gleiche Handlung wie bei Tolkien, nur aus der Sicht des Schurken erzählt – voller Rechtfertigung, wie das bei Tyrannen nun mal so ist.

Tatsächlich war das Buch aber anders. Erwartet hatte ich eine neue Erzählweise der alten Geschichte, bei letztlich paralleler Handlung. Gekriegt habe ich herkömmliches Erzählen mit neuer Handlung. Das Buch ist eben nicht aus der Sicht der Orcs oder Saurons erzählt, sondern mit genauso allwissender Erzählinstanz wie bei Tolkien. Aber die Geschichte ist umgedeutet, die groben Fakten aus dem Herr der Ringe sind belassen, aber die Personen haben andere Motive, andere Charaktere. Der überlieferte Herr der Ringe ist sozusagen die verzerrte Propagandafassung der Sieger, während sich in Wirklichkeit vieles ganz anders dargestellt hat. Die größten Unterschiede sind:

  • Die Orcs sind nicht böse, sind nicht einmal Monster, nur halt Menschen aus Mordor, denen man ihre Herkunft ansieht. Der besiegte Sauron ist nicht auf Weltherrschaft aus gewesen. Die Kultur von Mordor ist anders als der Rest von Mittelerde, setzt nicht auf Magie, sondern auf Technik – Dampfmaschinen gibt es schon, bald werden sie Schießpulver haben, mit Elektrizität und Luftfahrzeugen wird experimentiert.
  • Gandalf sieht genau das als Gefahr für Mittelerde, überzeugt den Rat der Magier, dass es das beste ist, gegen Mordor und die Orcs vorzugehen. Saruman spricht es deutlich aus: es geht um die völlige Vernichtung Mordors. Radagast ist nutzlos, wie immer.
  • Gandalfs williges Werkzeug dazu ist Aragorn, der König werden will. Außerdem nutzt er dazu die Hilfe der Elfen, die quasi von einer anderen Welt stammen und gar nicht so nett sind.
  • Der letzte Truchsess (Steward) von Gondor, Denethor II, hat sich wohl nicht selbst angezündet, sondern da wurde im Auftrag von Aragorn nachgeholfen; Faramir und Éowyn als Gast/Geisel/Marionettenfürsten nach Ithilien abgeschoben.
  • Aragorn wird König von Arnor und Gondor. Er ist in der Tat mit Arwen verheiratet, aber nur pro forma – eigentlich ist Arwen die heimlische Herrscherin. (Eine Paarung von Elfen und Menschen wäre wie Geschlechtsverkehr mit Tieren für Menschen.)
  • Die ganze Ring-Geschichte ist eine Fiktion, eine Lüge, Propaganda. Es gibt einen Ring, aber der ist fake.

Das ist die Handlung am Ende des Dritten Zeitalters, nur heftig umgedeutet. Zeitlich danach setzt The Last Ringbearer erst ein, kleinere Rückblicke vermitteln uns die Vorgeschichte. Erzählt wird in der ersten Hälfte ein wenig anhand von Faramir und Eowyn, aber hauptsächlich geht es um einen kleinen Soldaten und einen Arzt aus der Orc-Armee, um Edelleute und Spione aus Gondor, die den Krieg gegen Mordor ungewollt mit ermöglicht haben, und um einen großen Plot, der Ringgeschichte vergleichbar, um vielleicht doch noch die Herrschaft der Elfen loszuwerden. Spätestens mit dem Auftauchen des Nazgûl ist dann der Reiz auch nicht mehr, oder nicht mehr hauptsächlich, oder nicht mehr für mich, die Gegengeschichte zum Herr der Ringe, sondern das ganze wird dann für mich ein eigenständiger Fantasy-Roman. Realistischer als das Vorbild, weniger episch, keine Minen von Moria, keine ewigen Wälder und Gebirge, wenig Überlandreisen, mehr taktisches Kleinklein. Aber solide geschrieben, gar nicht schlecht. Kirill Eskov ist ein russischer Biologe und Paläntologe, der auch einige Romane geschrieben hat.

Natürlich kann ich nicht anders als das Buch vor dem Hintergrund des völkerrechtswidrigen barbarischen Kriegs Russlands lesen. Eine als brutal und unmenschliche gescholtene Nation, Verlierer in einem Krieg, erklärt, dass es in Wirklichkeit ja ganz anders war, und alle bösen Eigenschaften, die in der Ursprungsgeschichte ihr zugeschrieben wurden, finden sich plötzlich beim Gegner: Gondor kennt bürokratische Schreiben zum Umgang mit Volksverrätern („Amendment No. 1 to the Royal Decree 3014-227: No extension of amnesty for the criminals wishing to defend the Motherland to those guilty of crimes against the state“), kennt manipulative Verhöre (“Let the record reflect: suspect Tangorn admits planning to switch to the enemy’s side and didn’t do it only because of circumstances beyond his control”) und Schauprozesse („This charade has been dragging on for two weeks already. Not that the spies’ guilt or their impending sentence were in any doubt on either side; it was just that Gondor had the rule of law. This meant that a person out of favor could not be simply sent to the gallows with only a flick of the royal wrist; proper formalities had to be observed“). Gondor stilisiert sich zum Opfer, ist aber tatsächlich genozidaler Kriegstreiber – so wie Russland vielleicht den Westen sieht. Das klingt schon ein bisschen nach Projektion. Oder ist es am Ende verhaltene Kritik am eigenen System? Das Buch war beim Erscheinen in Russland sehr erfolgreich. Am Schluss wird Mordor siegen, weil Gondor wieder den richtigen Herrscher hat.

Meine Meinung zum Herrn der Ringe: Erstens ein unerreichtes Meisterwerk, letztlich durch die Vorarbeit des Silmarillion. Zweitens in Teilen langweilig, insbesondere in der Mitte. Drittens interpretatorisch schwierig – die Bedrohung aus dem Osten, die Abwesenheit von Frauen, die Orcs als Wesen, die ohne schlechtes Gewissen umgebracht werden können. (Hier etwas zu Orcs und Rassismus.)

Ist das etwas für die Schule? Das Buch ist nicht kurz, wenn auch nicht vom LotR-Umfang; die englische Übersetzung ist kostenlos erhältlich, wenn man danach sucht, weil die LotR-Rechteinhaber einer kommerziellen Ausgabe wohl sehr, sehr kritisch gegenüberstehen. So etwas Semilegales, Kostenloses hätte schon einen gewissen Reiz. – Erzähltheoretisch gibt es Vergleiche auf moderner Ebene: die Kriegselefanten (Mûmakil) werden mit Panzern verglichen, die Werkzeuge der Spione der Handlung mit „micro-cameras and noise-suppressed pistols“ und mit „analysts diligently combing newspapers, stock market reports, and other openly
available sources“. Zwischendrin ein bisschen Textdiskurs, „the world is text“ wird mehrfach zitiert und das Verhältnis Autor-Leserschaft-Interpretation, Éowyn überlegt, wie sie sich von einer späteren fiktionalisierten Fassung ihrer selbst unterscheiden könnte.

Übersetzung der englischen Fassung: Yisroel Markov.


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2 Antworten zu „Kirill Eskov, The Last Ringbearer (Stand 50%)“

  1. Danke sehr! Die mythische Welt mit Schwarz und Weiß hat etwas schön Beruhigendes, zumal wenn sie dann noch umgedreht dargestellt wird und der Ausgang nach der anderen Seite auch wieder ein Happy End ist.
    Ärgerlich nur, wenn die schwarze Welt, die man mühsam als weiße zu sehen gelernt hat, auch als weiße Welt (der Guten) wieder schwarz wird, weil sie in die alten Methoden der Verteufelung des Gegners zurückfällt.
    Zu dumm, dass die Realität so viele Farben und Schattierungen kennt.
    Mythen als Welterklärung haben echt ihre Vorzüge.

  2. […] Wichtige zu diesem Buch steht im ersten Blogeintrag, hier nur ein paar nachträgliche […]

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