Paul Féval war ein damals durchaus sehr bekannter französischer Autor des 19. Jahrhunderts; er schrieb Abenteuer- und Kriminalgeschichten und auch drei Vampir-Romane, alle vor Stoker. La Ville-Vampire erschien 1875, entstand aber vielleicht schon 1865. Es kursieren (auch bei Amazon) grottenschlechte automatisierte, fehlerhafte Übersetzungen; ich habe die Übersetzung von Brian Stableford aus dem Jahr 1999 gelesen.
(Stableford kannte ich nur als Science-Fiction-Autor, aber er arbeitet auch akademisch und literaturkritisch und vor allem als Kenner des französischen roman scientifique des 19. Jahrhunderts, von denen er laut Wikipedia 180 übersetzt hat. Vampire City wirkt äußerst kompetent übersetzt. Dazu ein ergiebiges Nachwort.)
Der Roman gilt als Parodie auf die englische gothic novel, Ann Radcliffe und so, deren Glanzzeit zwar ein Dreivierteljahrhundert her war, die aber immer noch und immer wieder aufgelegt wurden und (trivialisierende) Nachahmer fanden. Aber nicht nur altes Material wurde nachgedruckt, bearbeitet oder nicht, englische Verlage bedienten sich auch gerne an französischen Vorlagen, ohne groß auf Urheberrecht und Lizenzen zu achten. Und so beginnt Vampire City mit einem Seitenhieb auf englische Veröffentlichungspraktiken. Gleichzeitig bedient sich Féval eben auch selber bei Vorlagen: zumindest macht er Ann Radcliffe zur Heldin seiner Geschichte.
Es gibt eine kleine Rahmenhandlung, in der eine entfernte, fast hundertjährige Verwandte von Radcliffe dem fiktiven Herausgeber die Geschichte erzählt, wie sie ihr seinerzeit von Radcliffe selber offenbart wurde. Und zwar ist diese Geschichte recht abenteuerlich. Es gibt reichlich gotische Elemente: Radcliffes Jugendfreund Edward wird heiraten, gleichzeitig mit ihr, da wird seine Braut Cornelia entführt, die plötzlich Erbin geworden ist; und zwar entführt vom gräflichen väterlichen Freund, der seinerseits im Bann einer teuflischen Schönen und eines noch teuflischeren Osteuropäer steckt… der sich außerdem als Vampir herausstellt.
Radcliffe macht sich auf, ihrem Freund und dessen Verlobter zu helfen, und sammelt nach und nach diverse Mitstreiter ein, die wie eine Rollenspiel-Abenteurergruppe wirken:
- Ann Radcliffe selber (heroisch, von der Binnenerzählerin immer als „our Anna“ bezeichnet; selbst kaum aktiv)
- Grey Jack, getreuer Dienstbote Radcliffes
- Merry Bones, irischer Draufschläger, gehört zu:
- Edward Barton, Verlobter der zu rettenden Cornelia
- Polly Bird, Farmerstochter, einst vom Vampir getötet und jetzt dessen Körperdouble lenkend
- der Arzt Magnus Szegeli und ein namenlose Maler (weil Photographie noch nicht erfunden), beide schnell rekrutiert und schnell an die Vampire verloren, typische NPC-Begleiter
Insgesamt gibt es bis auf das etwas ungewöhnliche Finale gar nicht so viel zu tun für unsere Helden, das Abenteuer ist sichtlich auf eine etwas kleinere Gruppe ausgelegt. Dennoch, zwischendrin sehr stimmungsvoll die namensgebende Stadt der Vampire: in Osteuropa, nur zu finden, wenn man einen Vampir bei sich hat, auch am hellichten Tag umgeben von Nacht, und innendrin eine riesige Nekropole. „Cyclopean“ erscheint nur einmal, aber wenn das ganze frisch aus dem Meer aufgetaucht gewesen wäre, hätte Cthulhu sich wohl gefühlt dort:
The desolate city which surrounded our friends was entirely devoid of life, color and movement. Their spirits were overwhelmed by the silence and the spectral splendor of its marvelous scenery, whose melancholy richness was unparalleled and indescribable.
Das Herz des Romans sind die Vampire, die einen großen Teil der Groteskerie ausmachen. Die Vampire saugen das Blut durch ihre Zungen, benutzen 24-Stunden-Uhren, aber vor allem werden ihre getöteten Opfer nicht einfach zu Vampiren – sie werden, hm, zum einen umgewandelt in andere Menschen- oder Tiergestalten, und sind in dieser Form quasi externe Teil des Vampirs. Der Vampir kann diese Gestalten wieder in sich aufnehmen und wieder aussenden. Er verwandelt sich also nicht selbst in eine Fledermaus, sondern kann eine Fledermaus (vormals: getötetes Opfer)… absondern? Und obendrein kann der Vampir von sich selber, und können die Sub-Vampire von sich selber, Doppelgänger erzeugen. So kann ein Vampir nach Belieben als Einzelgestalt auftreten oder als Gruppe oder als doppelte Gruppe. – Wer diese Féval-Vampire im Rollenspiel verwenden will, für die gibt es bei Pelgrane Press eine Anleitung zur Umsetzung, in der die speziellen Fähigkeiten und Eigenschaften aufbereitet werden.
Es gibt jede Menge groteske Szenen. Der Ire im Kampf gegen Vampirhorden, bewaffnet mit einer geschärften Suppenquelle Suppenkelle und der Asche eines getöteten Vampirs (die bei Kontakt zu lebenden Vampiren zu Explosionen führt, was rollenspielhaft geschickt eingesetzt wird, um ein verschlossenes Tor zu öffnen). Sticheleien auf die Plots und stilistischen Eigenheiten Radcliffes, oder der Engländer überhaupt. Aber so sehr parodistisch fand ich den Roman gar nicht. Die Vampire sind in einer Zeit, bevor Bram Stoker die uns vertrauten Aspekte kodifizierte, weniger absurd, als sie uns heute erscheinen; Bilokation und Doppelgängerei sind klassische Fähigkeiten des unheimlichen Bösen. Insgesamt vergnüglich zu lesen.
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