Jemand empfahl mir bei Mastodon dieses Buch, und weil es interessant klang und ich es, da schon lange gemeinfrei, ohnehin bereits auf Festplatte hatte, habe ich es gelesen – und weil mein Lexikon der Science Fiction Literatur (Alpers, Fuchs, Hahn 1984) über den Autor schreibt:
bei allem schuldigen Respekt, eine der kuriosesten Erscheinungen der Berliner Literaturszene Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, ein anarchistischer Pantoffelheld, ein derber Biertrinker von höchster Sensibilität

Der Roman, Untertitel „ein Asteroiden-Roman“, erschien 1913 und ist Scheerbarts bekanntestes Buch. Es ist nicht sehr dick, liest sich schnell, und interessant als Produkt einer Zeit, das ich einerseits so nicht erwartet habe, dass mich dann aber auch weniger überrascht hat, als es vielleicht müsste. Es gab schon seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Proto-Science-Fiction, Jules Verne etwa, um die Jahrhundertwende und bis nach dem ersten Weltkrieg in Großbritannien das Invasionsgenre (Krieg der Welten als eine Form davon), Sun Koh erschien ab 1933. Dazu noch ein bisschen expressionistische bombastische Zeitenwende, und man landet bei Lesabéndio.
Sprachlich gibt es drei Eigenheiten, an die ich mich in meiner Ausgabe gewöhnen musste:
- Scheerbar schreibt gern und oft „garnicht“, obwohl „gar nicht“ ja laut Eselsbrücke gar nicht zusammengeschrieben wird.
- Er schreibt „Asteroïden“ immer mit Trema.
- Er nennt alles „Stern“, was ein Himmelskörper ist – Planeten, Monde, Asteroiden, die Sonne, alles Sterne, so wie im alten Wort „Wandelstern“ für Planet.
Wenn man sich dran gewöhnt hat, liest sich das dann flüssig. Die Handlung spielt durchgehend auf dem Asteroiden Pallas, irgendwo im Asteroidengürtel zwischen Mars und Jupiter. Dieser Asteroid ist von außen tonnen- oder zylinderförmig, vierzig Meilen hoch und dreißig Meilen im Durchmesser. Inwendig ist er ungewöhnlich: Er hat oben und unten ein riesiges Loch, das sich jeweils nach innen verjüngt, bis es in der Mitte auf das andere stößt. Heißt: eigentlich ist der Zylinder eine Röhre, oder eher: er besteht aus zwei Trichtern, jeweils mit dem dünnen Ende aneinandergeklebt. Und so gibt es einen Nordtrichter und einen Südtrichter und einen Durchgang dazwischen, wobei im Inneren dieser Trichter, an die Wände geklebt oder in Räumlichkeiten in der Trichterwand, die Pallasianer leben
Es gibt nur eine Passage zum Außenblick auf die Erdenmenschen, so wie später der Papalangi oder der Reisende aus der chinesischen Vergangenheit:
Entsetzt aber war ich durch die Ernährungsart der Erdbewohner; diese nehmen die Nahrung durch den Mund auf, bis ihr Leib aufquillt. Und das Furchtbarste war, daß sie andre Lebewesen töteten, zerschnitten und zerhackten und dann stück- und kloßweise in ihren Mund steckten; im Munde hatten sie steinharte Zähne, mit denen sie alles zermalmten.
Die Pallasianer sind dezidiert nichtmenschlich, wenn auch alle männlich. Sie vermehren sich, indem sie aus einer Art natürlich vorkommendem Ei schlüpfen, wobei der Schlüpfvorgang bewusst ausgelöst werden muss. Sie sterben, indem sie sich von einem anderen Pallasianer aufnehmen lassen. In dem haben sie kein Bewusstsein und keine Existenz mehr, aber ihre Eigenschaften formen dabei doch den Aufnehmenden in einem kleinen Umfang. Die Anzahl der Pallasianer ist nicht sehr hoch, lässt sich aber gut kontrollieren. Sie haben Rückenflügel und einen Saugfuß, können sich bis zu fünfzig Meter dehnen und eine Art Pseudopodien erzeugen; ihre Augen können sie zu Mikro- oder Teleskopen formen, wenn auch nur in geringem Ausmaß.
In diesen Apparaten spielten nur elektrische und magnetische Kräfte und diejenigen Kräfte, die mit diesen beiden eng verwandt waren, eine Rolle; das flackernde Feuer, das auf andern Sternen so vielfach in die Entwicklung eingriff, konnte auf dem Pallas nicht erzeugt werden; das lag an der eigentümlichen Komposition der Atmosphäre.
Technologisch sind die Pallasianer so weit fortgeschritten wie unter den gegebenen Umständen möglich: Es gibt Stahl und Stahlverarbeitung, Laufbänder zum Transport, Elektrizität und elektrische Prozesse, aber kein Feuer und kein Dampf; Flüssigkeiten sind selten. Man ernährt sich osmotisch vom auf den Felsen wachsenden Moos. Atmosphäre wird angesprochen, aber mit einer lockeren Handbewegung abgetan:
da selbst der Raum, der in dem Ringe, den die Asteroïden bildeten, scheinbar frei von jeder Atmosphäre war, doch durch besondere Stoffverbindung – eine vollkommen unsichtbare und nicht zu untersuchende – so warm blieb, daß er den Asteroïdenbewohnern nicht lebensgefährlich wurde.
Es gibt Ansätze zu der Frage, wie die Technologie unter diesen Bedingungen funktioniert, etwas weniger Ansätze zur Biologie. Pluspunkt: Die Pallasianer sind wirklich recht nichtmenschlich, und nicht nur Menschen mit komischen Körpern. Minuspunkt: So richtig wahrscheinlich wird das alles nicht gemacht, anders als bei echter Science Fiction, wie den Mars-Erfindungen von Stanley G. Weinbaum. Die Informationsvermittlung ist allerdings nicht so schlecht, wie diese selbstkritische Passage andeutet:
»Warum«, fragte nun Lesabéndio, »erzählst Du mir das? Ich weiß es doch. Und Du weißt, daß ich es weiß. Du weißt, daß das jeder Pallasianer weiß. Wo willst Du hinaus?«
Es gibt eine Art Tag und Nacht, ausgelöst durch eine Wolke, die sich über der nördlichen Wolke regelmäßig hebt und senkt. Und die weckt die Neugier vor allem eines Pallasianers, und das ist die eigentliche Handlung des Romans.
Lesabéndio will wissen, was hinter der Wolke ist. Er ist der Forscher und Entdecker. Andere Pallasianer haben andere Rollen: einer ist Künstler, einer Musiker, ein weiterer Ingenieur, einer züchtet Pflanzen, einer Geologe, einer ist der Chemiker oder Heiler. Der Ingenieur und andere Techniker helfen Lesabéndio bei der Verwirklichung seiner Vision: eine Art Turm zu Babel zu bauen, ein Stahlgerüst, mehrere Kilometer über den Nordtrichter hinaus, um sich der Wolke zu nähern. Durch Beobachtungen anderer Himmelskörper, die in Paaren oder Gruppen auftauchen, ist die Vermutung gewachsen, dass es jenseits der Wolke eine Art Gegen-Asteroiden gibt, der sozusagen dann den Kopf zum Pallas-Tonnenrumpf bilden würde.
Der Bau dieses Turms, die letztlich doch immer kleinen Schwierigkeiten dabei, und Hinweise auf das, was jenseits liegt, bilden den Hauptteil des Romans. Während am Anfang noch die Ästheten und Landschaftsarchitekten unter den Pallasianern am Turmbau beteiligt werden und erhoffen, zur Verschönerung oder Verbesserung ihres kleinen Asteroiden beizutragen und gebraucht zu werden, wird der Turm eine rein technologische Leistung, der sich alles andere unterordnet.
Zum Ende hin wird es dann esoterisch. Lesabéndio, die treibende Kraft hinter dem Turmbau, schleudert sich von der Spitze des Turms nach oben, durch die Wolke – und verschmilzt mit dem Himmelskörper dahinter;
Lesabéndio aber fühlte ganz anders als einst; er fühlte, daß er allmählich ganz zum Stern wurde. Die Interessen der Pallasianer berührten ihn nicht mehr. Er bemerkte auch, daß er abermals neue Organe bekam – mit der Atmosphäre seines Sterns konnte er allmählich sehen – die Atmosphäre wirkte auf allen Seiten für ihn wie ein kolossales Teleskop.
Davor wird viel von Tod und Schmerz und dessen Notwendigkeit schwadroniert.
Und es berührte dieses Neue alle Zuhörenden wie etwas Grausiges – noch nie Geahntes.
Tod und Schmerz werden überwunden durch die Unterordnung oder Einordnung in ein großes Ganzes.
Der alte Stern Pallas erwacht zu ganz neuem Leben. Das ist eine furchtbare Empfindung – so zu neuem Leben zu erwachen. Der große Zusammenschluß von oben und unten hat stattgefunden. Das ist auch vorbildlich für die anderen Asteroïden; sie haben auf den Pallas-Schmerz reagiert – ich habs gesehen – die Sonne zeigte sich auch dadurch bewegter. Wir sollen uns deshalb auch mehr zusammenschließen. Künstlerische Gegensätze dürfen uns nicht mehr einander entfremden.
Alles recht expressionistisch, mit Anklängen an 2001. Insgesamt war das eine kuriose Lektüre, die ich eingeschränkt empfehlen kann.
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