(Buchbesprechung mit minderen Spoilern.)
Kathy erzählt aus ihrem Leben: Wie sie in Hailsham mit Tommy und Ruth und den anderen aufwuchs, einer Bestimmung entgegen. Kathy ist carer, sie kümmert sich um ihre donors. Beides ist für Kathy so selbstverständlich, dass sie nicht darüber nachdenkt und dem Leser diese Begriffe auch nicht erklärt. So findet man sich nur nach und nach zurecht.
Aber auch für weniger geübte Science-Fiction-Leser ist das eine leichte Übung: Diese Kinder, students genannt, wachsen gängiger Praxis nach als geklonte und wandelnde Organreservoire für ihre Originale auf. In einer besonderen Schule abseits der anderen Menschen werden sie auf dieses Schicksal und ihre Sonderrolle vorbereitet und akzeptieren sie als ganz natürliche Bestimmung. Ausbrüche wie bei Logan’s Run stehen nicht zur Diskussion.
Das alles spielt sich im Hintergrund ab, vieles steht zwischen den Zeilen, darunter das wenige, was man über diese Welt erfährt („England, late 1990s“). Den Hauptteil bestreiten Kathys Erinnerungen an das gemeinsame Aufwachsen – Kindheitserlebnisse, Probleme als Teenager, Eifersüchteleien, Zuneigung, Wärme, Vertrauen, Ehrlichkeit, der kleine alltägliche Verrat. Alles vor dem Hintergrund der außergewöhnlichen, aber als normal akzeptierten Umgebung.
Später kommen die ersten Ausflüge in die Welt der anderen Menschen dazu. Auf diese Welt werden die Kinder nur oberflächlich vorbereitet, sie werden dieses Leben nie führen, nie in einem Büro arbeiten oder gar Reisen unternehmen.
Kathy ist nicht gerade die strukturierteste aller Erzählerinnen. Immer wieder greift sie voraus, verweist auf spätere Erklärungen. Das ist verständlich und betont die personale Erzählweise. Es führt aber dazu, dass ich mich unwillkürlich ein wenig ärgerlich frage, ob Kathy nicht vorher ein bisschen mehr überlegen hätte können, bevor sie diese Geschichte erzählt. Wann und wem erzählt sie überhaupt die Geschichte? Das frage ich mich bei vielen Romanen, je Ich-Erzähler, desto mehr.
Wiedererkannt von Remains of the Day habe ich die Erzählperspektive: Der Rückblick in die Vergangenheit, das Geschehen auf zweierlei Zeitebenen. Noch typischer das Motiv der Verleugnung, des Selbstbetrugs, der scheinbar freiwilligen und doch aufgezwungenen Selbstaufopferung.
Das Buch hat mir gefallen, aber dem allgemeinen Beifall kann ich mich nicht vorbehaltlos anschließen. Zum einen fand ich das Buch zu lang. Gute Idee, sehr gute Ausführung, aber nichts, was einen Roman erfordert. Eine Kurzgeschichte hätte gereicht.1
Zum anderen ist das Buch keine Science Fiction, und das gereicht ihm zum Nachteil. Es geht in diesem Buch trotz der Prämisse nicht ums Klonen, nicht um dessen Auswirkungen auf die Gesellschaft. Es geht überhaupt nicht um eine Gesellschaft. Es geht um Kinder, die ohne Eltern aufwachsen und sich in einer fremden Welt zurecht finden, um Liebe, Freundschaft und Beziehungen zwischen Menschen.
Science Fiction dagegen funktioniert so2: Man hat eine Prämisse, so wie hier: „Wie wäre es, wenn man Menschen klonen könnte und die Klone als Ersatzteillager in speziellen Schulen aufwachsen ließe, wo sie auf ihren späteren Gebrauch vorbereitet werden und ihn akzeptieren lernen?“ Und dann überlegt man, wie sich diese Kinder wohl fühlen. Aber man überlegt auch, wie die Gesellschaft mit diesen Klonen umgehen würde. Wie die Werbung aussähe, wer sich das leisten könnte – Luxus- oder Massenware? Man spielt immer weiter mit dieser Idee herum, bis man stolz dem Leser zeigen kann, was man alles gefunden hat. (Was man nicht überlegt, ist, wie das ganze technisch funktionieren könnte.)
Ishiguro beschreitet diesen Weg nicht, was sein gutes Recht ist. Ein paar Andeutungen in diese Richtung gibt es allerdings: So wird besonderer Wert auf die körperliche Gesundheit der Kinder gelegt. Rauchen ist für die anderen Menschen schon schlecht, aber für sie selber geradezu verwerflich, da sie sich ja gesund halten müssen für den Einsatz. Und in einem Kapitel zum Schluss erfährt man tatsächlich viel mehr über die Hintergründe der Welt als im Rest des Buches. Aber die Hauptsache ist das nicht.
Dann mal doch wieder mal Do Androids Dream Of Electric Sheep? lesen, auch wenn das einen anderen Schwerpunkt hat.
1 Ich musste mehrfach an diese eine Geschichte aus Ellisons Dangerous Visions denken. Längeres Blättern hat ergeben, dass es Again, Dangerous Visions Vol. 1 war: „In the Barn“ von Piers Anthony. 28 Seiten mit unvergesslichen Bildern. Auch eine Zuchtanstalt für Menschen. Danach möchte man Vegetarier werden.
2 Science-Fiction-Leser, zumindest zu meiner Zeit damals und in den Generationen zuvor, liebten es, Definitionen für Science Fiction abzugeben. Das macht Spaß und schärft den Verstand. Natürlich und zu Recht wird in jeder künftigen Literaturgeschichte der Science Fiction auch dieses Buch vertreten sein. Wir reißen uns alles unter den Nagel, was von der Literaturkritik anerkannt ist.
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