Enja Riegel kennt man zumindest dem Namen nach seit der internationalen PISA-Studie von 2001, in der fünfzehnjährige Schüler aller Schularten unter anderem auf Lesefähigkeit, Mathematik und naturwissenschaftliches Denken geprüft wurden. Inzwischen ist Enja Riegel pensioniert, aber damals leitete sie die Helene-Lange-Schule in Wiesbaden (Homepage/Wikipedia). Die Schule ist nicht nur eine Gesamtschule, sondern sonst pädagogisch sehr viel moderner und freier ist als die meisten anderen Schulen. (Und unter anderem eine Unesco-Projektschule, wobei ich mich noch nicht informiert habe, was das genau heißt.)
Im Urlaub habe ich ein Buch aus dem Jahr 2004 dazu gelesen, in dem die Schule vorgestellt wird:

Die erste Hälfte hat mich etwas genervt. Zum einen musste ich erst einmal den Neid überwinden, den ich verspüre, wenn jemand so tolle Sachen machen kann, macht, und damit so großen Erfolg hat. Da würde ich auch gerne mitmachen, denke ich, aber natürlich hält mich meine Trägheit in Wirklichkeit davon ab, auf die Suche nach einer solchen Schule zu gehen. Zum anderen ist der Tonfall einfach nicht der meine:
„Zeig mir doch mal dein Heft.“ Thomas, den der Lehrer, ohne dass die anderen es mitbekommen haben, nach der Stunde zu sich geholt hat, rührt sich nicht.
So beginnt das Buch, und diese kleinen Anekdoten und Fallbeispiele im Präsens mag ich nicht. Aber das ist Geschmackssache. Ein weiteres meiner Probleme mit dem Buch ist, dass ich wohl nicht das Zielpublikum bin. All die praktischen und technischen Fragen, die ich mir als Lehrer in Bayern am Gymnasium unwillkürlich stelle, wenn Riegel einzelne Projekte schildert, bleiben unbeantwortet.
Aber letztlich habe ich eingesehen, dass das Buch diese meine Fragen auch nicht beantworten will. Anders als der kleine Störer auf dem eher hässlichen Titelbild behauptet, ist es eben nicht „Eine konkrete Anleitung für bessere Schulen“. Sondern eine Beschreibung der Helene-Lange-Schule, nicht mehr, aber auch nicht weniger, mit gelegentlichen Ausflügen zur Geschichte der Schule und den Problemen, die bei der Umgestaltung der Schule zu bewältigen waren – zu wenig davon für meinen Geschmack. Wie man solche Reformen durchsetzt, das hängt aber auch von Fall zu Fall ab und ist in jeder Schulart, in jedem Bundesland, in jedem Kollegium anders. Riegel zeigt lediglich, wohin man kommen kann, wenn man nur will.
Zum Konzept der Helene-Lange-Schule, so wie es in diesem Buch dargestellt wird und ich es verstanden habe, gehören neben vielen weiteren Punkten auch folgende Rahmenbedingungen:
- Jeder Jahrgang (5-10) besteht aus vier Klassen mit jeweils 25 Schülern.
- Jede Klasse hat ein eigenes Zimmer, das nicht von anderen Klassen mitbenutzt wird und in dem auch möglichst oft die Fächer unterrichtet werden, die üblicherweise in Fachräumen stattfinden.
- Jeder Jahrgang hat einen gemeinsamen Raum und ein gemeinsames kleines Lehrerzimmer.
- Jede Klasse wird von einem Team von 8-10 Lehrern unterrichtet, die möglichst viel Zeit in dieser Klasse verbringen, also in möglichst viel Fächern eingesetzt werden, oft auch fachfremd.
- Diese Lehrer bleiben auch in den folgenden Jahrgangsstufen bei dieser Klasse.
- Die Stundentafel wird insofern geändert, als alle Fachunterrichte Stunden abgeben; dieser Pool wird für offenes Lernen und Projektarbeit eingeplant.
- Projekte und deren Präsentation spielen eine große Rolle im Schulleben.
- Die Lehrerteams einer Klasse sprechen sich ab und machen einen themenorientierten Jahresplan.
- Die Schule muss als Gesamtschule zwischen Leistungsgruppen differenzieren; dies geschieht nicht, wie eigentlich vorgesehen, in verschiedenen Kursgruppen, sondern durch Differenzierung im Unterricht (und zweierlei unterschiedlich schwierige Tests für die verschiedenen Schüler).
- Die Schüler putzen ihre Räume selber. Und eben nicht wie bei uns halbscharig und weil der Sachaufwandsträger kein Geld für Putzpersonal hat – im Gegenteil, das Putzgeld lässt sich die Schule von ihm auszahlen.
- Der Religionsunterricht findet nicht konfessionell getrennt statt.
Und was dergleichen Unmöglichkeiten mehr sind. Die Lehrer zeigen viel Einsatz, von Eltern wird das auch erwartet. Theater wird viel gespielt. Geld ist da, aber das verdient sich die Schule auch selber.
Ansonsten, und das ist das, was ich von dem Buch vor allem mitnehme, gelten für diese öffentliche Schule im Prinzip die gleichen Lehrpläne, Vorschriften, Erlasse wie für alle anderen Schulen. Manche davon muss man kreativ erfüllen, andere umgehen. Und das kann man anscheinend, wenn man will. Das Buch von Riegel sagt leider nicht, wie man dorthin kommt, wo die Helene-Lange-Schule ist, und auch das hat schließlich zwanzig Jahre gedauert – aber es zeigt, dass es möglich ist. Man muss wohl ein Ziel haben, auf das man nach und nach hinarbeitet. Man braucht die richtigen Lehrer und die richtige Schulleitung. Reinhard Kahl stellt in einem Nachwort Enja Riegel vor und beschreibt dabei auch andere Schulleitermodelle, die ich aus der Praxis, ähem, wiedererkannt habe.
Jedenfalls geht mehr als man denkt. Selbst in Bayern können die Hindernisse nicht so viel unüberwindlicher sein als in Hessen. Also, bis auf das mit dem Religionsunterricht, versteht sich.
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