Mir hat das Buch weniger gebracht als Croco, über die ich darauf gekommen bin. Vielleicht bin ich durch die Lektüre meines letzten Sachbuchs verwöhnt, aber ich vermisse Quellenangaben, Fußnoten, einen Index und eine Bibliographie. Vielleicht kann man das von einem Buch mit großer Zielgruppe nicht erwarten, aber für mich ist das ein Zeichen, dass ich nicht Teil der Zielgruppe bin.
Diese fehlenden Teile kann ich verschmerzen, aber nicht die Tatsache, dass Winterhoffs Thesen auch sonst durch keinerlei andere Quellen unterstützt werden – keine Forschungsergebnisse, keine wissenschaftlichen Untersuchungen, keine Fachkollegen. Er mag durchaus Recht haben, aber seine Ansichten bleiben bloße Meinung, unterstützt lediglich durch anekdotische Erfahrungen aus der eigenen Praxis. Es scheint tatsächlich niemand anderen zu geben, der den Ernst der Lage so erkannt hat wie Winterhoff: „Mein Ansatz […] ist die einzige Möglichkeit, diesen Trend sinnvoll zu analysieren und Strategien zu entwickeln“. Einzige Möglichkeiten machen mich skeptisch. Winterhoff ist außerdem Psychiater und bemüht Freud. Ich glaube nicht sehr an Freud.
Die Grundthese des Buches, wenn ich es richtig verstanden habe: Kinder heutzutage wachsen nicht kindgerecht auf, die Entwicklung ihrer Psyche wird beeinträchtigt, und danach helfen auch keine neumodischen Erziehungs- und Unterrichtsmethoden mehr.
Die Entwicklung der Psyche ist kein Reifungsprozess, der unabhängig vom Verhalten der Umwelt stattfindet. Falsche Beziehungsmodelle zwischen erziehenden Erwachsenen (Eltern, Kindergarten, Schule) und Kindern führen zu Fehlentwicklung der Psyche. Diese Modelle sind: Partnerschaft, Projektion und Symbiose.
Partnerschaft heißt, dass man dem Kind zu früh Entscheidungen zumutet, die es nicht leisten kann. Dass man mit dem Kind alles diskutiert und es das Recht hat, alles erklärt zu bekommen, statt das man einfach mal sagt: Das ist nun mal so.
Das sehe ich auch so. Als Lehrer bin ich nicht der Partner der Schüler, habe andere Pflichten und andere Rechte, und das sollte den Schülern klar sein. Manche Entscheidungen treffe ich, auch ohne Diskussion, andere nach und nach mit den Schülern.
Projektion: Man holt sich seine Bestätigung durch die Kinder. Die Gesellschaft gibt dem Lehrer nicht genug Liebe, und die Eltern sind durch die moderne technische Welt überfordert (wie es sich etwa beim Bestellen eines Telefons zeigt, was heute viel komplexer ist als noch zu Bundespostzeiten): Deshalb holen die sich die Liebe vom Kind ab.
Auch hier leuchtet mir Winterhoff ein; Aufgabe des Lehrers ist nicht, gemocht zu werden. Allerdings kann ich seine Begründungen nicht nachvollziehen, und ich weiß nicht, ob diese Projektion wirklich so verbreitet ist, wie er sagt. Glücklicherweise habe ich mit der modernen Technik keine Schwierigkeiten und kriege genug Liebe zu Hause.
Nachvollziehbar ist der Gedanke, dass man sich gegenüber Menschen anders verhält als zu Gegenständen. Und dass Kleinkinder erst lernen müssen, dass ein Stuhl etwas anderes ist als ein Onkel: Das eine darf man aus dem Weg schieben, das andere nicht; das eine hat keine Gefühle, das andere schon. Diese Unterscheidung scheint tatsächlich nicht immer ausreichend ausgeprägt zu sein.
Vielleicht hat Winterhoff mit seiner Meinung Recht. Aber mit seinen dramatischen Warnungen und den flachen Erklärungen (siehe Telefon) überzeugt er mich nicht. Zwanzig Seiten wissenschaftlicherer Prosa wären mir leiebr gewesen.
Nachtrag: Diskussion darüber auch in der Sprechstunde.
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