Ich mag Grammatik. Für mich gehört sie außerdem aus mindestens drei Gründen ins Gymnasium:
Erstens: Als Dienstleistung für die Fremdsprachen. Der Englischlehrer tut sich viel leichter, wenn die Schüler bereits wissen, was ein Subjekt oder was ein finites Verb ist. (Ersteres wissen sie. Letzteres nicht.)
Zweitens: Als Mittel, um bessere Texte erstellen zu können beziehungsweise als Analyseinstrument, um die Wirkung von Texten beschreiben und begründen zu können. Die Wirkung des Anfangs der folgenden Geschichte beruht – neben einem anderen offensichtlichen Merkmal – auch auf dem Satzbau:
Wild zuckt der Blitz. In fahlem Lichte steht ein Turm. Der Donner rollt. Ein Reiter kämpft mit seinem Ross, springt ab und pocht ans Tor und lärmt. Sein Mantel saust im Wind. Er hält den scheuen Fuchs am Zügel fest. Ein schmales Gitterfenster schimmert goldenhell und knarrend öffnet jetzt das Tor ein Edelmann.
Die Sätze sind nicht nur kurz, sondern vor allem nur Hauptsätze.
Folgender Satz (den ich schon mal zitiert habe) stammt aus einem Aufsatz der 11. Klasse, Erörterung:
Gerade in der heutigen Zeit in der westlichen Welt, wo viele Leute nahe beieinander leben, die einerseits an einen hohen Lebensstandard gewohnt sind, sich andererseits an eine Methode, diesen zu erreichen, nämlich immer an den größtmöglichen eigenen Profit zu denken, gewöhnt haben, was wiederum der Gesellschaft schadet, sind die so genannten Tugenden, wie zum Beispiel Bescheidenheit, Rücksicht und Verantwortungsbewusstsein, allen voran jedoch Mitgefühl, um so wichtiger.
Der Satz ist völlig korrekt. Aber wer ein Gespür für Satzglieder hat, kann den Satz umstellen, so dass er weitaus lesbarer wird. Dieses Gespür kriegt man durch viel Lesen, aber ich glaube, dass auch formale Grammatikkenntnisse dabei helfen.
Fragen muss ich mich allerdings, ob die Schule dieses Ziel tatsächlich erreicht.
Drittens: Wissen um Sprache ist ein Kulturgut. Gibt es in jeder Sprache ein Tempus? Gibt es in jeder Sprache Subjekte, Objekte und Prädikate? Sagt das etwas über das Gehirn des Menschen aus? Englisch hat meist die Wortstellung SPO, Französisch auch. Gibt es Sprachen, in denen die Wortstellung PSO lautet, oder gar OSP? (Ja, 4 Stück auf der Welt. Noch.) Sagt das etwas über das Gehirn des Menschen aus? Wie wichtig ist es, ob in 100 Jahren die Hälfte der aktuell sechs- bis siebentausend Sprachen ausgestorben sein wird? Ist das gut oder schlecht? — Grammatikkenntnisse reichen nicht aus, um sich darüber eine fundierte Meinung zu bilden, aber eine Ahnung davon, wie Sprache aufgebaut ist, braucht man.Schließlich gehört dazu auch, dass ja irgendwer in der Duden-Redaktion sitzen und Entscheidungen fällen muss und dass irgendwer die Word-Grammatikprüfung und die Google-Übersetzung entwickeln muss.
Es ist nicht so, dass eine Sprache eine Grammatik einfach hat. Dass es im Deutschen nun mal Adverbien und Subjekte einfach gibt. Natürliche Sprachen sind komplizierte Gebilde, und Grammatiken sind Modelle, mit denen man versucht, ihrer Herr zu werden. Dazu benutzt man solche Kategorien wie „Adverb“ oder „Subjekt“. Man vereinfacht, fasst zusammen, erkennt Regeln, ignoriert Ausnahmen. Die deutsche Schulgrammatik orientiert sich dazu aus historischen Gründen an dem Modell, das für das klassische Latein aufgestellt wurde,
Es ist also – aus sprachwissenschaftlicher Sicht, nicht in der Schule – nicht richtig, zu fragen, ob etwas ein Präpositionalobjekt ist, sondern, ob es im gerade benutzten Modell als Präpositionalobjekt bezeichnet werden sollte. Dass es verschiedene Grammatikmodelle geben muss, leuchtet ein, wenn man sich überlegt, dass man in der Schule mit einem für Anfänger geeigneten Grammatikmodell beginnen muss. (Zu einem differenzierteren, dass die tatsächliche Sprache noch besser beschreibt, kommt man dann leider nicht mehr.)
Mit Hilfe einer idealen Grammatik und dem entsprechenden Wörterbuch dazu kann man in einer Sprache alle richtigen Sätze erzeugen und keinen falschen. Das geht leider aus vielen Gründen nicht so einfach. Einmal deswegen, weil jeder Sprecher eine andere Meinung zu richtig und falsch hat. Zum zweiten deswegen, weil die Grenzen zwischen grammatisch falsch und lediglich stilistisch unzumutbar fließend sind. Und drittens, weil natürliche Sprachen zu verwurschtelt (=wissenschaftlicher Fachausdruck) sind, als dass sie sich mit einer überschaubaren Grammatik gut beschreiben ließen.
(Kleinere Beispiele in einem alten Blogeintrag, bei dem sich die Diskussion dann allerdings in andere Ecken verrannte, allerdings nicht bevor sie mich zu einer Erkenntnis führte, die wiederzuentdecken ich gerade große Freude hatte.)
Morgen geht’s weiter.
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