Weil ich es neulich auf einer Fortbildung gehört habe: Geschichtszahlen sind nicht mehr wichtig, weil man heute ohnehin alles schnell nachschlagen kann. Sagte ein Physiklehrer, und der arbeitet ja tatsächlich nicht mit auswendig gelernten Formeln, sondern nur mit der Formelsammlung. (Oder täusche ich mich da etwa?) Und da ist ja auch etwas dran. Wann die Keilerei bei Issos genau war, ist nicht wichtig. Ich weiß auch nicht mehr, wann die Römer das erste Mal versucht haben, England zu erobern, und wann es ihnen gelungen ist – so um die 40 vor und 40 nach unserer Zeitrechnung. Wenn ich es genauer wissen möchte, schaue ich nach.
(55/54 vor und 43 nach Christus. Die Erreichbarkeit von Daten im Web zwingt einen dazu, so etwas nachzuschauen.)
Trotzdem brauche ich Faktenwissen, um Zusammenhänge erkennen zu können. Wenn ich bei Salman Rushdie beiläufig von einer Anwaltskanzlei „Milligan, Sellers and Bentine“ lese, dann komme ich doch nicht auf die Idee, das irgendwo nachzuschlagen. Sonst müsste man ja alles nachschlagen, wo es theoretisch möglich ist, dass es etwas bedeutet. Wenn ich also nicht auswendig die Namen der Beteiligten an der Goon-Show kenne, wird mir dieser Witz entgehen.
Und wenn mir irgendwo in mathematischem Zusammenhang die Zahl 256 begegnet, kann ich nur auf die Idee kommen, dass hier eine Zweierpotenz vorliegt, und damit vielleicht ein Hinweis auf eine Regelmäßigkeit, wenn ich auswendig weiß, das 256 gleich 28 ist. Oder soll ich etwa bei jeder Zahl immer mal vorsorglich eine Primfaktorzerlegung machen?
Bei Maik Riecken habe ich heute einen Hinweis gefunden auf ein Interview bei fr-online.de. Der interviewte Didaktikprofessor Hans Peter Klein wird so zitiert:
Ich werde heute eine empirische Untersuchung vorstellen, nach der wir in der neunten Jahrgangsstufe eines nordrhein-westfälischen Gymnasiums eine Abitur-Leistungskursarbeit Biologie haben schreiben lassen – ohne jede inhaltliche Vorbereitung. Das Ergebnis war erschreckend, denn zwei Drittel Schüler hätten die Abiturarbeit bestanden, einer sogar mit einer Eins.
Schuld daran: Aktionismus und die Bildungsstandards, wenn ich mal ungebührlich verkürzen darf. Hans Peter Klein ist Mitveranstalter der Tagung „Bildungsstandards auf dem Prüfstand. Der Bluff der Kompetenzorientierung“, die Ende Juni in Köln stattfand (teachersnews).
Nun halte ich gerade bei Fremdsprachen Kompetenzorientierung für sinnvoll. Ob überall welche drin ist, wo welche drauf steht, ist eine andere Frage. Für illusorisch halte ich das Untersuchen von einzelnen Kompetenzbereichen. (Jochen neulich zu dem Thema.) Nehmen wir mal das Musterabitur Englisch Leistungskurs (Quelle: ISB), bei dem Hörverstehen geprüft wird. Von den 20 Punkten für Hörverstehen kriegt man 10 Punkte durch True/False- oder Multiple-Choice-Aufgaben. An diesen 10 Fragen habe ich mich bei Erscheinen des Musterabiturs versucht und beim ersten Versuch 9 richtig beantwortet – ohne den Hörtext je angehört zu haben. Benutzt habe ich Lesekompetenz, Testerstellungskompetenz (zugegeben, das ist kein Ziel für Schüler) und vor allem Wissen, das hier auch getestet wird. Ich weiß halt, was ein hijab ist, und damit sind vor allem die true/false-Fragen kein Problem mehr.
Man kann vermutlich Aufgaben schon so niet- und nagelfest machen, dass sie tatsächlich nur eine Kompetenz prüfen. Aber dann werden die Aufgaben so uninteressant wie die des letzten VERA-Tests.
(Nachtrag: Artikel von Klein in Profil, auf seiner Uni-Seite.)
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