Am Montag mache ich wieder mal meine Bruce-Springsteen-Johnny-Cash-Stunde. Darüber habe ich schon mal gebloggt, 2005, aber das darf ich ja mal wiederholen. Bei der ursprünglichen Fassung des alten Blogeintrags hatte ich die Audioclips noch selber hochgeladen, inzwischen geht das leichter. Damals gab es Youtube erst seit zwei Monaten und ich hatte vermutlich noch nie davon gehört. (Mein Blog ist älter als Youtube. Älter als der Börsengang von Google, der war August 2004.)
Es fing an mit Goethe, Interpretation, 10. Klasse, „Maifest“:
Wie herrlich leuchtet
Mir die Natur!
Wie glänzt die Sonne!
Wie lacht die Flur![…]
O Mädchen, Mädchen,
Wie lieb‘ ich dich!
Wie blickt dein Auge!
Wie liebst du mich!So liebt die Lerche
Gesang und Luft,
Und Morgenblumen
Den Himmels Duft,Wie ich dich liebe
Mit warmem Blut,
Die du mir Jugend
Und Freud und MutZu neuen Liedern
Und Tänzen gibst!
Sei ewig glücklich
Wie du mich liebst!
Zum Interpretieren von Gedichten gehört auch, gerade bei Rollenlyrik, die Sprechsituation: Wer spricht wo, wann, warum, zu wem? Hier spricht ein junger Mann, im Frühling, draußen in der Natur, zu einer jungen Frau (auch wenn die wohl nur in Gedanken da ist).
Das heißt – ist das überhaupt ein junger Mann? Kann es nicht auch ein alter Sack Herr sein? Oder eine junge Frau? Für meine Schüler ist das noch gar nicht klar. Zum einen liegt das sicher daran, dass sie nicht mehr unbedingt voraussetzen, dass Mädchen nur von Männern geliebt werden, zum anderen auch sicher daran, dass sie noch unsicher bei der Entscheidung sind, was sie bei Interpretationen einfach als gegeben annehmen dürfen und was sie ausführlicher begründen müssen.
Biographisch weiß man vielleicht, dass Goethe ein junger Mann war, als er das Gedicht schrieb. Also wird der Sprecher im Gedicht wohl auch ein junger Mann sein – dieser Gedanke ist so naheliegend, dass man ihn sich dringend abgewöhnen sollte. Auch ein junger Mann kann ein Gedicht schreiben, in dem der Sprecher eine Frau ist.
Zugegeben, nach meiner Interpretation des Maifests ist der Sprecher auch eher ein junger Mann, aber das mache ich am Gedicht fest, und weil es das Gedicht nicht interessanter macht, wenn der Sprecher eine Frau ist. Andererseits ist es aber auch nicht wesentlich, dass er ein junger Mann ist, und auch nicht wesentlich, dass es keine hundertprozentig genaue Angabe dazu im Gedicht gibt – das wird bei Gedichten wohl üblicherweise nicht explizit dastehen.
Bei manchen Texten ist das anders. In „Über die Verführung von Engeln“ von Bert Brecht ist eine der beiden beteiligten Personen ziemlich sicher männlich, die andere dagegen — ja, auf den ersten Blick weiblich. Indiz: trägt einen Rock. Andererseits ist ihr grammatisches Geschlecht durchweg und ganze neunzehnmal Maskulinum, ohne ein einziges Femininum dabei. Das ist zumindest erwähnenswert und kann für eine Interpretation gewinnbringend sein.
Und dann ist da mein Musterbeispiel, „I’m on Fire“:
http://www.dailymotion.com/video/x5io7u_bruce-springsteen-i-m-on-fire_music
Sprechsituaton: Wer spricht (singt) da wo wann zu wem? Der Videoclip und die musikalische Interpretation durch den Autor Bruce Springsteen geben darauf Antwort, und die stellt sicher eine nachvollziehbare Interpretation dar.
Eine andere Interpretation des Lieds gibt es von Johnny Cash:
Ich finde diese Interpretation – das schrieb ich vor neun Jahren schon mal – gruslig. Wer spricht wo wann zu wem? Nun, ein alter Mann mit zittriger Stimme. „Hey little girl is your daddy home“ kriegt da eine ganz andere Bedeutung und das wirkt, nebenbei, auch wieder zurück auf die metaphorische Funktion des „daddy“ in der gängigeren Interpretation.
Überhaupt ermöglichen Lieder einen vielleicht direkteren Zugang zu Interpretationsfragen. Bei Cracked erschien gestern eine Sammlung von 35 popular songs that don’t mean what you think.
Die Autoreninterpretation ist keine privilegierte Interpretation. Wenn die Autoren des Village-People-Hits „Macho Man“ beteuern, dass das als seriöses, ernst gemeintes Lied gemeint war („very dark and very serious“), dann macht es das trotzdem nicht dazu. Wenn „One“ von U2 auf Hochzeiten gespielt wird, ist die gängige Interpretation wohl, dass es sich um ein Liebeslied handelt; Bono sagt, es geht darin um Trennungen. Also was jetzt? „You Ain’t Seen Nothing Yet“ von Bachmann-Turner Overdrive war als Witz gedacht, es ist aber trotzdem keiner geworden. In „Total Eclipse of the Heart“ (bekannt durch Bonnie Tyler, hier eine eigentümliche Version des Videoclips zum Lied) geht es laut Autor um Vampire. Diese Interpretation ist denkbar, für uns aber nicht bindend. Und „Lucy in the Sky with Diamonds“ hat John Lennon keinesfalls als Anspielungd auf LSD gemeint, sondern es bezieht sich auf eine Kinderzeichnung – und dennoch ist das eine legitime Interpretation, weil man sie am Text festmachen kann.
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