Schüler meinen, man liest was in Gedichte rein, was da gar nicht steht, und das ist dann Interpretieren.
Das liegt zum einen daran, dass Schüler keine geübten Leser sind. Nuancen in einem Text, die jedem erfahrenen Leser sofort deutlich vor Augen sind, sehen sie nicht so schnell. Wenn in Faust die jungen Burschen beim Frühlingsspaziergang sich auf das Tanzfest freuen, weil es dort „Händel von der ersten Sorte“ gibt, dann hat ein gesamter Deutsch-Leistungskurs keine Ahnung, was gemeint ist, weil sie das Wort „Händel“ nicht kennen und ganz automatisch davon ausgehen, dass es um „Hendl“ geht, also Hähnchen. Es fällt den Schülern oft schon schwer genug, die Zeilen an sich zu lesen, geschweige denn zwischen ihnen; kein Wunder, dass sie einer Beispielinterpretation des Lehrers nicht folgen können. (Zum Teil können die Schüler nichts dafür. Die Sprache des Faust ist ihnen einfach fern.)
Das liegt zum anderen daran, dass Schüler eine romantische Sichtweise des Dichters haben: Es gibt einen Autor, der weiß, was er tut, und mit seinem Gedicht etwas sagen will. Und er ist oberster Richter wenn es um die Interpretation seines Gedichts geht. Kein Interpret Lehrer darf da Sachen herauslesen, die der Dichter nicht autorisiert.
Diese Sonderstellung des Autors ist eine relativ junge und keineswegs selbstverständliche Sache, aber seit ein paar hundert Jahren weit verbreitet. Es stimmt nicht, dass ein Autor immer weiß, was er tut. Ein Autor tut einfach. Wenn er analytisch oder akademisch ist, dann überlegt er sich, warum er so schreibt, aber das ist keinesfalls notwendig.
Beispiele dafür, dass Autoren nicht immer die besten Interpreten ihrer Werke sind:
W.H. Audens Gedicht „Blues“ („Stop all the clocks, cut off the telephone, / Prevent the dog from barking with a juicy bone“). Ursprünglich für eine komische Revue geschrieben, wird es in dem Film Four Weddings and a Funeral beim Begräbnis einer der Hauptpersonen rezitiert: Feierlich, tieftraurig. Kein Schüler glaubt, dass das ein komisches Gedicht sein sollte. (Vor allem nicht, wenn ich ihnen vorher die herzzerreißende Aufnahme aus dem Soundtrack zum Film vorgespielt habe.) (Details zur Entstehungsgeschichte)
Mein Favorit ist in „Pippa Passes“ von Robert Browning. Da wird eine klösterliche Szene beschrieben:
Then, owls and bats,
Cowls and twats,
Monks and nuns, in a cloister’s moods,
Adjourn to the oak-stump pantry!
Nach dieser Quelle hielt Browning „twat“ für einen Teil der Kopfbedeckung der Nonnentracht; dort wird auch erklärt, wo Browning auf dieses Wort gestoßen ist. „Twat“ ist aber ein derbes Wort für das weibliche Geschlechtsorgan. Browning hat hier etwas missverstanden. Er wollte sicher nicht die Kapuze des Mönchs („cowl“) und die Vagina der Nonne in einem Atemzug nennen. Hat er aber.
Vielleicht sollte man die Schüler nach sexistischen und rassistischen Elementen in Gedichten suchen lassen. Die erkennen sie vielleicht eher, und vielleicht sind die Schüler leichter davon zu überzeugen, dass die Autoren nicht sexistisch oder rassistisch sein wollten, aber dass die Texte es dennoch sind.
Man kann nicht lesen, ohne zu interpretieren. Zumindest nicht vorlesen, und zumindest nicht bei einem Schauspiel. Wenn man die Sätze einer Figur in einem Drama vorliest, dann ist das Interpretieren (so wie der Sänger eines Liedes der Interpret des Liedes ist): Denn dadurch legt man fest, wie die Figur die Sätze vorträgt: gelangweilt, tonlos, aufgeregt, froh, übermütig, scherzhaft, verzweifelt. (Natürlich hilft es, wenn die Schüler über mehr als einen Tonfall beim Lesen verfügen.)
Sehr schön kann man all das an einem Lied von Bruce Springsteen zeigen, „I’m on fire“ aus dem Album „Born in the USA“ (das ich noch als LP im Schrank habe). Ein schönes Lied von Saubermann Boss Springsteen. Das Lied eines Romeos, der nicht zu seiner Julia darf, und furchtbar darunter leidet. Einen Videoclip gab’s auch dazu.
Hey little girl is your daddy home
Did he go away and leave you all alone
I got a bad desire
I’m on fireTell me now baby is he good to you
Can he do to you the things that I do
I can take you higher
I’m on fireSometimes it’s like someone took a knife baby
edgy and dull and cut a six-inch valley
through the middle of my soul
Ein Springsteen-Klassiker mit wunderbarem Rhythmus, oft gecovert. Und covern heißt vortragen heißt interpretieren. So etwa in einer Interpretation vom seligen Johnny Cash. Mit seiner alten Stimme und einem wackligen Tonfall gewinnt das Lied gleich eine ganz andere, gruseligere Dimension:
Man denkt doch sofort an einen Kinderschänder. Das hat Springsteen sicher nicht im Sinn gehabt.*) Aber die Interpretation ist legitim, finde ich. (Ob der Künstler Johnny Cash diese Interpretation bewusst verwendet oder nicht, steht wieder auf einem ganz anderen Blatt. Siehe oben. Ich denke mal, ja – aber wie gesagt, das ist nicht wichtig. Das Lied stammt aus dem Album Badlands – A Tribute to Bruce Springsteen’s Nebraska mit Springsteen-Cover-Versionen verschiedener Interpreten.)
*) Fußnote: Oder doch? Kann man den Text anders, harmlos deuten?
Schreibe einen Kommentar