Meine Totemtorte ist die Punschtorte.
In meiner Kindheit gab es zumindest gelegentlich Torte vom Konditor. Sonntagnachmittag, mit meinen Großeltern, oder wenn Besuch da war, und Besuch war oft da. Erwachsene bringen bei solchen Gelegenheiten meist ein Sortiment mit, irgendwas mit Obst, irgendwas mit Creme, irgendwas mit Schokolade, da ist für jeden etwas dabei. Kinder nehmen das ernst, ich jedenfalls. Wenn ich mitreden durfte, und das durfte ich früh, wollte ich: Punschtorte. (Die aß auch meine Großmutter gerne, und von der kam ich auf den Geschmack.)
Es ging ja gar nicht soweit, dass ich vor Freude in die Luft sprang beim Anblick von Punschtorte, sicher aß ich auch mit Vergnügen andere Kuchen und Torten, denn wenn auch die Punschtorte meine eigentliche Torte war – es würde ja noch genug Punschtorte geben in meinem Leben. Schließlich war Punschtorte ein Standard bei jedem Konditor.
Das hat sich geändert. Es gibt keine Punschtorten mehr, schon seit Jahrzehnten. Man muss mindestens ein Mittvierziger wie ich sein, um sie überhaupt noch zu kennen. Frau Rau hat mir mal eine selbst gebacken, und mir mal eine vom Konditor machen lassen – das war vor fast zwanzig Jahren, und die Konditortorte war sicher gut, aber nicht richtig.
Meine Eltern meinten, sie könnten vielleicht noch eine Punschtorte besorgen. Die Konditoreien von früher, die gebe es alle noch dort, wenn auch unter neuer Leitung. Da müsse sich doch etwas machen lassen.
Also waren Frau Rau und ich (und die Eltern von Frau Rau) heute bei meinen Eltern zu Mittagessen, Nachtisch und Kuchen, mit wenigstens einem kleinen Spaziergang in der Pause dazwischen für die Leute, die nicht Autorennen im Fernsehen sehen wollten. Es war schließlich Sonntag. Sonntag kommt nach dem Mittagessen immer Autorennen im Fernsehen.
Dann gab es die Punschtorte:

Meine Eltern waren schon vorher ehrlich gewesen: Nein, auch sie hatten keinen Konditor dazu bewegen können, eine Punschtorte zu machen, („Ach, höchstens im Winter.“ „Wie viele Torten wollen Sie denn haben?“ „Die mag doch kein, die ist doch so süß.“) Also hatten sie selber eine gebacken. Eine?
Die erste war nur mal so zum Ausprobieren und wurde selbst gegessen. Die zweite, nach einer Rezeptvariante, wurde zu einer Freundin mitgebracht. („Die hat eigentlich Erdbeerkuchen bestellt. Ach was, die kriegt jetzt Punschtorte.“ Sie hat dann Erdbeerkuchen und Punschtorte gekriegt.) Die dritte endlich, auch wieder neu, die dritte wurde uns serviert.

Mein Vater ist ein Bastler, und hat in den Jahren der Rente etliche neue Bastelgebiete für sich entdeckt. Eines ist das Kochen. (Auch der gebratene Spargel und die Rinderbäckchen waren zum Großteil von ihm, da meine Mutter gerade eine Handverletzung hat). Meine Mutter war für den Geschmack der Punschtorte zuständig, meine Vater bestand auf korrektem Aussehen. Der gebackene Biscuitboden musste in mehrere Scheiben zerteilt werden. Jeder andere macht das wohl mit Zwirn. Nicht so mein Vater, das war ihm nicht sauber genug. Also kaufte er eine Art Metallrahmen mit Schlitzen, den man um den Tortenboden legt. Mit einem langen Messer schneidet man dann, durch die Schlitze geführt, den Tortenboden entzwei.
Aber die Messer im Haus waren nicht lang genug. Also brauchte er noch ein neues Messer, ein Palettenmesser mit Wellenschliff:

Die Art Bastler ist mein Vater. Herausgekommen ist dann auch eine Torte mit exakten Scheiben und feinem, freihändig aufgetragenen Schokoladenmuster.
Für den Geschmack ist meine Mutter verantwortlich. Der macht die Punschtorte ja so einmalig. Die Decke ist ein ganz dünner Zuckerguss auf einer ebenfalls dünnen Grundierung aus Marzipan. Ohne Marzipan kriegte man das nicht so dünn und glatt hin und der Kuchenboden verliehe dem Zuckerguss einen etwas zu dunklen Ton. Dann braucht man einen Teig, irgendwas Biscuitöses, ich bin da kein Experte. Zwischen die Biscuitschichten kommt dünn Aprikosenmarmelade. Und das allerwichtigste, das der Punschtorte ihren Namen und ihren eigenen Geschmack gibt, ist der Arrak.
Arrak. Nicht Raki. Nicht Arak. Arrak oder Arrack. Kein Anisschnaps, sondern eine der ältesten Spirituosen der Welt. Find du den heute mal noch! Dabei war der mal verbreiteter als Rum. Heute fristet er bei uns noch ein kümmerliches Dasein als „Arrak-Aroma“ direkt neben dem „Rum-Aroma“ bei den Backzutaten. Die Niederländische Ostindien-Kompanie brachte den Arrak aus Batavia (heute: Jakarta, Haupstadt von Indonesien) nach Europa. Klein Zack in Hoffmanns Erzählungen trinkt „zuviel Branntwein und Arrak“, möglicherweise nur des Reims wegen, aber auch in Hoffmanns „Der goldne Topf“ wird ein Punsch zubereitet:
Der Registrator Heerbrand griff in die tiefe Tasche seines Matins und brachte in drei Reprisen eine Flasche Arrak, Zitronen und Zucker zum Vorschein. Kaum war eine halbe Stunde vergangen, so dampfte ein köstlicher Punsch auf Paulmanns Tische.
Punsch: Das Konzept und das Wort brachte die Englische Ostindien-Kompanie nach Europa, in Hindi bedeutet das Wort „pantsch“ „fünf“ (siehe Sprachgeschichteveranstaltungen an der Uni) nach den fünf Zutaten für einen Punsch: Zucker, Zitrone, Arrak, Wasser, Gewürze. Das ist alles in der Punschtorte drin, bis auf die Gewürze vielleicht, aber die werden ja auch schon in Schillers „Punschlied“ nicht mehr dazugerechnet.
Und mit einem Gemisch aus Arrak und Zuckerwasser (andere, weniger gute Rezepte: Zitronensaft, Wein) wird eben auch die Punschtorte getränkt. Nur dann kommt eine Punschtorte heraus:
Bild: Frau Rau
Beim Konditor wäre der Teig vielleicht etwas glatter, die Aprikosenmarmelade dünner. Geschmacklich war die Torte perfekt.
Meine Damen und Herren, das war die Punschtorte. Meine Totemtorte. (Und ich habe sehr liebe Eltern.)
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