Putinversteher

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Mit dreizehn oder vierzehn Jahren hatte ich ein Schlüsselerlebnis. In der katholischen Ministrantengruppe erklärte mir der Gruppenleiter, wenige Jahre älter als ich, warum der sowjetische Einmarsch in Afghanistan folgerichtig sei. Schon zu verurteilen, natürlich, aber konsequent und – immer aus der sowjetischen Sicht natürlich – verständlich. Respekt verdienend.

Irgendetwas an dieser Szene hat mich so irritiert, dass ich mich noch daran erinnere. Ich glaube diese Haltung immer wieder zu erkennen. Das reicht vom viel zitierten: „Rommel, you magnificent bastard. I read your book!“ aus dem Film Patton (1970) bis zu den Anbiederungen eines verwirrten Cartoonisten an Trumps geniale Strategie des „4-D chess“ bis hin zu Trumps eigener, kürzlich wiederholter Betitelung Putins als „smart“. Im Lehrerforum gibt es einen Beitrag von einem ohnehin suspekten Forenmitglied, der Putin völlige Rationalität unterstellt; dessen Verhalten sei nur zu erklären dadurch, dass da etwas vorgefallen sein müsse im Zusammenhang mit den westlichen Regierungen, von dem wir nichts wissen. Erbärmlich.

Woher kommt diese Versteherei? Zum einen braucht man vermutlich eine gewisse Hybris, um sich überhaupt einbilden zu können, auf der Ebene der Weltpolitik mitreden zu können. Dann ist das vielleicht auch ein Schutzmechanismus: was man versteht, fürchtet man weniger. Und zuletzt ist da eine Hybris konkreterer Art. Die ganze Welt rätselt, aber man selbst versteht das Verhalten. Indem man den Wahnsinn unwillig respektiert, erhebt man sich auf dessen Ebene, da schwingt immer ein: „Ja, so würde ich das auch so machen an dessen Stelle“ mit. Das ist natürlich völlig lächerlich.


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8 Antworten zu „Putinversteher“

  1. Arnulf Helmut Sinz

    Interessant das mit dem suspekten Forumsmitglied :
    Vielleicht gab es etwas wie den 20.Juli 44.

    Ein pensionierter BNDmitarbeiter, den ich kurz nach 9/11 fragte, was man glauben kann, in den Medien, meinte : Alles wenn es von Nachrichtenagenturen kommt, mehrfach verifiziert.
    Aber : Vieles was passiert, gelangt nicht in die Medien!

    Deshalb sind Verschwörungstheorien so beliebt, weil halt doch covert operations vermutet werden.

  2. Möglich ist immer alles, und ja, glauben sollte man nur Verifiziertes. Auf der anderen Seite heißt das aber nicht, dass Spekulationen statthaft sind. Wenn man nichts weiß, weiß man nichts, da fordert mir ein „es könnte ja sein“ keinen Respekt ab.

  3. Wenn man dem Buch „Kluge Macht“ von Ernst-Otto Czempiel folgt (eine Konzeption von 1999), waren die EU und die Nato mit dem Versuch der Einbindung Russlands in ein Sicherheitssystem auf dem richtigen Weg.
    Das System muss die Zusammenarbeit herbeiführen, nicht Drohung oder Zuckerbrot. Den Weg hat man 2008 verlassen. mehr dazu: https://fontyfan.blogspot.com/2022/02/deeskalation-sieht-anders-aus.html
    Seitdem hat man den Weg zurück nicht mehr gefunden.

  4. Damit man das Werk „Kluge Macht“ einordnen kann:
    https://de.wikipedia.org/wiki/Kluge_Macht
    Darin erinnert Czempiel an den Marshallplan, der seine Maßnahmen so anlegte, „dass sie neue Strukturen schaffen, die den eigenen Interessen besser dienen. Das Musterbeispiel dafür sei der Marshall-Plan, der dazu führte, dass sich Demokratie und liberale Marktwirtschaft seit 1947 in Europa festigten.“
    (https://de.wikipedia.org/wiki/Kluge_Macht#Drei_Formen_von_Macht_im_internationalen_System) Ein weiteres Beispiel ist natürlich die EU. – Freilich sichern die Strukturen nicht ein für alle mal, dass alle Staaten darin mitspielen. In der EU merkt man es, dass einige der neu aufgenommenen Staaten ins Autoritäre abdriften und daran, dass Populisten Großbritannien aus der EU herauszuführen vermochten.
    Die Eu ist deswegen nicht auseinander gebrochen, aber weil gleichzeitig die Einigung sehr rasch vorangetrieben wurde und andererseits Staaten aufgenommen wurden, deren Demokratie nicht gefestigt war, gab es Risse im System.
    Das hat alles nichts mit Putin zu tun, aber damit, dass die EU immer größere Schwierigkeiten hat, einen gemeinsamen Kurs einzuhalten. Dass das Putin in die Hände spielt, ist nicht sein Verdienst.

  5. Mit Herrn Fontanefan kann ich weit mitgehen. Ich sehe sehr wohl das Verhalten des „Westens“ gegenüber Russland. Jedoch seit dem Krieg gegen Georgien und der Annexion der Krim und dem Krieg gegen die Ukraine bin ich der Meinung, dass in Russland kein Politiker, sondern ein Psychopath, ein „Machtgieriger“, die Macht in den Händen hält.

  6. Wie Hauptschulblues schreibt: Für mich als Laien sieht das für mich auch nach einem Psychopath aus, der einfach abgeglitten ist. Das merkt man allein an der Art, wie dieser Konflikt eskaliert ist. Das Thema eventueller Nato-Beitritt, der ja ursprünglich alles ins Rollen gebracht hat, ist ja aktuell völlig vom Tisch. Auf einmal soll entnazifiziert werden. Völlig entgrenzt und bar jeglicher Vernunft. Cäsarenwahn.

  7. Aginor

    Für mich ist das ganze schon ein Bruch.
    Bis jetzt – inklusive Krim – konnte ich Vladimir Putin wenigstens immer _verstehen_, wenn ich auch seine Entscheidungen nicht gutheißen konnte. Weder in der Art wie er mit seiner Bevölkerung umgeht, noch wie der von ihm geführte Staat sich teilweise außen benimmt (siehe Tiergartenmord und andere.)
    Meine Haltung war im Prinzip „Er ist ein Gangster, aber nicht verrückt“.

    Das hat sich vor ein paar Tagen schlagartig geändert.

    Er hat nicht einmal den Versuch unternommen, den Angriff irgendwie zu rechtfertigen. Er sprach in seinen Reden nicht von Verteidigung russischstämmiger Bürger (wie in Abchasien/Südossetien oder der Krim), er sprach nicht von Aggression des Westens oder der Ukraine, er inszenierte nicht einmal einen Vorfall oder irgendeine plötzliche Zwangslage.

    Er sagte ganz platt in seiner Rede dass die Ukraine doch eigentlich ein Teil Russlands sei, und dass sie nie hätte unabhängig sein dürfen.
    In einer anderen Rede (schon vor Jahren, damals aber mehrheitlich als Nationalfeiertagsgetöse abgetan) bezeichnete er den Untergang der Sowjetunion als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ (eine…. interessante Perspektive auf ein Jahrhundert in dem zwei Weltkriege stattgefunden haben). Meinte er das tatsächlich damals schon ernst, oder tut er es nur jetzt?
    Andernorts droht er Schweden und Finnland mit „schweren militärischen Konsequenzen“ sollte ein NATO-Beitritt erfolgen.

    Alle Argumente die ich noch vor kurzem zu seiner Verteidigung herangezogen hätte, oder unklare Verhältnisse (in dubio pro reo und so weiter, auch seine geopolitischen Gegenspieler sind keine Lämmer) sind hinfällig. Ich war sicher dass wenn er irgendetwas vorzuweisen hätte das ihn nicht ganz platt als Aggressor darstellt, dann hätte er das vermutlich vorgebracht, oder sogar erfunden. Aber er gibt sich nicht einmal mehr Mühe, weder international noch seiner eigenen Bevölkerung gegenüber.

    Er hat mehr oder weniger zugegeben dass alle diplomatischen Treffen in den Wochen vor dem Angriff (mit Macron, Scholz, Blinken und anderen) ganz platt gesagt einfach nur Verarsche waren. Seine Glaubwürdigkeit ist aus meiner Sicht vollständig dahin. Ich muss es Selenskyj hoch anrechnen dass er tatsächlich noch zu den Verhandlungen gehen will, ich an seiner Stelle würde es vielleicht lassen. Russland ist derzeit nicht mehr zu trauen, ich wäre nicht einmal verwundert wenn Selenskyj dort unter der Parlamentärsflagge ermordet würde. Mindestens muss jedem klar sein dass jegliche Abkommen mit Russland derzeit das Papier nicht wert sind auf dem sie gedruckt sind.

    Ich kann absolut verstehen dass die Reaktion anderer Länder auf diese Invasion in vieler Hinsicht extremer ist als was wir in einer langen Zeit gesehen haben. Selbst die Schweiz (ein Land das sich seiner Neutralität auch trotz berechtigter Kritik seit über 200 Jahren rühmt) trägt Sanktionen mit.
    Man sieht dass noch eine handvoll wirtschaftlicher Eskalationsstufen als Verhandlungsmasse übrig gelassen wurde, aber wir müssen damit rechnen dass kaum etwas anderes als extreme Härte (wirtschaftlich soweit möglich, die Waffenlieferungen und anderen militärischen Maßnahmen sehe ich sehr kritisch) die russische Führung zum einlenken bringen kann.

    Es ist enttäuschend, dieses 19.Jhdt-Denken. Ich wünschte wir könnten uns endlich als Menschheit davon wegentwickeln.

    Gruß
    Aginor

  8. Ich wünsche mir, dass es so einfach ist, wie es hier vorgestellt wird. Ich befürchte aber, dass die Lage ernster ist.
    vgl. dazu Kissingers Diagnose von 1996: https://twitter.com/lisarosa/status/1498627859824455684 und andererseits Brzezinskis.
    Putin sieht die Chance, Brzezinskis Diagnose von 2001 zu widerlegen, die Macht der USA zureichend geschwächt (Spaltung der Gesellschaft) und sie mit dem Abwehrkampf gegenüber China genug beschäftigt. Deshalb glaubt er, die Nato herausfordern zu können. Sein Angriff könnte ein Testballon für Chinas Angriff auf Taiwan sein. – Internationale Politik ist vom Pfad der Annäherung abgewichen, spätestens als Bush junior die Achse des Bösen erfand. In diese Zeit fällt der Aufstieg Putins.
    Es sieht zwar nicht danach aus, aber hoffen wir weiter, dass Brzezinski recht behält.

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