Disclaimer: Das ist gelogen, man erfährt hier praktisch nichts über Singulativität.
Auslöser ist Material für eine Erörterung zum Thema „gendergerechte Sprache“ – eine fertige Klausur auf meiner Festplatte, aber nicht von mir; ich weiß nicht mehr, wo sie herkommt. Eine der Quellen dazu ist: „Zur Verwendung geschlechtergerechter Sprache – die grammatische Kategorie Genus“ als „Handreichung für die Frauenbeauftragte der Ludwig-Maximilians-Universität München“ aus dem Jahr 2007 von Martina Werner, M. A.
Der Textauszug in der Klausur beginn:
Es sei noch einmal wiederholt: Das grammatische Geschlecht hat mit dem natürlichen nichts zu tun. Das Genus masculinum meint nicht „Männlichkeit“, sondern schlicht „Singulativität“, es ist also eine Kategorie für zählbare Einheiten. Deswegen ist es ein Irrglaube, anzunehmen, mit Formen wie liebe Studenten seien nur männliche Entitäten bezeichnet.
Müssen unsere Schüler und Schülerinnen diesen letzten Satz einordnen können als Meinung, oder präsentieren wir ihn ihnen als Tatsache? Als Argument ist es ja eigentlich unschlagbar: Wenn das ein Irrglaube ist, dann ist das halt so, und wer anders denkt, der irrt sich halt. Erwarten wir von unseren Schülern un Schülerinnen zu sagen, dass die Wissenschaft sich uneins ist und die einen so und die anderen so sagen? Damit nähern wir uns sehr schnell der false balance.
Und überhaupt, dieser Begriff der Singulativität, sollen unsere Schüler und Schülerinnen den verstehen? Wenn man die Suchmaschine danach bemüht, findet man zur Zeit um die 40 Ergebnisse, kein gutes Zeichen, und die meisten der gefundenen Seiten enthalten das Wort gar nicht; es geht in ihnen um den Singulativ. Der ist tasächlich nicht uninteressant: Im Deutschen gibt es einen unmarkierten Singular und einen Plural, der zusätzliche Elemente aufweist – einen Umlaut, oder ein Plural-Suffix. In manchen anderen Sprachen eine unmarkierte Grundform, die nicht für die Einzahl steht, sondern etwa für eine Gruppe von solchen Elementen, und die Einzahl, die hier Singulativ heißt, entsteht durch Anhängen eines Suffixes. „Singulativität“ taucht als Fundstelle vor allem auf eben in dieser LMU-Handreichung, und in ein oder zwei Aufsätzen aus dem Unterricht, die genau diese Handreichung beziehungsweise den Ausschnitt davon als Grundlage haben und die auf Schulhomepages veröffentlicht wurden.
Ich habe also die ganzen 14 Seiten Handreichung gelesen; sie haben ein bisschen was vom Wissenschaftlichen Dienst des Bundestags, nur unnötig ausführlicher. Beantwortet wird darin die Frage: Darf man nur „Studenten“ sagen, wenn alle gemeint sind, oder muss man Doppelformen nehmen? „Aus linguistischer Sicht“ ist beides kein Problem und nicht diskriminierend. Das mag sein, aber ich bezweifle sehr, dass „die Linguistik“ überhaupt zuständig für die Beantwortung dieser Frage ist.
(Auflösung übrigens: Ursprünglich, ur-indoeuropäisch, gab es wohl nur zwei Genera, also Substantivklassen, eines für belebte Dinge als Subjekt, und eines für unbelebte Dinge als Objekt. Die zweite Klasse wurde zum Neutrum, die erste trennte sich mal in Maskulinum und Femininum. Aber das ist erstens natürlich alles völlig irrelevant, und zweitens umstritten, und drittens wird in der Handreichung ohnehin eher die Theorie vertreten, dass das Maskulinum ursprünglich für einzelne, konkrete Dinge stand, eben den Singulativ, das Femininium für abstrakte Begriffe oder Kollektivbezeichungen, und das Neutrum für wieder etwas anderes.)
— Ein anderes Übungsthema aus einer anderen Klausur war die Frage nach der Umbenennung von Schulen, konkret ging es um das Wernher-von-Braun-Gymnasium in Friedberg bei Augsburg. Muss man, soll man, darf man das umbenennen? Sehr gut geeignetes Thema, übrigens. „Das Gymnasium wurde 1979 nach von Braun benannt. Damals wurde der Wissenschaftler vor allem als Pionier der Raumfahrt wahrgenommen – und nicht als SS-Sturmbannführer, der persönlich Zwangsarbeiter für das Konzentrationslager Dora-Mittelbau anforderte.“ (Stefan Mayr, Süddeutsche Zeitung vom 15.02.2013, zitiert nach einer Kopie einer Kopie einer Kopie.) Das mag für 1979 und Deutschland stimmen. Andererseits biete ich hier mal Tom Lehrer aus dem Jahr 1965 an, mit einer schon damals schon kritischeren Sicht:
Heißt das, wir erwarten von Schülern und Schülerinnen, als Argument im Aufsatz zu schreiben: „Damals wurde der Wissenschaftler vor allem als Pionier der Raumfahrt wahrgenommen.“ – obwohl das vielleicht gar nicht stimmt, oder zu undifferenziert ist? (Man beachte das Passiv.) Dürfen Schüler und Schülerinnen davon ausgehen, dass alles, was sie an Quellen haben, auch stimmt?
Früher gab es das bei Unfallberichten, einer einst beliebten Textsorte, die es bei uns gar nicht mehr gibt. Da gab es eine Reihe von Zeugenaussagen zu einem Verkehrsunfall und vielleicht noch eine Skizze (ca. 2001):

Aus den Zeugenaussagen musste ein Bericht über das Vorgekommene erstellt werden. Und das Problem war, dass wir Lehrer und Lehrerinnen es uns nicht nehmen ließen, ein bisschen Drama in den Text einzubauen. „Es war gar nicht Rot, bestimmt nicht, höchstens Dunkelorange.“ Teilweise gab es Widersprüche, der böse Porschefahrer war immer zu schnell oder unaufmerksam, stritt das aber immer ab – und Entscheidungen darüber zu treffen, was nun wirklich passiert ist und was nicht, ist vielleichts nichts für die Deutsch-Unterstufe.
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