Geschichten mit mehreren Handlungssträngen

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Der Anlass war Matt Ruff, The Destroyer of Worlds, eine Fortsetzung des besseren Lovecraft Country (Blogeintrag). Gibt es überhaupt je Fortsetzungen von eigener Hand, die etwas taugen, also von Serien und Reihen mal abgesehen? Mir fällt nur Richard Adams ein, Tales from Watership Down, und da hat das vielleicht deshalb funktioniert, weil das eine Kurzgeschichtensammlung und kein Roman ist. Und Douglas Adams, vielleicht, aber das ist ja auch so ein Durcheinander. Und ganz sicher Huckleberry Finn. Also gut, also gut, Fortsetzungen können gehen.

In The Destroyer of Worlds gibt es eine ganze Reihe Hauptpersonen, die untergebracht werden wollen. Es ist ein bisschen wie bei einem Riollenspiel, bei dem es zu viele Spieler und Spielerinnen gibt; da gibt es nicht genug für alle zu tun, oder die Gruppe muss sich teilen. Und so sind auch hier die Figuren von Anfang an geteilt, erst zum Showdown treffen alle aufeinander. Hier sieht man das grafisch:

Im ersten größeren Teil geht es um Montrose und Atticus einerseits und Hippolyta, Horace und Letitia andererseits, die gleichzeitig in eine Art Urlaub aufbrechen, aber jeweils mit Hintergedanken beziehungsweise einem geheimen Plan. Das wird dann in ziemlich genau abwechselnden Kapiteln erzählt. Im zweiten größeren Teil geht es um George und seine Freunde einerseits und Ruby andererseits, auch hier wird streng abgewechselt, allerdings tritt gegen Ende die Gruppe Hippolyta-Horace-Letitia wieder auf. Erst zum Ende des dritten Teils treffen dann wirklich alle Gruppen aufeinander.

Diesen Aufbau gibt es bei vielen Romanen. Ich mag ihn aber nicht besonders. Er ist mir zu sehr Fernsehserie, zu filmisch; ich suche ständig nach intradiegetischen Gründen für diesen Wechsel und finde natürlich, in Abwesenheit einer expliziten Erzählsituation, keine. Und so fällt mir als anderer Grund nur ein: um es spannend zu machen. Und das wiederum gefällt mir nicht, weil mir der Grund nicht ausreichend scheint; als wäre die Geschichte an sich nicht spannend genug, sie wird so halt spannend gemacht. Ich mag das so wenig, dass ich schon mal in solchen Büchern nur jeweils einen einzelnen Erzählstrang verfolgt und die anderen übersprungen habe (Blogeintrag dazu), was dem Vergnügen keinen Abbruch tat.

Natürlich gibt es Romane, die das gut machen. Und dann mag ich das auch! Wenn es einen Grund für die raschen Wechsel gibt, einen interessanten Effekt, dann auch, und wenn die Wechsel nicht zu rasch erfolgen, habe ich ohnehin kein Problem. Besonders gefällt mir The Glass Books of the Dream Eaters von G. W. Dahlquist (die Fortsetzungen sind aber nicht gut). Drei Stränge, und zumindest in meiner Erinnerung begegnet zum Beispiel Person A vom ersten Strang am Ende einer Person B, ohne einen Bezug zu ihr zu haben, und dann kommt leicht zeitversetzt Strang B. Nach einem gemeinsamen A-B-C-Abschnitt dann wieder einzeln bis zum Showdown, aber immer wieder gibt es in einem Strang Spuren der anderen Personen, die erst im jeweils anderen Strang erklärt werden. Das mochte ich.

Zur Geschichte der Erzählstränge

Wann hat das eigentlich angefangen? Die Odyssee ist komplex verschachtelt erzählt, und es gibt die Telemachie als eingeschobene Erzählung, zwischendrin die Götter, aber es gibt kein ständiges Hin und Her. Oder erinnere ich mich einfach falsch? Tom Jones? Täte mich nicht wundern, aber da entschuldigt sich der Erzähler bestimmt für den Wechsel und erklärt ihn. Dickens? Jedenfalls wird das kaum vor dem multiperspektivischen Roman aufgekommen sein.

Vicki Baum, Menschen im Hotel habe ich nicht gelesen, aber ich glaube das war über die Verfilmungen (1932, 1945, 1959) sehr wirksam, so dass die ganzen Katastrophenfilme der 1970er so funktionieren, bis hin zu Independence Day. Überhaupt scheint mir das ein filmischer Einfluss zu sein. „Meanwhile, back at the ranch“ war ein beliebter Zwischentext in alten Cowboy-Stummfilmen und ist inzwischen zum scherzhaften Klischee geworden; die Wikipedia-Seite dazu zitiert Hitchock, allerdings ohne ausreichende Quellenangabe, der seinen Kniff so benannte, zwei Handlungsstränge parallel zu führen und immer dann zu wechseln, wenn der jeweils aktuelle uninteressant zu werden beginnt. Da ist mir der Rat von Raymond Chandler schon lieber, in Situationen, wo er nicht mehr weiß, wie es weitergehen soll, einfach jemanden mit Pistole durch die Tür kommen zu lassen, der Rest fände sich dann schon.

Legitimierung

Braucht es einerseits natürlich nicht, Kunst ist Kunst. Aber es gibt auch die chronologische Begründung: Wenn man nacheinander Einzelstränge hätte, wäre das Erzählen nicht mehr chronologisch; bei einem Aufeinandertreffen der Stränge, oder selbst einer tangentialen Berührung, würde die gleiche Stelle mehrfach erzählt werden, aus mehreren Perspektiven. (Repetitives Erzählen, begegnet mir selten. mag ich aber.)

Alles andere wäre zu kompliziert für das Publikum. Das ist eigentlich die Begründung für den chronologischen Ansatz. Ich weiß nicht, ob sie zutrifft.

Und ich kann mir die epische Begründung vorstellen: Das Geschehen hat so eine große Tragweite, das kann nicht aus einzelnen Perspektiven geschildert werden (und sie sind um so einzelner, je länger die Abschnitte sind), es gibt ja gerade keine Instanz, die die Irrungen und Wirrungen durchschaut und für uns sortiert präsentiert. Die Auswahl der Einzelstränge wird legitimiert durch ihr Aufeinandertreffen am epischen Finale. In Indepence Day (1996) sind am Sieg über die Außerirdischen viele Parteien beteiligt (etwa: Kampfpilot, Präsident, Computerbastler, Sprühdoppeldecker-Pilot), die sich teilweise gar nicht begegnen (glaube ich), aber doch alle für den Sieg nötig sind. Aber wo hört man da auf? Die Technikerin, die den Fahrstuhl gewartet hat, mit dem der Held zum Sieg fährt, muss der nicht auch noch rein, und die Widrigkeiten, mit denen sie zu kämpfen hatte?

Alternativen dazu

Die Abenteuer einer Gruppe werden erzählt, erst als die Gruppe sich trennt, werden parallele Stränge aufgemacht. Der Wechsel dazwischen erfolgt aber nicht immer dann, wenn es langweilig wird, sondern erst, wenn sich Gruppenmitglieder wieder treffen oder trennen.

Oder einfach nicht gar so schnell herumspringen, längere Kapitel, etwa wie im Lord of the Rings.

Der Schuhkarton: In Lovecrafts Call of Cthulhu werden auch mehrere zusammenhängende Geschichten erzählt, aber nacheinander, zusammengehalten davon, dass der Erzähler Teile davon in einem Schuhkarton gesammelt findet. Tatsächlich ist die Angell Box kein Schuhkarton, sondern ein Stahlkiste, aber egal. Ähnlich: Briefroman, Tagebuchroman, etwa auch Dracula.

Mal machen: Reader’s cut

Einen gemeinfreien Text suchen und umstellen. Sozusagen den Herrn der Ringe nehmen und mit schnelleren Schnitten versehen, aus jedem Kapitel zwei oder drei machen. Oder The Destroyer of Worlds nehmen und die Schnitte rückgängig machen, die Erzählstränge zusammenfassen. Das könnte eine schöne Schullektüre werden, die eine Hälfte liest die eine Version, die andere die andere, dann vergleichen wir – mir fehlt nur ein geeigneter Ausgangstext. Bei den typischen Schullektüren gibt es diese Stränge eher selten? (Kurztexte habe ich schon mal vorbereitet und in Abschiede eingeteilt, deren Reihenfolge man zum Erzählen ändern kann, aber das nichts mit Teamwechsel, sondern mit Vor- und Rückblick und Einschüben zu tun.)


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2 Antworten zu „Geschichten mit mehreren Handlungssträngen“

  1. […] und 2043 spielen muss irgendwie mehr am Ende dabei herauskommen. Spontan dachte ich an Herrn Raus Post zu Geschichten mit mehreren Handlungssträngen und stellte mir den Evers in chronologischer Reihenfolge erzählt vor. Und er wurde noch […]

  2. […] Über Handlungsstränge und Erzählverfahren, da kann man schon wieder etwas lernen. […]

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