Gelegentlich höre ich, eher en passant in der Sprechstunde, Klagen über die verpflichtende zweite Fremdsprache am Gymnasium. Die müsse ja eigentlich nicht sein, oder? Ich weiß nicht, wie verbreitet diese Meinung ist, und ob sie durch KI-Übersetzung verbreiteter wird, aber hier meine Gedanken dazu. Gemeint ist jeweils die verpflichtende zweite Fremdsprache, bei optionalen Fächern sind ohnehin alle großzügig.
Die zweite Fremdsprache ist traditionell das, was das Gymnasium von anderen Schularten unterscheidet. Inzwischen kann man auch an der Realschule zwei Fremsprachen lernen, aber man muss das nicht, müssen tut man nur am Gymnasium – ursprünglich Griechisch und Latein, dann Latein und Englisch, an der Oberrealschule (später: naturwissenschaftliches Gymnasium) dann zum Beispiel auch Englisch und Französisch.
Nun kann man einerseits sagen, dass die Fortsetzung dieser Entwicklung wäre, ein noch naturwissenschaftlicheres Gymnasium mit nur einer Fremdsprache einzuführen. Oder man sagt, dass zwei Fremdsprachen den Markenkern des Gymnasiums ausmachen und ohne zwei Fremdsprachen keine allgemeine Hochschulreife möglich ist.
Intuitive Reaktion
Ich hätte gerne eine Schulart für die Kinder, die zwei Fremdsprachen verkraften, vielleicht sogar eine dritte. Schlecht allerdings: Wenn ich eine Schulart kriege für die Kinder, die so viel Unterstützung zuhause erhalten, dass sie zwei Fremdsprachen verkraften. Die Leistungen am Gymnasium sind in den letzten zwanzig Jahren immer weiter gesunken (nicht alle, klar, manches läuft besser), da scheint mir der Verzicht auf die zweite Fremdsprache wie eine Kapitulation.
Andererseits: Das ist ja nur ein Gefühl. Nennen wir es Wandel, Veränderung, Anpassung, Zeitgemäßheit statt Kapitulation. Meine Reaktion ist erst einmal irrelevant.
Aktueller Stand (Bayern, G9)
Stundenzahl
In den Jahrgangsstufen 5-11 haben Schülerinnen und Schüler im naturwissenschaftlich-technologischen Zweig des bayerischen Gymnasiums 72 Stunden Sprachen und 68 Stunden MINT-Fächer. Im sprachlichen Zweig sind es 54 Stunden MINT und 86 Stunden Sprachen. Der Vorwurf der MINT-Lehrkräfte, und ich höre ihn oft, dass Sprachen überrepräsentiert sind am Gymnasium, ist also nicht von vornherein von der Hand zu weisen, zumindest am sprachlichen Zweig. Wenn man MINT und Fremdsprachen vergliche, sähe das natürlich ganz anders aus.
Erreichtes Niveau
Nach der 11. Jahrgangsstufe hat man mit einer Vier im Zeugnis in Englisch B1+/B2 laut gemeinsamem europäischen Referenzrahmen und B1+ in Französisch. Die zweite Angabe bezieht sich dabei auf das Leseverstehen. Mit den entsprechenden Noten im Abitur hat man B2/C1 („grundlegendes Niveau“) beziehungsweise C1 („erhöhtes Niveau“) in Englisch, B2 („grundlegend“) beziehungsweise B2+/C1 („erhöhtes Nievau“) in Französisch. Das gilt übrigens unabhängig davon, ob Englisch oder Französisch die erste oder die zweite Fremdsprache sind. Ob diese Werte tatsächlich erreicht werden, weiß ich nicht; zumindest in der Mittelstufe werden sie in Englisch nach der einen Auswertung, die ich kenne, weit überschritten.
In der vermutlich zweiten modernen Fremdsprache (Französisch, auch: Spanisch, Italienisch) sind im Jahr 2022 etwa 10% aller Teilnehmenden zum Abitur angetreten, mindestens so viele haben also in der Kursphase die Fremdsprache weiter belegt. In Latein waren es auch viele, aber da kann ich noch weniger trennen, ob das die erste oder zweite Fremdsprache war.
Notwendigkeit für Studium
Formal ist man tatsächlich nur mit zwei Fremdsprachen, einer MINT-Mischung, etwas Gesellschaftswissenschaft und Kunst oder Musik allgemein studierfähig. Das ist kein Versprechen, dass dann wirklich alle alles können, aber eine solide Grundlage für alle Fächer.
Mit nur einer Fremdsprache kann man aber auch so ziemlich jedes Studium antreten, glaube ich, aber man muss sich früher entscheiden. Nur wer in der FOS in 11, 12, 13 den Zweig „Gesundheit“ wählt, kann Medizin studieren. Wer Lehrkraft am Gymnasium für Mathematik, Physik, Chemie, Biologie, Informatik, Sport werden will, braucht auch keine zweite Fremdsprache und keine allgemeine Hochschulreife, muss aber rechtzeitig den entsprechenden FOS-Zweig wählen. (Auch für Deutsch und Englisch reicht die fachgebundene Hochschulreife, allerdings braucht man für Deutsch Latein und eine Fremdsprache, für Englisch Latein und eine weitere Fremdsprache, da bietet sich das Abitur eher an.)
Ist die allgemeine Hochschulreife überholt? Ich glaube, dass ein geisteswissenschaftliches Studium kritischeres Denken nahelegt als ein mathematisches, informatisches oder naturwissenschaftliches, aber das ist natürlich nur eine Tendenz. In der Geisteswissenschaft glaubt man nie, die richtige Antwort zu haben; Ingenieure sind davon überzeugter, aber vielleicht ist das ein Vorurteil und liegt eher an meinem zweifelnden Temperament. Braucht man für ein geisteswissenschaftliches Studium zwei Fremdsprachen? Lernt man mit zwei Fremdsprachen in der Schule tendenziell kritischeres Denken als mit einer? In Naturwissenschaften wird vielleicht experimentiert; in Mathematik vielleicht bewiesen; das sind interessante und verwandte, aber andere Konzepte.
Warum nicht gleich Realschule?
Mit Realschule ab der 5. oder nach einem Wechsel zur 6. oder 7. Jahrgangsstufe kann man bis zur 10. Jahrgangsstufe den mittleren Schulabschluss erwerben und dann auf die FOS wechseln oder auf das Gymnasium (schwieriger, zumindest wegen der zweiten Fremdsprache) und dann in der gleichen Zeit die fachgebundene Hochschulreife erwerben, oder natürlich auch die allgemeine, mit zweiter Fremdsprache. Ist dem Kind, ist den Eltern die allgemeine Hochschulreife von Anfang an wirklich so wichtig?
Vermutlich nicht. (1) Es geht entweder darum, dass das Gymnasium besser auf eine Hochschule vorbereitet als die Kombination Realschule plus FOS. Das kann ich wirklich nicht beurteilen. Wenn das so sein sollte, weiß ich auch nicht, ob das in Lehrplan und Zielvorstellung bewusst so gesetzt ist, oder ob das ein Nebeneffekt ist – davon, dass dort mehr Schüler und Schülerinnen sind, die ein Studium nicht als Ziel vor Augen haben. (Ist das so?) Oder: (2) Es ist halt doch der Ruf des Gymnasiums als bessere Schulart. Also das, wo die besseren Leute hingehen.
Alternative
Zeitgemäßere Menschen als ich wünschen sich die Abschaffung von Schularten, Fächern und Abschlüssen. Keine allgemeine oder fachgebundene oder Fachhochschulreife mehr; studieren soll können, wer mag. Eigentlich reizvoll, dass alle, die das wollen, also vielleicht mehr als jetzt, zumindest ein Semester Hochschule erleben. (Am Ende statt Wehrpflicht sogar Bildungspflicht?) Ob das praktikabel ist, kann ich nicht beurteilen; es klingt für mich sicher nicht so, aber was weiß ich. Man müsste sich die aktuellen Studienabbrüche und ihre Gründe anschauen.
Schlechte Argumente
„Bei den Schülern und Schülerinnen bleibt ohnehin nichts hängen.“ Das ist deshalb irrelevant, weil – selbst wenn es stimmte – das bis zum Nachweis des Gegenteils (eigentlich ein interessantes Forschungsthema) für alle Fächer gleichermaßen gilt.
„Das kann man später alles auch noch lernen.“ Siehe vorhergehenden Absatz.
„Ich habe mein Französisch/meine Schulmathematik nie wieder gebraucht.“ Irrelevant, weil es nicht um dich geht.
Am Gymnasium hat es schon immer zwei Fremdsprachen gegeben.
Wenn eine zweite Fremdsprache so viele Vorteile hat, warum dann keine dritte, vierte verpflichtend?
Vermutlich schlechte Argumente
„Mit KI muss man keine zweite Fremdsprache können.“ KI heißt, dass Übersetzungen billiger werden. Fremdsprachen in der Schule dienen nicht dazu, dass man Übersetzer wird. Wenn es Gründe für eine zweite Fremdsprache gibt, dann bestehen die unabhängig davon, ob es mehr oder weniger günstige Übersetzungsmöglichkeiten gibt. Das müsste ich jetzt streng genommen begründen, ist meine erste streitbare Behauptung bisher, aber ich lasse das mal so stehen.
Relevante Argumente
Was braucht die Gesellschaft, was braucht das Individuum? Hier in England habe ich mehrfach Entschuldigungen dafür gehört „Wir sind ja so faul, wir lernen keine Fremdsprachen.“ Es ist schön, auf Englisch kommunizieren zu können, auch mein ungeliebtes und nach fünf Jahren abgelegtes Schulfranzösisch reicht noch für mehr, als ich dachte. Allgemeiner: Wie wichtig ist es für eine Gesellschaft, wenn sich ihre Mitglieder weniger oft für mangelnde Sprachkenntnisse entschuldigen müssen? Wie viel Genuss, wie viel Selbstbestimmtheit zieht man als Individuum aus Sprachkenntnissen.
Zu klärende Fragen:
- Ist man mit Gymnasium besser auf ein Studium vorbereitet als mit Realschule/FOS? Wenn ja, woran liegt das, und soll das so sein?
- Ist man mit einer zweiten Fremdsprache besser auf ein Studium vorbereitet als mit nur einer?
- Ermöglicht eine zweite Fremdsprache selbstbestimmteres Leben und mehr Gestaltungswillen für die Gesellschaft?
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