(Teilweise Wiederholung und Aktualisierung von hier, hier, hier, hier und hier. Kurzfassung: Wenn man‘s ernst nimmt, weniger Übungsaufsätze.)
Wer wissen will, was im Fach Mathematik oder in Informatik wichtig ist, braucht nur in den Lehrplan zu schauen, der leicht öffentlich zu finden ist. Das gilt wohl für die meisten Fächer. Wenn man allerdings wissen will, was im Fach Deutsch wichtig ist (in geringerem Maß gilt das auch für Englisch), dann reicht der Lehrplan dafür nicht aus. Anders als in den meisten anderen Fächern wird hier zusätzlich detailliert über Dienstanweisungen aus dem Kultusministerium gesteuert. Die sind auch öffentlich, aber nicht so leicht zu finden, zumal man als Laie – etwa von einem anderen Fach kommend – nicht weiß, dass es so etwas gibt. Etwa alle acht Jahre gibt es eine Aktualisierung der Ergänzungen zum Thema „Schreiben“ im Deutschunterricht, hier die aktuelle Fassung vom Juni 2023 (davor: 2007, 2016).
(Warum diese Lehrplanergänzungen nur für Sprachen und nicht bei den anderen Fächern? Mir fallen nur arge Spötteleien dazu ein, vielleicht ist das alles aber auch nur wenig hinterfragte Tradition. Tatsächlich gab es das in meiner Anfangszeit etwas weniger, dafür stand mehr explizit im Lehrplan.)
Zentrale Themen in diesen KMS sind stets:
- Wie fördert man das Schreibenlernen?
- Welche Art Rückmeldung zu schriftlichen Prüfungsaufsätzen sind vorgeschrieben?
- Welche Art Vorbereitung auf schriftliche Prüfungsaufsätze ist vorgeschrieben?
- Welche Art schriftlicher Prüfungsaufsätze sind zulässig oder vorgeschrieben?
1. Wie fördert man das Schreibenlernen?
Kurz: „Schreiben lernt man durch Schreiben.“ Dem stimme ich völlig zu. Schreiben auch außerhalb von Prüfungsaufsätzen ist wichtig. Dass ich das dann aber auch noch korrigieren „soll“, ist allerdings illusorisch. „Soll“ heißt ja auch, „sofern irgend möglich“, und möglich ist das nun einmal nicht, weil ich mit anderen Korrekturen schon zu viel zu tun habe. Deswegen werde ich auch weiter schreiben lassen außerhalb der Prüfungsvorbereitung, so wie hier, hier, hier, hier und hier, das aber weiter nicht einsammeln und korrigieren. Ich glaube nämlich nicht, dass man Schreiben durch Korrekturen der Lehrkraft lernt. (Das gilt sicher für meine Schreiblaufbahn, und ich neige dazu, das dann unzulässig zu verallgemeinern.)
2. Welche Art Rückmeldung zu schriftlichen Prüfungsaufsätzen sind vorgeschrieben?
Ein individueller Kommentar ist weiterhin vorgeschrieben. Muss nicht lang sein, kann ergänzt sein durch abgehakte Kriterienliste, muss aber da sein. Denn:
Charakter und Wert einer Schreibleistung lassen sich nur ganzheitlich erfassen, da es sich bei schriftlichen Arbeiten im Fach Deutsch um komplexe sprachliche und gedankliche Leistungen handelt.
Dem kleinen Wörtchen „da“ wird hier viel Aufgabe zugemutet. Und es wird impliziert, dass es sich bei Mathematik, Geschichte oder Informatik nicht um komplexe sprachliche und gedankliche Leistungen handelt. Und dass die mitunter hohlen Phrasen unter den Aufsätzen, meine nicht ausgenommen, „ganzheitlich“ sind. (Stört mich alles tatsächlich nicht sehr, ich habe nichts gegen die Kommentare. Aber mehr Freiheit für die, die das anders sehen, wäre gut.)
3. Welche Art Vorbereitung auf schriftliche Prüfungsaufsätze ist vorgeschrieben?
Ganz früher, als die Aufsatzarten noch explizit im Lehrplan standen, galt: Bekannte Aufsatzart: 1 Übungsaufsatz, neue Art: 2 Übungsaufsätze. Hartes Brot. Dann wurden die Aufsatzarten abgeschafft und es galt: Bekannte Aufsatzart: zumindest etwas üben, neue Art: 1 Übungsaufsatz. Das war natürlich etwas schwierig, weil nicht klar war, was als neue Aufsatzart gilt und was nicht. Das aktuelle KMS schafft da endlich Abhilfe: Ausreichend vorbereitet werden muss, das ist klar. Bei neuen Aufsatzformen, und die sind jetzt konkretisiert, muss ein Übungsaufsatz korrigiert werden, der aber kürzer sein darf als in der Prüfung verlangt. Bei bekannten Aufsatzformen muss schriftlich geübt werden, was auch modular möglich ist; bei der Korrektur ist nicht die Lehrkraft vorgeschrieben.
Andere Fächer haben es leichter, in Mathematik würde man sich höchst wundern, wenn da plötzlich jemand käme und vorschreiben wollte, wie man auf Prüfungen vorbereitet. Dennoch: An sich unzufrieden bin ich mit der neuen Regelung nicht, siehe weiter unten.
4. Welche Art schriftlicher Prüfungsaufsätze sind zulässig oder vorgeschrieben?
An sich steht weiterhin nichts von Aufsatzarten im Lehrplan, aber weil es in Abitur und Oberstufe und KMS weiter die Aufsatzarten gibt, gibt es in der Praxis halt doch die gleichen Aufsatzarten wie schon immer. (Neu im Vergleich zu meiner Anfangszeit ist nur das informierende Schreiben und dass es nur noch text- oder materialgestützte Aufgaben gibt, also keine dreizeiligen Erörterungsthemen mehr.) Die Namen haben sich allerdings geändert. Denn vor fünfzehn Jahren oder so wurden drei Grundformen des Schreibens postuliert: „das erzählende/gestaltende, das informierende und das argumentierende Schreiben.“
Hier eine tabellarische Übersicht über Aufsatzformen früher und heute; in Klammern die möglichen Jahrgangsstufen, zum Teil aus der Erinnerung. Und das mit der „dialektischen Erörterung“, hat es die je wirklich in dieser Formulierung gegeben? Zur Überprüfung fehlt mir der ganz alte Lehrplan, aber ich habe schon entdeckt, dass es den in der Bayerischen Staatsbibliothek zur Einsicht gibt, werde also in ein paar Wochen hoffentlich hineinschauen können.
| Früher | Heute | Grundform |
|---|---|---|
| Erzählung (5, 6, 7) Schilderung (7) | letztlich ebenso | erzählend/gestaltend |
| Bericht (5, 6) Vorgangsbeschreibung (6, 7) | (5, 6) | informierend |
| Gegenstandsbeschreibung (6) | nicht mehr zulässig | |
| Bildbeschreibung (6, 7) | nicht mehr zulässig | |
| Protokoll (8, 9) | nicht mehr zulässig | |
| Inhaltsangabe (8) Erweiterte Inhaltsangabe (9) Interpretation (10, 11) | ebenso | informierend |
| Analyse, d.h. von Sachtext (10, 11) | ebenso | informierend |
| Streitgespräch (7) (gab es nur in einer kurzen Phase) | ausgestorben | |
| Begründete Stellungnahme (8) Erörterung linear (9) | (7, 8) | argumentierend |
| Erörterung antithetisch (10) | (9, 10, 11) | argumentierend |
| Erörterung dialektisch (11) | ausgestorben | |
| Erörterung literarisch* (11) | nicht mehr zulässig? | |
| Essay (9-11) | subsumiert unter Erörterung? | argumentierend? |
| informierendes Schreiben (7, 8, 9, 10, 11) | informierend |
*Zum Beispiel: „Scheitert Werther an sich oder an seinen Umständen?“
Alles, was in einer Tabellenzeile steht, gehört jetzt insofern zusammen, dass das nicht als neue Aufsatzart zählt. Wenn man also in 7 das materialgestützte informierende Schreiben eingeführt hat, darf man das in 8 bis 11 voraussetzen. (Das ist das informierende Schreiben im eigentlichen Sinn, nämlich so, wie es im Abitur verlangt wird; die tatsächliche Neuerung, eingeführt als Teil der Angleichung an andere Bundesländer.) Und wenn ich in 5 eine Vorgangsbeschreibung gemacht habe, kann ich das als Voraussetzung für einen Bericht in 6 nehmen, so lese ich das jedenfalls. Das Argumentieren muss ich zweimal neu einführen, nämlich in 7 (linear) und 9 (antithetisch), die Interpretation fiktionaler Texte einmal in 8. Danach nicht mehr. Das ist tatsächlich eine gewisse Erleichterung.
Ansonsten halte ich die Grundform des informierenden Schreibens für didaktisch wenig gesichert. Was da alles hineingepackt wird in diesen Begriff: Vorgangsbeschreibung, Interpretation, Sachtextanalyse, genuin informierendes Schreiben. Kein Wunder, dass das dann jeweils als neue Aufsatzart gilt. Aber von mir aus, schadet ja auch nicht.
Weitere Inhalte
- Gliederungen, die früher mit benotet wurden, sind seit einer Kehrtwende vor zehn Jahren oder so weiterhin nicht mehr Teil der zu benotenden Arbeit. Und zwar, und das rührt mich dann immer wieder, in einem Tonfall, dass das doch selbstverständlich ist und nur ein blutiger Laie je hätte glauben können, dass die Teil der benoteten Arbeit sein könnten. Um die Note zu verbessern, dürfen sie allerdings herangezogen werden. Seit dem Wegfall der Benotung gibt es ohnehin kaum ordentliche Gliederungen mehr; wie hilfreich sie je waren, anderes Thema.
- Richtig neu, also seit zehn oder fünfzehn Jahren, ist die Wichtigkeit des Planens und Überarbeitens. Sehe ich auch alles so, ist aber für Prüfungsaufsätze wenig relevant. Wir werden darauf hingewiesen, dass häufiges Durchstreichen und Fußnotenmachen ein Zeichen des Überarbeitens ist und keineswegs negativ ausgelegt werden darf. (Stimme zu.)
- Weiterhin gibt es den Wunsch, die erzählende, informierende und argumentierende Grundform zu kombinieren. Nachdem das im Abitur nicht wirklich organisch der Fall ist, wird dem Wunsch wohl auch weiterhin nur wenig nachgekommen werden.
- Neu sind die Begriffe „Feed Up“ und „Feed Forward“, die den Begriff „Feed Back“ ergänzen; popularisiert durch Hattie, jetzt auch als Jargon im KMS. “Die Rückmeldung zu Übungstexten zeigt den Lernenden, was bei der konkreten Schreibaufgabe gefordert war (Feed Up)“ – wobei das eigentlich vorher klar gemacht und festgehalten worden sein sollte. Gehört für mich dazu, aber nicht in die Rückmeldung im engeren Sinn. „Feed Forward“ heißt, dass man erfährt, wie man sich verbessern kann. Alles hoffentlich schon lange Usus.
Fazit und was ich eigentlich will
Plus: Es ist endlich geklärt, was eine neue Aufsatzform ist. Man korrigiert vielleicht weniger: Wenn man das Minimum macht, heißt das für die Jahrgangsstufen 5 zwei vollständige Übungsaufsätze, für 6 keinen, für 7 ebenfalls zwei, für 8, 9 und 10 je einen, für 11, 12 und 13 gar keinen. Das ist radikaler, als ich zunächst dachte, und wird die Oberstufe in manchen Kreisen noch beliebter machen, als sie das jetzt schon ist. Immerhin wurde schon vor ein paar Monaten Material zum Thema: „Effizientes Korrigieren im Fach Deutsch“ veröffentlicht; vielleicht hat man das endlich als Problem erkannt.
Minus: Sonst keinerlei nennenswerte Änderungen, es bleibt alles beim alten. Ich mag aber nicht glauben, dass sich da nichts verbessern lässt.
Was ich eigentlich will: Bessere Schreiberziehung. Wie man dorthin kommt, weiß ich nicht. Weniger Fixierung des Deutschunterrichts auf die Aufsatz-Prüfungsformen. Aber vielleicht geht das durch Verzicht auf Übungsaufsätze und das nachhaltigem Lernen. Beim Essay heißt das, dass man den Schülern und Schülerinnen welche zu lesen gibt, erklärt, was man gerne hätte, sie darauf aufmerksam macht, dass sie über sämtliche Werkzeuge bereits verfügen, und dass man sie ihre Essays gegenseitig korrigieren lässt. Was mir auch nicht passt: die nur theoretisch freien Aufsatzformate, die dann aber durch das Abitur praktisch auf einige wenige, bekannte Formate eingeschränkt werden.
Was die Konsequenzen der Änderungen sein könnten:
- Keine, weil alles beim alten bleibt; das Beharrungsvermögen ist stark in ihnen.
- Weniger Prüfungsvorbereitung, schlechtere Arbeiten, Noten bleiben aber gleich. Im besten Fall lernt man dafür anderes!
- Mehr Schreiben (auch im Unterricht, weil sonst: Klagen), mehr Korrektur ohne die Lehrkraft. Im besten Fall führt das zu besseren Ergebnissen.
Stark zurückgegangen ist in den letzten Jahrzehnten das Einsammeln von Heften, also ob Einträge vollständig oder sauber im Heft stehen, ob Hausaufgaben darin gemacht wurden. Das halte ich eigentlich für immens wichtig, aber das mache ich im Fach Deutsch so gut wie nicht mehr. Prüfungsaufsatzvorbereitungskorrektur hat Vorrang.
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