In Bayern gibt es am Gymnasium große Leistungserhebungen und kleine. Große gibt es außerhalb der Kursphase der Oberstufe nur in Kernfächern, sie heißen auch „Schulaufgaben“. In den letzten zwei Jahren, während der Kursphase, nennt man sie auch „Klausuren“, aber die offizielle Bezeichnung laut Schulordnung ist auch da: Schulaufgaben.
Die untere Anzahl der Schulaufgaben ist in der Schulordnung vorgegeben, und niemand schreibt mehr als diese untere Anzahl. Wenn der Kultusminister andeutet, die Lehrkräfte hätten da „Spielräume“ und er brauche sie nur aufzufordern, „Augenmaß“ anzuwenden, dann… ist das irreführend. Ja, die „Anzahl nach Satz 1 kann in Ausnahmefällen um eine unterschritten werden.“ Als solche Ausnahmefälle galten bisher: längere Erkrankung der Lehrkraft. Und bei einzelnen Schüler:innen auch deren längere Erkrankung. Wenn eine Pandemie als Ausnahmefall gelten soll, bitte kommunizieren – bereits im Vorjahr hatten die Lehrkräfte an meiner Schule das versucht und sind sind gescheitet. Aber dann kam ja der berittene Bote des Kultusministeriums mit Streichungen; ich habe diesem System entnommen, dass wir auf diesen zu warten haben.
Ersatz von Schulaufgaben
Was allerdings möglich ist: 1 Schulaufgabe pro Jahr durch etwas anderes ersetzen, wenn das am Anfang des Schuljahres so beschlossen wird. Das sind die sogenannten Modus-Maßnahmen aus einer Anlage zur BaySchO. Interessant sind da vor allem folgende:
- Angesagte „Tests“ im Turnus von sechs Wochen statt Schulaufgaben
- Debatte ersetzt je eine Schulaufgabe (Aufsatz) in Deutsch und bzw. oder Fremdsprachen
- Präsentation ersetzt eine Aufsatzschulaufgabe
- Test aus formalsprachlichen und Sprachverständnisanteilen in Deutsch ersetzt eine Aufsatzschulaufgabe
Das erste scheint mir für Deutsch nicht möglich, mehr dazu weiter unten, ansonsten: Hat das schon mal jemand ausprobiert? Punkt 4 machen wir an meiner Schule regelmäßig, es flattern aber immer wieder Schreiben aus dem Kultusministerium an die Schule, dass wir das nicht machen solle, zefix, weil Aufsätze so viel wichtiger sind.
Die Sonderstellung der Deutsch-Schulaufgabe
Wie man an diesen Modus-Maßnahmen bereits sieht: Alle Schulaufgaben sind gleich, aber manche sind weniger gleich – nämlich die Schulaufgaben im Fach Deutsch. In allen Fächern dauern Schulaufgaben maximal 60 Minuten (5-11) beziehungsweise maximal 90 Minuten (12-13). Nur in Deutsch „kann die Bearbeitungszeit unabhängig von Satz 1 ab der Jahrgangsstufe 8 angemessen erhöht werden“ – wir erfahren nicht direkt, warum, aber es scheint ein Anliegen gewesen zu sein.
Der Grund ist wohl der, dass Deutsch-Schulaufgaben Aufsätze sein müssen. Weil… weil… ja, weil… uh, wo steht das eigentlich? Spoiler: Nicht in der BaySchO und nicht in der GSO, es kommt also nicht vom Gesetzgeber – und es steht auch nicht im Lehrplan. Allerdings schließt die BaySchO aus: „Im Fach Deutsch sind Diktate oder grammatische Übungen als Schulaufgaben nicht zulässig.“ Darüber hinaus ist die akzeptierte Lehrmeinung: a) Deutschschulaufgaben sind vollständige Aufsätze und b) zu diesem Zweck gibt es Übungsaufsätze, die von der Lehrkraft korrigiert werden.
Kein einziges anderes Schulfach kennt derartige Regelungen.
Die Geschichte der Deutsch-Schulaufgabe
1. Im Lehrplan des Gymnasiums ab 1990 sind die Schulaufgabenarten explizit vorgegeben:
- „Als Schulaufgabe verpflichtend sind eine Inhaltsangabe eines poetischen Textes, ein Protokoll sowie eine begründete Stellungnahme mit Gliederung.“ (Jahrgangstufe 8)
- „Als Schulaufgabe verpflichtend sind eine erweiterte Inhaltsangabe eines poetischen Textes, ein Protokoll sowie eine Erörterung mit Gliederung. Lebenslauf und Bewerbung können nicht Gegenstand einer Schulaufgabe sein.“ (Jahrgangstufe 9)
- „Als Schulaufgabe bzw. Deutsche Hausaufgabe verpflichtend sind eine Problemerörterung und eine literarische Erörterung sowie eine Interpretation eines poetischen Textes, jeweils mit Gliederung.“ (Jahrgangstufe 11)
Das heißt, es gab klar unterschiedene Schulaufgabenformen: Inhaltsangabe, erweiterte Inhaltsangabe, Erörterung, Problemerörterung.
2. Im Lehrplan des Gymnasiums ab 2003, dem 8-jährigen Gymnasium, sind diese expliziten Aufgabentypen teilweise nur noch implizit vorhanden und mitunter in Verbal- statt Nominalform gegegeben (statt „Bericht“ jetzt „berichten“). Aber sie existieren weiterhin. Das Wort „Schulaufgabe“ ist aber aus dem Lehrplan gestrichen, in ergänzenden Bemerkungen außerhalb des Lehrplans heißt es, dass aber nur die unter dem Stichpunkt „Schreiben“ genannten Punkte in einer Schulaufgabe geprüft werden dürfen, zum Beispiel:
- „von überschaubaren Geschehnissen berichten; einfache Vorgänge beschreiben“ (Jahrgangsstufe 5, hieß davor: Bericht, Vorgangsbeschreibung)
- „Inhaltsangaben und einfache Erörterungen schreiben“ (Jahrgangsstufe 8, hieß davor: Inhaltsangabe, Erörterung)
Dementsprechen halten sich im Schulalltag auch die alten Bezeichnungen Bericht, Vorgangsbeschreibung, Inhaltsangabe, erweiterte Inhaltsangabe, Erörterung, dialektische/Problemerörterung, auch wenn der Lehrplan sie nicht mehr hergibt. Der Lehrplan ist wenige Jahr vor der Kompetenzorientierung entstanden, aber er riecht schon ein wenig danach, wie auch immer man diesen Geruch einschätzt.
3. Im Jahr 2017 wurde mit viel Aufwand ein kompetenzorientiert LehrplanPlus eingeführt, der aber gleich arauf gekippt wurde, weil das 9-jährige Gymnasium so schnell eingeführt wurde wie es dereinst abgeschafft worden war. Im aktuell gültigen LehrplanPlus ist die Situation folgende, hier am Beispiel der Jahrgangsstufe 7:
- Die Schülerinnen und Schüler „wenden die Grundformen schriftlicher Darstellung (Erzählen, Informieren und Argumentieren) der Schreibsituation angemessen an.“ Das heißt, es werden diese drei Grundformen postuliert, und möglichst oft sollen sie gemischt auftreten – im Anschluss an das Informieren ein bisschen Argumentieren, und das Argumentieren mit einem erzählenden Einstieg oder einer Anekdote auflockern, wohl.
- Die Schülerinnen und Schüler „verfassen informierende Texte über einfache Sachverhalte [materialgestützt]“ oder „informieren über das Thema und wesentliche Handlungsschritte literarischer Texte“ – in Jahrgangsstufe 8 erweitert zu: „informieren über literarische Texte, indem sie das Thema formulieren und den Inhalt sowie wesentliche Zusammenhänge darstellen.“
- Die Schülerinnen und Schüler „nehmen begründet Stellung zu Themen ihres Erfahrungsbereichs“, was früher, also schon immer, als Schulaufgabenart „Begründete Stellungnahme“ hieß, jetzt aber nicht mehr.
Heißt: Es gibt keine fixen Schulaufgabenarten mehr. Es gibt nur die drei Grundformen Erzählen, Informieren, Argumentieren. Angekommen ist das in der Schule noch nicht richtig, und ich weiß auch nicht, ob das wirklich gewollt ist: Wir stellen immer noch Begründete Stellungnahmen, Berichte, Vorgangsbeschreibungen, Inhaltsangaben und erweiterte Inhaltsangaben als Themen. Das liegt an Entscheidungen des Kultusministeriums. In einem KMS steht zum beispiel explitit für die 7. Jahrgangsstufe:
- „Daher ist die Inhaltsangabe als Schreibform für eine Schulaufgabe erstmals ab Jgst. 8 vorgesehen, in Jgst. 7 dezidiert nicht mehr.“
Also gibt es jetzt doch noch die Inhaltsangabe als Schreibform? AHEM. KANN ICH DANN BITTE EINE AMTLICHE LISTE DER SCHREIBFORMEN HABEN?
Die Rolle der KMS
Laut BaySchO dürfen Deutsch-Schulaufgaben keine „Diktate oder grammatische Übungen“ sein. Sonst steht nirgendwo etwas zu dem Thema, was in eine Deutsch-Schulaufgabe soll – außer in diversen KMS. Ein KMS ist ein Schreiben und eine Dienstanweisung von irgendjemand aus dem Kultusministerium. Davon gibt es viele, sehr viele. Im Ministerium, so erzählte mir ein Mitarbeiter, gibt es auch keinen Überblick darüber, welche KMS wann von wem verschickt wurden und welche noch gelten und welche nicht. Es gibt dementsprechend auch für uns Lehrkräfte kein Archiv, keine Stichwortsuche. Manchmal findet man ein altes, verstaubtes KMS, in dem zum Beispiel steht, dass Verbindungslehrkräfte ein Anrecht auf eine Anrechnungsstunde haben, dann kann man damit winken und darauf pochen, sonst halt nicht. (Beispiel aus meiner Personalratszeit.) So ein KMS ist manchmal ernst gemeint, manchmal nicht. („Wir bitten Sie deshalb, im Zuge der Erstellung des Medienkonzeptes an Ihrer Schule verbindlich sicher zu stellen.“)
Für Deutsch und Englisch gibt es immer mal wieder Schreiben von jemand Zuständigem, auf was man bei Prüfungen oder Sonstigem zu achten hat. Die sind ernst gemeint. In der Regel ist das ein Ministerialrat oder ein Ministerialdirektor, jemand, der es wahrscheinlich sogar gut meint, jemand, der sich vielleicht Rat bei einer notgedrungen sehr kleinen Zahl an Fachleuten oder Menschen von der Universität einholt – vielleicht aber auch nur jemand mit Erinnerungen an die eigene Schulzeit und einer Meinung dazu. So kommt es zu unter Fachleuten umstrittenen Regelungen im Englischunterricht. (Jochen Lüders hat dazu etwas geschrieben) Und auch für Deutschaufsätze gibt es solche KMS.
KMS für den Aufsatzunterricht
1. Ganz früher, zum ganz alten Lehrplan, stand da: Vor bekannten Schulaufgabenformen muss mindestens 1 Übungsaufsatz geschrieben werden, bei neuen Schulaufgabenformen sogar 2. Und was eine Schulaufgabenform war, das stand ja explizit im Lehrplan, siehe oben – eine „Inhaltsangabe“ ist eine andere Form als eine „erweiterte Inhaltsangabe“.
2. Zum nicht ganz so alten Lehrplan des 8-jährigen Gymnasiums wurde schon weniger verlangt: „Jede Schulaufgabe bedarf der Vorbereitung durchschriftliche Übungen; die Anforderungen der geschlossenen Darstellung sind dabei angemessen zu berücksichtigen. Die schriftlichen Übungen, darunter bei neu eingeführten Formen ein vollständiger Übungsaufsatz.“ Das heißt übersetzt: Bei neuen Formen 1 Aufsatz, in anderen Fällen muss schon irgendwie schriftlich geübt werden, eventuell aber auch nur in Form von Aufsatzteilen. Was eine neue Form ist… schon schwieriger, weil die ja nicht mehr explizit im Lehrplan steht. (Außerdem stand im gleichen Schreiben, dass die Gliederung wesentlicher Teil des Aufsatzes ist und mit benotet werden muss, was ein paar Jahre später abgelöst wurde dadurch, dass die Gliederung kein wesentlicher Teil des Aufsatzes ist und nicht mit benotet werden darf. Das senkt das Vertrauen in solche Schreiben.)
3. Aktuell gilt ein KMS aus dem Jahr 2016. Dort steht, dass das erzählende, informierende und das argumentierende Schreiben Grundformen sind, die von Jahrgangsstufe zu Jahrgangsstufe weiterentwickelt werden „in geeigneten Textsorten zunehmend kombiniert werden“ können. Dabei „kommt den in der Realität vorfindlichen Textsorten eine besondere Bedeutung zu.“ (Außer beim Abitur, wo man stolz darauf ist, dass es für die meisten Textsorten eben kein Vorbild „in der Realität“ gibt, denn eine solche Aufgabe „dient dem Erkenntnisgewinn“ und „erfüllt eine dezidiert
wissenschaftspropädeutische Funktion.“ Aber das ist ein anderes Thema.)
Über alle Jahrgangsstufen hinweg gilt: Schreiben lernt man durch Schreiben. Darum sollten die Lernenden – neben umfassenden Schreibaufträgen – zahlreiche Gelegenheiten erhalten, kürzere Texte zu verfassen.
Okay… darf ich die dann auch als Schulaufgabe stellen? Ich finde da nichts, das dagegen spricht. Ein „in sich geschlossener Text“ soll es sein – da gibt es auch kurze.
Die Schreibprodukte sollen regelmäßig einer kriteriengeleiteten Rückmeldung durch die Lehrkraft unterzogen werden;
Okay… Rückmeldungen in Form eines Kriterienkatalogs zum Ankreuzen sind aber weiterhin nicht zulässig.
Vor der Schulaufgabe erhalten die Lernenden gezielte Rückmeldungen von Seiten der Lehrkraft zu schriftlichen Übungen, die die Aufgabenform vorbereiten, darunter bei neu eingeführten Formen zu einem Übungsaufsatz.
Ahem. Ich wiederhole: Was sind diese ominösen Schulaufgabenformen? Was sind „neu eingeführte Formen“, wenn es doch vor allem um das Erzählen, Informieren, Argumentieren geht, und am besten in Mischform? Ist das Fortführen eines Anfang eine neue Form, wenn man schon Erzählen auf Basis von Reizwörtern gemacht hat? Ist Argumentieren in 9 eine neue Form im vergleich zu Argumentieren in 8 oder in 7? Wenn davon abhängt, ob ich einen ganzen Übungsaufsatz korrigieren muss oder nicht, spielt das doch eine gewisse Rolle.
Es klingt so, als sei das Kultusministerium nicht mit dem aktuellen Lehrplan vertraut. Das Konzept Schulaufgabenform stammt noch vom vorletzten.
Fazit
Wir sollten kürzere Aufsatz-Schulaufgaben schreiben, nur jeweils 1 Seite oder so, später auch mal 2. Das sind 200 bis 400 Wörter. Das reicht, um zu informieren, zu erzählen, zu argumentieren. Und wir sollten keine vollständigen, überholten Aufsatzformate verwenden, sondern kurze Schreibanlässe: den passiv-aggressiven Zettel für den Nachbarn oder Mitbewohner, die Weihnachtskarte, den Beileidsbrief.
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