Zwischendurch gemacht in der Q12: Jeder Schüler sollte ein Gedicht schreiben, das – für Mitschüler – möglichst nicht von einem echten expressionistischen Gedicht zu unterscheiden war. Danach sollten die Gedichte bei Moodle hochgeladen werden, wo ich sie dann zusammenstellen und eine Abstimmung darüber anlegen würde. Und so geschah es auch: letztlich schafften es dreizehn der anwesenden Schüler, ihr Gedicht pünktlich abzuliefern; ich legte selber noch ein nachgemachtes Gedicht von mir dazu (im Unterricht entstanden) und ließ den Parallelkurs abstimmten, welches unter den Gedicht das angeblich echte sei.
Erstaunlicherweise verteilten sich ein Großteil der Stimmen auf genau zwei Gedichte, und meines war nicht dabei. Die Gewinner bekamen Schokolade. Ein echtes expressionistisches Gedicht war entgegen meiner Ankündigung nicht dabei gewesen, da ich vermutet hatte, dass das dann doch jeder sofort erkennen würde. Inzwischen bin ich mir nicht so sicher.
Ich habe hier mal die Schülergedichte, das Lehrergedicht und ein echtes Gedicht aus der Sammlung Menschheitsdämmerung von Kurt Pinthus in alphabetischer Folge zusammengestellt. Ich habe drei Fragen, falls jemand meiner Leser mitspielen möchte: welches Gedicht ist das echte, welches ist von mir, welches haben die Schüler mit Abstand zu einem echten erklärt?
1
Das EndeVon weit her nähert es sich an,
Der Schneesturm es begleitend.
Es baut sich auf wie ein Mann,
Die Gnade vom Gesichte weichend.In einem schnellen Tanze es sich bewegt.
Durch das Dunkle der Gassen sich frisst.
Wo es brauste, sich nichts mehr regt.
Es nimmt des Menschen letzte Lebensfrist.—
2
Die Lagerfeuer an der Küste rauchen.
Ich muss mich niederwerfen tief in Not.
Leoparden wittern mein Gesicht und fauchen.
Du bist mir nahe, Bruder Tod.Verworren zuckt Europa noch im Winde
Von Schiffen auf dem fabelhaften Meer;
Durch die ungeheure Angst bricht her
Schrei einer Mutter nach dem kleinen Kinde.—
3
Es wird dunkel, die Nacht bricht herein.
Das tödliche Ungeheuer nähert sich der Stadt,
und die Bewohner beginnen zu schrein.
Der feurige Atem entzündet die Wälder
und vernichtet die Welt; doch als die Sonne erwacht
wird die Welt neu gemacht.—
4
Gebäude brennen lichterloh,
Kinder schauen nicht mehr froh.
Schweifende Blicke gehen umher,
Leben gibts nun nimmermehr.Gebäude brennen lichterloh,
nun hüpfen Flammen, wie die Kinder so.
Ein lachendes Inferno frisst die Stadt,
Feuer setzt die Stadt schachmatt.—
5
Häuser stehen leer,
es brennt.
Menschen laufen wild umher,
man rennt.Winde wehen von den Türmen,
man fängt an die Bank zu stürmen
um dann noch sein letztes Geld,
in der kaputten, toten Welt
in den Kneipen auszugeben.Häuser stehen leer,
es rennt.
Menschen laufen wild umher,
man brennt.—
6
Leute laufen durcheinander, umeinander, umher
tausend helle Schreie toben in den Gassen laut
durch die Straßen jagt ein riesen Menschenmeer
bis in der Früh der Morgen grautVon den Dächern stürzen schwarze Felsen
und schlagen einen Jeden tot
Millionen schreien aus vollen Hälsen
und das Menschenmeer wird langsam rot.—
7
NachtruheSchwarze Nacht. Fahrt
Ohne Ende tönen Wogen,
Schleppen Schleier aus Dunst
In die lichtlose Stadt.
Kein Schrei, nur jede Ecke
Misstraut der nächsten Kante
Und Kurven flüchten in die Dunkelheit.
Dunst und hoher Kamine Rauch
Türmen sich zu Missgebilden,
Töten wenn der Morgen graut.—
8
NeuanfangDie Welt geht unter
auch Gott lässt sie sterben, denn ihn gibt es nicht.
Menschen munter Welt zu retten
wirres Chaos entbrichtMenschenfluten in den Scherbenhaufen der Städte,
Lüstern,
Neues zu erschaffen.
Die Muskeln des Untergangs langsam erschlaffen.Der Neuanfang liegt nun im Bette
und erwacht.—
9
NudrevKanonen kriechen schreiend Richtung schwarze Mauer,
Feuer trümmert Hand entzwei,
Ostens steht des Reiters rote Auge Lauer,
Gleich zerstört das Heer in Reih‘.Tausend Waffen sind schon tot,
Tyrann den Zug regiert,
Blauer Fluss in großer Not,
Schwarz Tod den Mord negiert.—
10
SchicksalIn den Städten peitschte die rote Feuerbrunst,
Keiner mag das Ausmaß kennen, es zu überleben
Und schaut, hört ein neues dunkles Beben,
Warum geschieht dies hier, die Menschen haben keinen DunstEs ward Morgen, als alles still und farbenfroh erwachte,
Doch von den Städten waren keine Massen
Es war das Ende vieler, es rasteten alle Rassen
Nur das blaue Meer bewegte sich sachte1—
11
Schwarze Fahnen windig wehen,
Häuserdächer tiefes Gröhlen,
Tod und Teufel durch die Gassen,
um zu holen diese Massen.
Wie Nacht und Nebel, Finsternis und Dunkelheit,
die Welt dem Ende, Dämmerung und Einsamkeit.
Bis zum Morgen, Angst und Schrecken,
bis die Glocken Menschen wecken.—
12
UntergangDunkel färbt sich der Himmel,
Schreie laufen durch das Land
und von den Vögeln überall Gewimmel.
So war’s bisher niemandem bekannt!Die Meere türmen sich zu Bergen,
Häuser brechen in sich zusammen,
Menschen laufen auf Millionen Scherben.
Alle sind in dieser Welt gefangen.—
13
Vom Mantel springt dem dicken Mann ein Knopf
Und Mädchen lächeln wohlig und verzückt.
Ein Herr verliert im Übermut den Kopf
Und ferne Hunde bellen wie verrückt.Die Züge fahren auf den morschen Schienen
Und Pferde legen sich zum Sterben hin
Herunter purzeln Reitersleut mit ihnen
Und freuen sich an ihrem heitern Sinn.—
14
Welt der KontrasteBrennend kommt er der Stadt entgegen,
brennend die Lichter auf allen Wegen.
In Dunkelheit und Kälte sehr
die Nacht entzündet die Flammen wie Meer.Mal warm, mal kalt, dunkel und hell
die Welt geht zu Grunde mal langsam, mal schnell.
Sie fallen und fallen, die Welt, der Himmel ist grell
er stirbt und raucht auf dem brennenden Fell.—
15
Zerrissen sind die ansichten
Voller zweifel findet sicht
Alles gleicht dem nichten
Am ende entsteht licht
Verlangen steigert sehr
Ende ist nicht mehr
Wie oben angedeutet: ich bin mir nachträglich nicht sicher, dass Schüler das echte Gedicht als solches erkannt hätten. Ich bilde mir erstens ein, dass das echte Gedicht herausssticht unter all den anderen, und dass ich zweitens bei fast allen Schülergedichten den Finger auf eine Stelle legen kann, von der ich sage: hier hakt es! (Auch wenn der Rest gut ist.) Und ich glaube drittens, dass meine Schüler diese Stellen nicht als solche erkennen.
Das soll übrigens kein Vorwurf an die Schüler sein, sondern eine Feststellung. Vielleicht ist das auch gar nicht schlimm. Vielleicht ist das auch ein Punkt, um didaktisch anzusetzen. Ich würde gerne mehr Lyrik machen, aber weniger Epochen. Und einen Wahlkurs „Gedichte schreiben“ vielleicht.
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