Bov Bjerg, Der Vorweiner

(Weitgehend spoilerfrei, bis auf mein neues Lieblingswort.) Der Roman spielt in einer mittelnahen Zukunft, die sprachlich so verfremdet ist, dass man sich erst einmal zurecht finden muss. Das ist geradezu ein besonderes Vergnügen bei moderner utopischer Literatur: Da stellt uns kein Gulliver das fremde Land vor, kein Mensch der Gegenwart schläft nach einem Treffen eines sozialistischen Bundes ein und erwacht in der Zukunft und erklärt sie uns; man wird mitten hinein geworfen und muss sich den Slang aus A Clockwork Orange erschließen, man muss herausfinden, was eine Stimmungsorgel ist oder warum die Uhren dreizehn schlagen.

Die Notwendigkeit, auf alles gefasst zu sein und mit allem zu rechnen, kann auch zu Schwierigkeiten führen. Wenn es etwa recht früh heißt: „Die Seniormaklerin schwebte Anna am Empfangstresen entgegen,“ dann weiß ich nicht, ob das eine Metapher ist oder doch eine tatsächlich schwebende Gestalt. Ich entscheide mich für die Metapher und bin den Rest des Buchs überzeugt, damit richtig gelegen zu haben – bis mich am Ende doch noch eine Figur mit einer unerwarteten Anzahl von Händen überrascht.

Spätestens ab dem genialen Begriff und Konzept der Klickbeuterin, für das allein das Buch gepriesen sei, habe ich mir die meisten der vielen, vielen Neologismen herausgeschrieben. – Klickbeuterin: produziert Nachrichten für eine Welt, wie sie auch in Idiocracy geschildert wird; die Ehrenhaften in diesem Beruf achten darauf, dass wenigstens ein wahrer Kern oder eine wahre Tatsache in jeder Nachricht ist. Die Erzählerin ist eine solche; die beiläufig erwähnten knallbunten Nachrichtensammlungen, aus denen sie schöpft, habe ich auch im Regal stehen. Sie (die Erzählerin) lebt in einer Kellerwohnung, das Fenster hoch oben, draußen regnet es – von Will Eisner gibt es eine wortlose Doppelseite, auf der Geschichten nur aus dieser Perspektive anhand der Beine der Vorüberkommenden gezeichnet und erzählt werden.

Ich glaube, es gibt wenig äußere Handlung im Roman, tatsächlich könnte man die zwei leicht verwobenen Handlungsstränge auch in einer Novelle unterbringen; vielleicht habe ich manches auch nicht mitgekriegt. Für mich geht es weniger um die Personen im Roman und ihre Schicksale; nur eine Szene geht mir emotional nahe, nur von einer Figur hätte ich gerne noch mehr erfahren. (Bartel, der mich an Figuren aus Welten von Carl Amery erinnert.) Auch die verfremdende Sprache trägt zu einer gewissen Distanzierung bei. Vielmehr ist die geschilderte Welt das, um das es eigentlich geht. Und die ist schon sehr gut gemacht. Ganz viel wird sehr geschickt en passant vermittelt. Manche Ideen sind zuerst nur einfache Scherze, wie die weiße Latexfarbe, die bereits von den Alpen abbröckelt. Aber wenn dann lapidar, in einer ganz knappen Parenthese, von der Live-Übertragung des letzten schmelzenden Quadratmeters berichtet wird („Danach drei Minuten Geigen.“), dann hat das schon eine schmerzhafte Qualität.

Ich habe ja mal fast Auerhaus von Bov Bjerg als Schullektüre gelesen, Q12, recht kurz vor dem Abitur, war schon ausgeteilt, aber dann kam die Covid-Schulschließung dazwischen und wir haben nicht viel damit gemacht. Der Vorweiner wäre eine tolle Fundgrube für den Unterricht, würde Schüler und Schülerinnen aber wohl überfordern; die haben mit herkömmlicher Erzählweise genug zu kämpfen. Aber vielleicht doch mal ein Kapitelchen?

Der Verlag schreibt, der Roman sei „barock wie ein Menuett, gegenwärtig wie ein Liveticker, fernsichtig wie eine Vorhersage.“ Bin schon äußerst gespannt, was das Feuilleton damit anfangen kann. Wer gepflegte Phantastik mag, wie die Leute vom guten SFCD (Science Fiction Club Deutschland), für die ist das etwas; auch wer Sprachwitz und gute Formulierungen mag, dem kann ich das empfehlen. Um Längen, Längen, ach was, Längen besser als Corpus Delicti, das ich mal lesen musste, und das in einer ähnlich nahen oder entfernten Zukunft spielt, mit einem Schwerpunkt, bei dem ich ständig mit den Augen rollen musste.


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