Lagerfeuerliederhandschriften

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Auf der Kundgebung gegen AfD, Antisemitismus, Rassismus, Rechtsextremismus gewesen. Ein Lichtermeer waren wir, sehr praktisch mit dem Handy: ich hatte nicht immer die Taschenlampenfunktion an, zwischendurch auch mal nur das mildere Licht meines EPUB-Readers. Gleichzeitig klatschen und mit Handy leuchten ist aber nur schwer möglich; man muss sich entscheiden, oder man nimmt Klatschgeräusche aufs Handy auf und spielt die per Knopfdruck ab, aber soweit wollte ich dann doch nicht gehen.

Auf dem Klavier gab es zwischen den Liedern einige Takte „Bella Ciao“ als Überleitung, wir sangen auch Antifaschistisches auf die Melodie von „Hejo, spann den Wagen an“, und all das erinnerte mich an die Lagerfeuerlieder meiner Jugend.

Ich war nicht in vielen Lagerfeuersituationen, vielleicht dreimal, aber das war insgesamt schon prägend. Dazu kam ein Liederbuch, zu dem ich weiter unten noch etwas schreiben werde, in dem die Lagerfeuerlieder standen, und das ich halbwegs durcharbeitete. Jedenfalls kannte ich „Bella Ciao“ schon von damals. Und wie die anderen Lieder heißen, an die ich mich gleichfalls erinnerte, das habe ich jetzt recherchiert. Für die Generation vor mir alles olle Kamellen, wie sich herausstellte.

„Weit in der Champagne im Mitsommergrün“, die erste Zeile wusste ich noch, ein uraltes Lied zum Ersten Weltkrieg – uralt, ja, Pustekuchen. Ich wusste noch, dass es einen englischen Text dazu gibt, stellt sich heraus: das Lied heißt im Original „No Man’s Land“ und ist von Eric Bogle aus dem Jahr 1976. Hannes Wader hat es als „Es ist an der Zeit“ ins Deutsche übertragen.

„Die Moorsoldaten“ (1933), ein trauriges Lied aus einem Konzentrationslager.

„Dos Kelbl“ ist auch drin im Buch, Melodie von Sholom Secunda und jiddischer Text von Aaron Zeitlin, 1940 für ein Musical entstanden, der Hintergrund ist auch die Ermordung im Konzentrationslager. Mir ist der jiddische Text vertrauter, weil Lagerfeuer, aber man kennt es vor allem aus der späteren englischen Übersetzung als „Donna, Donna“ von Joan Baez oder Donovan, woher ich sicher die Melodie hatte, bevor ich das Lied bewusst wahrnahm.

Die Beschäftigung mit Musik und der halben Handvoll Lagerfeuern war sicher wichtig für mich. Damals waren die Lieder für mich aber Beschäftigung mit der Vergangenheit, dass sie wenige Jahre zuvor Teil der Friedensbewegung waren, wusste ich nicht, dass es in der Zukunft Anlass geben würde, sie wieder hervorzuholen, noch weniger.

(Ist das am Ende als Neonazi ähnlich? Sitzt man da als Kind am Lagerfeuer, singt gemeinsam „Die Wacht am Rhein“ wie Major Strasser und seine Bande in Casablanca oder gleich das Horst-Wessel-Lied, und das prägt einen dann? Gilt das nur für Generation-X-Neonazis? Böse Menschen kennen sicher auch Lieder.)

Das oben erwähnte Liederbuch hieß 303, vermutlich, weil 303 Lieder darin waren. Es musste aus der kirchlichen Jugendbewegung stammen, kam vielleicht über meinen Bruder in den Haushalt? Es gab Gospels drin und Traditionals, deutsche und irische Volkslieder, Beatles, wenig Woody Guthrie, mehr Pete Seeger, gesellschaftskritische Hits der 1960er Jahre. Nichts aus der musikalisch so reichen amerikanischen Depressionszeit, „Brother, Can You Spare A Dime“ etwa, das kannte damals keiner.

Irgendwo im Blog habe ich das sicher schon einmal geschrieben: Als es im Germanistikstudium um mittelalterliche Liederhandschriften ging, spielte natürlich auch Editionsgeschichte eine Rolle. Darum, dass die Liederhandschriften alle voller Fehler waren: Fehlzuschreibungen, weil herumziehender Interpret und ursprünglicher Dichter vermengt wurden, Verhörer, Schreibfehler, fehlende Strophen, doppelte Strophen, Strophen in falscher Reihenfolge – und all das findet sich ebenso in 303. Die Texte mit der Maschine getippt, die Noten und Akkorde handschriftlich, ebenso die Namen der Interpreten, sofern vorhanden. Urheberrecht kein Thema, damals.


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12 Antworten zu „Lagerfeuerliederhandschriften“

  1. Danke für diesen Text, mir fielen zwei Liederbücher vom „Lagerfeuer“ ein: „Student für Europa“ und „Mundorgel“, beide zerlesen in meinem Fundus. In den 70-er Jahren war ich bei einem internationalen Jugendtreffen in Frankreich, dort stellten sich die Länder vor. Die Gruppe aus D, deren Leiterin ich war, stellte sich mit dem Lied „die Affen rasen durch den Wald“ vor. Seitdem ist das Liedgut der Kinder noch geschrumpft, was ich sehr bedauere.

  2. Die Mundorgel hatte ich auch, sogar für die Schule angeschafft, glaube ich, in der 3. Klasse, also eine ganze Weile vor den Lagerfeuer. Zwischen 4. und 5. Klasse noch benutzt, es gibt einen Sommerferienfoto von mir damit. Ich würde ja selber gerne mehr singen, aber ich treffe die Töne nicht und höre das. Liedgut wäre eigentlich schönes Kulturgut, aber es gibt wohl kaum mehr Singanlässe.

  3. Aginor

    Die Mundorgel kenne ich auch, und ja, ist bissl altbacken.
    Ich hatte eher moderne Sachen am Lagerfeuer dabei, Texte und Akkorde aus dem Internet ausgedruckt. Nirvana, Ärzte, Hosen, Metallica, Oasis u.v.m.
    Aber ein paar der alten Kamellen (70er und früher) kommen immer gut an. Hannes Wader, Reinhard Mey, und ja, auch das eine oder andere Wander- oder Volkslied oder so aus der Mundorgel oder Liederkiste/Liederkarren (und anderen Liederbüchern des gleichen Verlags.)

    Zu den Liedern der Gen-X-Neonazis:

    Ja, teilweise. Vielleicht nicht gerade als Kind am Lagerfeuer, aber als Jugendlicher im Treff der Dorfjugend schon.
    Oder auf Volksfesten, wo von Bands ab und an mal instrumental ein oder zwei Lieder gespielt werden, und die entsprechend Eingeweihten mehr oder weniger Leise mitsingen. Oft sind es auch Untexte zu existierenden Liedern, das macht das ganze legaler. Man kann ja immer sagen dass man das Original meinte.
    Selbst als nicht-Nazi hat man viele davon gehört, und einige sind eingängig genug, dass sie (mit-)gesungen werden und Teil der – ich nenne es mal „Dorfjugend-Kultur“ – sind.
    Z.B. Lieder von der als kriminellen Vereinigung verbotenen Neonazi-Band, die mit „L“ beginnt. Vermutlich wissen Sie wen ich meine.
    Wenn man nicht rechter Gesinnung ist runzelt man die Stirn oder lacht über die idiotischen Texte. Und die rechts gesinnten Leute versichern einem auch dass sie das ja auch nur als Jux spielen. Ist ja keiner Nazi. Und auf die Fresse will man ja auch nicht.

    Gruß
    Aginor

  4. Natascha

    Vielen Dank für den schönen Anstoß und die gleichfalls schöne Erinnerung! Glücklicherweise erneuern wir sie zweimal im Jahr, weil wir mit sieben Familien einen „Familienkreis“ bilden und einer sehr gut Gitarre spielt (semiprofessionell). Da wird beim jährlichen langen Wochenende am Lagerfeuer gesungen, und dann noch einmal Weihnachtslieder im Advent. Inzwischen haben wir eigene Liederbücher dafür, aber den jeweiligen Texten sieht man an, dass sie aus verschiedensten Quellen stammen – mal mit Erläuterung (die übrigens auch durchaus falsch ausfallen kann), mal ohne…

    Ich könnte noch „Die Gedanken sind frei“ und „Bergvagabunden“ beisteuern – angeblich übrigens ein nationalsozialistisch-kritisches Lied, eine andere Quelle sagt aber, das Lied sei erst in den 1950ern entstanden.

    Die Macht solcher Erinnerungen hängt m.E. an der Verbindung von emotionalem Wohlgefühl, das verknüpft ist mit Gemeinschaftsgefühl (Singen am Lagerfeuer ist halt immer in der Gruppe, und alle machen mit, und das übliche Gruppengezicke ist für einen Moment erloschen) und positiv besetzter Ausnahmesituation (Urlaub, Gruppenfahrt, Camp, Hüttentour). Ob das afrikanische Gesänge, voodoo oder Nazi-Liedgut ist, ist vermutlich ziemlich egal.

    Gesungen wird aber wirklich nur noch wenig: Ein Hüttenwart in den Alpen erzählte uns, früher wäre jeden Abend gesungen worden, jetzt würde nur noch ganz selten jemand nach den Liederbüchern fragen. Sehr schade…

    Aber wer weiss, vielleicht schwappt über die Schlagerwelle ja auch noch Lagerfeuer-Liedgut über…

    Herzliche Grüße und schon mal einen guten Start an der Neuen Schule – wann geht’s los?

  5. @Natascha: Das mit der neuen Schule geht los in zwölf Tagen. Bin heftig am Einarbeiten in die Vertretungsplanungssoftware und Herumsorgen, aber aber das wird schon.

    @Aginor: Danke für den Einblick!

  6. Lempel

    Ich finde es ehrlich ein bisschen schade, dass Ihr Potenzial bald in der Bedienung von Stundenplansoftware verschleudert wird. Mir ist es ein Rätsel, warum bei uns Leute so lange Jahre studieren, im Unterrichten ausgebildet werden, den Job dann bestens machen und dann in A15 in der Bedienung einer öden Software landen.
    Den Job könnte doch genauso jemand nach dem Besuch der Verwaltungsfachhochschule in A10/A11 machen. Sie machen so kreativen, fachlich fundierten und engagierten Unterricht. Für mich sehr schade, dass Sie dem in Zukunft weniger nachkommen!

  7. Staying Pony

    Könnte es sein, dass es nach 30 Jahren einfach reicht, „den Job“ bestens gemacht zu haben, weil es eben kein „Job“ ist?
    Das bisschen Ausbildung „im Unterrichten“ (gerade mal 2 Jahre, von denen man schon immer ein Jahr vor allem Personallücken gestopft hat) ist auch kein Argument, den Arbeitsplatz nicht zu wechseln. Mal ganz abgesehen davon: welcher Arbeitnehmer bleibt denn mehrere Jahrzehnte auf der gleichen Stelle, übernimmt aber mit fortschreitender Laufbahn nur immer noch mehr Aufgaben? Altgediente Buchhalter vielleicht, Fossile aus der Registratur, Hausmeister?
    Für Lehrkräfte sind die Auswege aus der Tretmühle eben doch sehr überschaubar.

  8. Ich verstehe den Gedanken, lempel. Ich glaube auch, dass Unterrichten das ist, wofür ich am besten eingesetzt werde. Andererseits habe ich nach den Anfangsjahren immer schon zu einem Teil anderes gemacht, habe immer Abwechslung oder Entlastung mit irgendwelchen Zusatzjobs gehabt. Und jetzt werde ich dann halt nur einen großen Zusatzjob haben statt vieler kleinerer.
    Und vielleicht braucht ja auch die junge Generation Platz zum Ausbreiten, wenn so ein Platzhirsch mal weg ist.

  9. Viola Höll-Schwennen

    Haben Sie das Liederbuch „303“ zufällig noch? Ich erinnere mich gerne daran, auch in meiner Jugend war es am Lagerfeuer dabei, jedoch nicht mehr auffindbar heute und auch antiquarische Suche war nicht erfolgreich.

  10. Nein, leider nicht; das Buch ist vielleicht bei meinem kleinen Bruder, möglicherweise auch ganz verschollen. Ich hab nur eine Handvoll Kopien. Und so wenig Spuren, wie ich im Web davon finde, glaube ich langsam, dass es das Buch nie gegeben hat. Hieß es am Ende gar nicht so, sondern etwa 404, oder bringt mich da der gleichnamige Fehlercode durcheinander?

  11. Schuster

    Hallo Herr Rau.
    Es ist kein Hirngespinst… 303 gibt/gab es tatsächlich. Kommt irgendwo aus dem Bereich Oberpfalz. Meine Freundin hat zwei davon und hütet sie wie ihren Augapfel- ist offiziell vergriffen.

  12. Oh wie schön, ein Lebenszeichen! Offiziell vergriffen: vermutlich nicht mal offiziell erschienen, das ist da vom Urheberrecht her so was von nicht zeitgemäß, auch wenn das andere Zeiten waren. (Tät mich nur interessieren, ob es nur die Ausgabe gab, die ich kenne, oder spätere, überarbeitete, aktualisierte Versionen?)

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