Bis einschließlich zur Lehrplangeneration 1992 gab es Aufsatzarten, die als solche explizit im Lehrplan standen:
Als Schulaufgabe verpflichtend sind eine Inhaltsangabe eines poetischen Textes, ein Protokoll sowie eine begründete Stellungnahme mit Gliederung.
8. Jahrgangsstufe, Lehrplangeneration ab 1992
Seit der Lehrplangeneration 2003 steht nicht mehr drin, was als Schulaufgabe (=großer Leistungsnachweis) vorgeschrieben ist; Aufsatzarten standen zuerst noch implizit drin, im aktuellen Plan gibt es nur noch so etwas wie:
[Die Schüler und Schülerinnen] wenden die Grundformen schriftlicher Darstellung (Erzählen, Informieren und Argumentieren) der Schreibsituation angemessen an, ggf. auch in Kombination.
8. Jahrgangsstufe, Lehrplangeneration ab 2017
Diese Grundformen schriftlicher Darstellung – die mir als Begriff nicht sehr belastbar scheinen – können also laut Lehrplan kombiniert werden; das Kultusministerium wünscht sich in außerlehrplanlichen Schreiben sogar explizit, dass wir Lehrkräfte das tun; direkt vorgeschrieben oder auch nur erklärt ist es aber nicht.
Beispiel (meins)
Ob das im Sinne des Kultusministeriums ist, weiß ich nicht, aber hier ist die eine gemischte Aufgabe, die ich mal gestellt habe:
Du sollst eine Episode im Leben einer Serienfigur schreiben, und zwar eines Holzfällers oder einer Holzfällerin, die als Hobby oder Nebenberuf für die Monsterpedia arbeiten – eine Sammlung von Informationen über Monster und Sagengestalten. Diese Figur kennst du bereits aus dem Unterricht. Die Schulaufgabe selbst besteht aus zwei Teilen.
a) Deine Figur versucht schon seit langem, dem legendären Jabbawock auf die Spur zu kommen, einer im Gebirge lebenden Gestalt, die noch nie jemand gesehen hat. Erzähle anschaulich schildernd von den letzten Minuten auf der Spur des Jabbawock. Deine Figur bewegt sich dabei im Gebirge oder in felsigem Gelände, nicht in einem dichten Wald. Die Tageszeit ist früher Abend, du kannst dir aussuchen, ob du in der 1. oder 3. Person erzählen möchtest. Der letzte Satz dieses Teils sollte sein: Und da war er endlich: der Jabbawock!
b) Schreibe einen kurzen, sachlichen, beschreibenden Beitrag über den Jabbawock, wie er in der Monsterpedia erscheinen würde. Beschreibe das Wesen dabei so, dass man es von anderen, ähnlichen Kreaturen unterscheiden kann. Benutze dazu dieses Foto, das deine Serienfigur gemacht hat:
Das Beispiel stammt aus einer 7. Klasse. Möglich wären auch Schildern + Argumentieren (kaum sinnvoll), Argumentieren + Informieren oder umgekehrt. Letztere Möglichkeiten hießen zum Beispiel, eine Definition zu geben und danach hauptsächlich zu argumentieren (zählt das denn bereits als Kombination?), oder ausführlich neutral zu informieren und danach ein Argument zu bringen. Alles andere halte ich für noch weniger sinnvoll.
Thesen (meine)
Es gibt wenige Textsorten, die diese Grundformen tatsächlich kombinieren. Ein Essay kann informierende, argumentierende und erzählende Passagen haben; eine Reportage erzählen und informieren. Dann hört es auf, außer man versteht das trivial. Eine Gedichtinterpretation besteht sicher aus einem informierenden Teil, aber danach wird es schwierig: Sind die interpretierenden Aussagen danach informierend oder argumentierend? Die Analyse der Stilmittel hinsichtlich ihrer Wirkung, ist das schlichte Information oder muss man da argumentieren,oder ist das bereits eine dieser Kombinationen?
Die meisten schulischen Aufsatzformen lassen allerdings keine solche Kombination innerhalb eines Textes zu; was entsteht, sind zwei thematisch zusammenhängende, aber separate Texte.
Zumindest Schüler und Schülerinnen der Unterstufe werden verwirrt dadurch, dass zwei disparate Kompetenzen geprüft werden, und bringen diese durcheinander. (Wann brauche ich Präsens? Wann Präteritum?)
Schüler und Schülerinnen müssen längere Schulaufgaben schreiben.
Da verschiedene Kompetenzen geprüft werden, können sie nicht im gleichen Maß vor der Prüfung wiederholt werden wie bei einfacheren Prüfungen.
Folgerungen
Diese Thesen sagen noch nicht unbedingt etwas darüber aus, ob die kombinierten Formen eine gute Idee sind oder nicht. Will man denn nicht längere Aufsätze? (Nein, das allerdings wirklich nicht.) Sollen SuS nicht in der Lage sein, Verwirrung auszuhalten, und selbständig entscheiden müssen, welche Kriterien wann gelten? (Schon.) Und sollen sie nicht ohne viel Wiederholung geprüft werden, weil eben das zeigt, wie viel sie wirklich können, ohne dafür gedrillt worden zu sein? (Schon.)
Beispielaufgaben (ISB, schon älter)
Beispielaufgaben – jeweils ISB, jeweils 6. Jahrgangsstufe, jeweils Berichten oder Erzählen mit argumentierendem Schluss:
Du schreibst einen Brief an deine Tante in Nürnberg, in dem du von deinem Aufenthalt in einem Freizeitpark erzählst. Am Schluss bittest du begründet darum, einen solchen Besuch auch bei deinem bevorstehenden Kurzurlaub bei ihr einzuplanen. (2016) [erzählen und argumentieren]
Du schreibst einen Artikel für die Schülerzeitung, in dem du von deinem Aufenthalt in einem Freizeitpark berichtest. Am Schluss begründest du kurz, warum du einen solchen Aufenthalt für den nächsten Wandertag empfiehlst. (2016) [berichten und argumentieren]
Verfasse für den Jahresbericht unserer Schule einen Artikel über unseren Ausflug zum Limes nach Weißenburg und stelle außerdem dar, warum diese Fahrt deiner Meinung nach auch für die kommenden Sechstklässler durchgeführt werden sollte. (2016) [berichten und argumentieren]
Die Beispiele stammen von der Einführung des vorherigen LehrplansPLUS für das G8, der nie Gültigkeit bekam, weil er unvermittelt vom G9 überholt wurde. Aktuellere Beispiele oder Konkretisierungen sind mir nicht bekannt.
Weitere Unterstützung durch das Ministerium
Der LehrplanPLUS enthält bei den Servicematerialien keine Vorschläge zu gemischten Aufgabenformen; es handelt sich in diesem Fall also nur um einen LehrplanPLUS.
Im Anhang des KMS Schreiben steht allerdings, und auch nicht mehr als: „Kombinationen mit den beiden anderen Schreibsträngen sind möglich und erwünscht, bei manchen Schreibformen sogar unabdingbar.“ Um welche Schreibformen es sich dabei handelt, bleibt offen. Essay? Erwünschen kann sich das Ministerium viel.
Das KMS selber sagt, dass diese Schreibformen „in geeigneten Textsorten zunehmend kombiniert werden [können]“ – aber es sagt nicht sollen, und welche Textsorten gemeint sind, bleibt unbeantwortet. Weiterhin gilt: „Eine der Schreibsituation angemessene Kombination der drei Grundformen des Schreibens ist ab Jahrgangsstufe 9 zunehmend erforderlich.“ Das klingt jetzt wirklich so, als wäre das ab 9 zunehmend gewünscht. Nur: Was ist damit gemeint? Interpretation schreiben und danach noch argumentieren?
Und jetzt?
Wie sinnvoll sind diese Mischformen? Gibt es Beispiele für andere Jahrgangsstufen oder Grundformen oder ist das nur eine Spielerei für die Unterstufe? Die Abituraufgaben sind weiterhin dergestalt, dass getrennte Texte entstehen.
Eigentlich gefällt mir das, dass die Schüler und Schülerinnen nicht mehr einfach einem Rezept folgen können. Andererseits ist es so, dass sie halt einfach nur zwei Rezepten folgen müssten, und das dann nicht können. Ich glaube, ich bin weiterhin dagegen.
Ist das Herumreiten auf der Deutungshypothese nicht auch eine Vermischung von Informieren und Argumentieren? Die Schüler sollen im Rahmen einer Interpretation doch eine Deutungshypothese aufstellen und die dann begründet verifizieren oder auch ablehnen. Ich finde, dabei vermischen sich auch zwei Bereiche.
Ja! Die Interpretation sehe ich auch als eine Kombination von Informieren und Argumentieren. Wenn das wirklich ist, was der Mensch im Ministerium damit meint, dann ja und banal und nichts Neues, und warum nicht einfach das klar benennen?
Die schulische Deutungshypothese in dieser Form ist ein Unding. In der Naturwissenschaft ist eine widerlegte Hypothese ein Erkenntnisgewinn, bei der Interpretation in der Regel nicht. „In diesem Gedicht wird vor dem Nationalsozialismus gewarnt“, und am Ende: „Nein, doch nicht.“ Das ist Käse. Das ist kein hermeneutischer Zirkel, sondern eine hermeneutische Vakuumfluktuation, aus nichts entsteht nichts, aber dazwischen waren viele Wörter. Nada y pues nada y nada y pues nada.
Früher gab es die Aufsatzart „Literarische Erörterung“, 11. Klasse. Da konnte man das Konzept Deutungsthese üben, denn man kriegte eine vorgesetzt: „Scheitert Werther an sich selbst oder an seiner Umwelt?“ Und dann hat man argumentiert, ganz ohne Stilmittelanalyse. Das kann ich mir antithetisch und linear vorstellen.
Schwurbeldirektor Pony
Nada y pues nada y nada y pues nada. Und so ist auch der Lehrplan. Weil man
a) über’s Ziel hinausgeschossen ist mit der „Entrümpelung“ des Lehrplans
b) sich hat bei diversen Bundesländereien im Abiturkonvergenz-Prozess über den Tisch ziehen lassen
c) daraus folgt, wer die Prüfungskultur anderer Bundesländer übernimmt, sich dann auch gefallen lassen muss, dass die einem dann sagen, wie man zum Schwurbelabitur kommt, nämlich mit Vorbereitungsgeschwurbel
d) das alles aber auch nichts macht, weil sowieso ein Drittel der Abiturienten mit einer Eins vor dem Komma davonspaziert und das entsprechende Zeugnis der Aussagekraft nach so viel bedeutet wie: war hier und hat geschwurbelt; gemeint ist: hätte lernen sollen wie man analysiert, interpretiert und argumentiert, kann aber nix davon richtig.
Karin
Hermeneutische Vakuumfluktuation – grossartige Wortschöpfung.
Ich halte den Lehrplan auch nicht für den größten Wurf aller Zeiten. Aber ich habe in über 20 Dienstjahren auch die Fähigkeit der selektiven Ignoranz ausgebildet.
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