1. Historisches zum Interpretationsaufsatz
Neben dem Erörtern ist das Interpretieren von literarischen Texten eine der historisch zentralen Aufsatzformen im Deutschunterricht. Etwas prominenter geworden ist in den letzten Jahrzehnten die eigentlich auch schon alte Sachtextanalayse, neu hinzugekommen das materialgestützte informierende Schreiben. Während früher die Interpretation eine eigenständige Aufsatzart war, gibt es im kompetenzorientierten Deutschunterricht solche Arten nicht mehr, außer natürlich schon; das Interpretieren wird jetzt subsumiert unter „Informieren (über literarische Texte)“.
Traditionell, als es klarer abgegrenzte Aufsatzarten gab, bestand der Hauptteil der Interpretation aus einer knappen Inhaltsangabe, einer Analyse, und darauf aufbauend aus einer Deutung. In der Analyse arbeitete man, mal mehr, mal weniger ausführlich, die für den jeweiligen Text und die jeweilige Textsorte interessanten Punkte ab. Die Deutung sollte aus dem Vorhergehenden erwachsen.

(Zu Epochenmerkmalen gab es nur manchmal etwas zu sagen, zur Biographie noch viel seltener. Je nach Gedicht waren manche Punkte mal länger, mal kürzer. Die Reihenfolge war immer schon flexibel, auch wenn man sinnvoll mit Inhalt anfing und mit der Deutung endete. Bei manchen Lehrkräften wurde der Deutungsansatz schon am Anfang kurz genannt und am Ende ausführlich erklärt, bei anderen sollte sie am Anfang nicht genannt und nur am Ende erklärt werden.)
Das ist jetzt alles ein bisschen anders geworden, vielleicht jedenfalls.
2. Das Epistemische
Im Kontaktbrief 2019 erscheint dieser Begriff zum ersten Mal, und zwar um zu erklären – zu rechtfertigen, tatsächlich – warum andere Aufsatzarten (es gibt sie halt doch noch, trotz allem) einen Kontext, ein zu adressierendes Publikum haben, und die Interpretation nicht. Die ist „epistemisch-heuristisch“, das heißt, sie dient nicht zur Kommunikation mit anderen, sondern zum eigenen Erkenntnisgewinn. Man stellt den Text niemandem vor, sondern gewinnt durch die schriftliche Auseinandersetzung mit Text an Erkenntnis, da „das Schreiben der Selbstvergewisserung bzw. dem Erkenntnisgewinn dient.“
Soll der Aufsatz nun das Ergebnis der Erkenntnisfindung sein, oder soll man während des Schreibens zu Erkenntnissen kommen? In der Theorie wünscht man sich vielleicht, dass man sich zuerst viel Gedanken macht (etwa in Form einer Gliederung, die allerdings de facto abgeschafft wurde), und diese am Ende hinschreibt; in der Praxis kommt man vielleicht erst im Lauf des Schreibens zu Erkenntnissen. Ich bin mir nicht sicher, welche Sichtweise der real existierende Lehrplan wünscht, und will hier dieser Frage nachgehen; dass es in der Fachdidaktik Argumente sowohl für das eine wie für das andere geben dürfte, ist sehr wahrscheinlich.
3. Exkurs: Wie es bei meinem eigenen Schreiben aussieht
Ja, meine Blogeinträge dienen dem Erkenntnisgewinn. Ja, ich schreibe in einem Kontext und für ein Publikum. Manchmal auch über literarische Texte. Insofern sehe ich den Widerspruch des Kultusministeriums zwischen epistemisch-heuristischem und adressatenbezogenem Schreiben als kein so grundlegendes Problem an, aber soll sein, soll sein.
Ich mache mir vor dem Schreiben, oder vielleicht auch parallel zum Schreiben, immer eine Stoffsammlung, mal mehr, mal weniger ausführlich. Häufig sind das einzelne Notizzeilen im Blogeintrag, die dann nach und nach für den entstehenden Text herangezogen werden. Wenn ich auf Papier schreiben müsste, würde ich sicher vorher eine Art Plan anlegen.
Ich komme während des Schreibens auch auf neue und unerwartete Gedanken, aber – glaube ich – nur selten dergestalt, dass ich zu einer neuen Gesamtsicht, quasi Deutung, der ursprünglich vorhandenen Idee finde. Es geht eher um Erweiterungen und Ergänzungen. Mitunter komme ich allerdings zu der neuen Gesamtdeutung, dass sich der Blogeintrag nicht lohnt und verwerfe ihn.
Dennoch habe ich das Gefühl, etwas erst dann ganz verstanden zu haben, wenn ich es in einem Blogeintrag verschriftlicht habe. Es ist keine neue Erkenntnis, die ich gewinne, aber ich forme die intuitive ursprüngliche Erkenntnis in eine für mich und vielleicht auch andere leichter fassbare Gestalt, und erst dann habe ich sie wirklich begriffen, als Modell in meinem Kopf verankert. (Bestenfalls passt das Modell dann auch zur Wirklichkeit, aber das ist wieder ein anderes Problem.)
Täusche ich mich dabei und verschiebe doch die Erkenntnis zu dem hin, was ich geschrieben habe? Am Ende glaube ich jedenfalls das, was ich geschrieben habe, und wenn ich an einem anderen Punkt angefangen habe, habe ich den vergessen.
Man verweist hier gerne auf Heinrich von Kleists Essay „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“, der auch aufs Schreiben anwendbar ist. Daneben kursiert der Spruch: „Woher soll ich wissen, was ich denke, bevor ich höre, was ich sage?“, der vielen Leuten zugeschrieben wird, darunter allerdings nicht, zu meiner Verwunderung, Karl Valentin. Tatsächlich geht diese konkrete Formulierung auf E. M. Forster (1927) zurück, der ihn von einer alten Dame gehört haben will. Der Quote Investigator hat sich auf die Suche gemacht und einen Vorläufer ein Jahr vor Forster ausgemacht, bei dem als Autorin ein anonymes junges Mädchen genannt wird. In einem Buch aus dem Jahr 1949 wird Horace Walpole (1717-1797) zitiert mit: „I never understand anything until I have written about it.“ Aber eine genaue Quellenangabe gibt es nicht, insofern ist es zweifelhaft, ob das korrekt ist.
4. Die Deutungshypothese und mein Problem damit
Der Begriff taucht am bayerischen Gymnasium erst mit dem LehrplanPlus des 9-jährigen Gymnasiums auf, also 2017ff. Davor ist im Lehrplan und in den jährlichen Kontaktbriefen von „Deutung“, „Deutungsansatz“ oder „Deutungsmöglichkeit“ die Rede. Ab der 9. Jahrgangsstufe geht es jetzt um „Verstehensentwürfe“ (bei Sachtexten) und „Deutungshypothesen“ (bei literarischen Texten).
Und so kommt es, dass heute oft zum Ende des Aufsatzes hin mehr oder weniger wörtlich steht: „Wie sich gezeigt hat, ist meine Deutungshypothese bestätigt worden“ oder auch, seltener, „Wie sich gezeigt hat, ist meine Deutungshypothese nicht bestätigt worden.“ Ich halte beides für unsinnig, andere Lehrkräfte schwören darauf.
Es hängt letztlich davon ab, was der Aufsatz sein soll: Geht es um die Dokumentation des Verlaufs der Erkenntnisfindung, oder um das Ergebnis der Erkenntnisfindung? Ein Verlaufsprotokoll oder ein Ergebnisprotokoll? (Natürlich eh kein Protokoll, in beiden Fällen wird man argumentieren müssen, weshalb die Zuweisung dieser Textsorte zum informierenden statt argumentierenden Schreiben obendrein Unfug ist.)
Deshalb bringt es die Arbeit mit der Deutungshypothese mit sich, dass die so geleitete Interpretation immer argumentativ gestützt wird.
Kurt Finkenzeller, Zum Begriff „Deutungshypothese“ (ISB)
(Eben, deswegen ja auch argumentierend, nicht informierend.)
„Diese Herangehensweise ist mittlerweile im Lehrplan durchgehend verankert und sie ist auch in der Deutschdidaktik untersucht worden, z. B. hat Rödel belegt, dass das „Ziel eines Interpretationstextes (…) die argumentative Darstellung (ist), wie und warum der Verfasser zu (s)einer konkreten Interpretation eines literarischen Textes gelangt ist“ (Rödel, 2018 S.20)
Kurt Finkenzeller, Zum Begriff „Deutungshypothese“ (ISB)
(Wie kann man belegen, was das Ziel des Aufsatzes ist? Das kann man doch nur postulieren? Nicht dass ich Rödel nicht zustimme; zu ihm weiter unten mehr.)
Dass das Verstehen eines Textes – für Literatur: das Finden eines von mehreren möglichen Verständnissen des Textes – ein Vorgang ist, ist ohnehin klar. Die Frage ist nur, ob man Verlauf oder Ergebnis dokumentiert; in der Praxis wird es ohnehin immer eine Mischform sein..
Ich bin Team Ergebnis. Die Erkenntnisgewinnung soll vor dem Schreiben stattfinden, nämlich in der Entwurfs- und Planungsphase. Dann könnte man die eigene Deutungsthese, den Deutungsansatz, die Deutung (so hieß das früher) voranstellen und am Text erklären. Das Wort Hypothese wäre dann falsch. Es wäre eine These, die es zu begründen gälte, so wie bei jedem anderen argumentierenden Schreiben auch. Das Wort Hypothese suggeriert einerseits einen vorläufigen Standpunkt, den ich hier beim Ergebnis eben nicht möchte, und einen Zusammenhang mit exakteren Wissenschaften – da bringt eine Hypothese nämlich Erkenntnisgewinn, egal ob sie widerlegt oder bestätigt wird. (Außerdem bringt das auch anderen etwas; bei der rein epistemisch-heuristischen – nicht meine Worte – Interpretation bringen die Hypothese, deren Bestätigung oder Widerlegung nur dem Denkenden selber etwas. Die Nichtbestätigung einer Hypothese sagt auch nichts darüber aus, ob jemand anderes diese Hypothese niocht doch für sich bestätigen kann und möchte.)
Team Vorgang sieht in der Interpretation eher das kommentierte Entlangspazieren am hermeneutischen Zirkel, einen Fuß vor den anderen setzend und die Schritte dabei sprachlich begleitend. Rezeptionsästhetik, reader-response, weiß schon, aber ich sehe dafür im Schulaufsatz keinen Platz.
Wenn ein Schüler oder eine Schülerin die Deutungshypothese verwirft und im Lauf des Schreibens zu einer anderen kommt: von mir aus. Das hätte aber vorher geschehen sollen. Wenn die Deutungshypothese dagegen einfach als nicht bestätigt präsentiert wird, und das ist mir mehrfach untergekommen, dann ist mir das nicht genug für einen Interpretationsaufsatz.
Ist es vielleicht doch so, dass man am Anfang eine Deutungshypothese stellt, und im Lauf des Aufsatzes diese These bestätigt oder halt eine andere findet? Dass „Hypothese“ hier wirklich die Vorläufigkeit, den ersten Gedanke meint? Die Schülerhilfe sieht das so: „Die Deutungshypothese muss nicht korrekt sein, denn sie stellt einen Einstieg in die Analyse und eine Vermutung dar, die überprüft, widerlegt, erweitert oder verändert werden kann.“ https://www.schuelerhilfe.de/online-lernen/2-deutsch/3836-dDie eutungshypothese
Was das Kultusministerium dazu sagt
Nicht viel. Alle Beispiele und Erklärungen, die ich gefunden habe, beziehen sich nur auf Thesen, die im Lauf des AUfsatzes bestätigt werden. Dazu passt auch, dass in den letzten Jahren im Abitur – alter Lehrplan, ohne Hypothese – meist, aber nicht immer, eine Deutungsthese vorgegeben ist, die es nur noch anzuwenden gilt. Das ISB schreibt dazu:
Einen literarischen Text deuten, heißt dann, das eigene Textverständnis zunächst als Hypothese/als erste Annahme zu formulieren und im zweiten Schritt zu erklären, wie sich diese Lesart am Text begründen und je nach Jahrgangsstufe unter Einbeziehung außertextlicher Informationen (geschichtlicher Hintergrund, Einbettung in historische, kulturelle und aktuelle Diskurse) vertiefen lässt.
Kurt Finkenzeller, Zum Begriff „Deutungshypothese“ (ISB)
Was geschieht, wenn die Erklärung dieser Lesart nicht möglich ist oder verworfen wird, dazu steht nichts.
Ausgangspunkt ist die grundsätzliche Deutungsoffenheit von literarischen Texten und die sich daraus ergebende Notwendigkeit, eine plausible Lesart des Textes vorzustellen. Die einzelnen Erschließungsschritte dienen dann dazu, die Plausibilität zu erhöhen.
Kurt Finkenzeller, Zum Begriff „Deutungshypothese“ (ISB)
Also: Plausibilität erhöhen und nicht reduzieren.
Weil alles darauf ausgerichtet ist, die Deutungshypothese durch die Erschließung zu prüfen, kann auch davon ausgegangen werden, dass die Schülerinnen und Schüler ihre Fähigkeit, einen kohärenten Text zu verfassen, verbessern. Auszugehen ist auch davon, dass die Texte kürzer werden, weil es eben „nur“ darum geht, die Deutungshypothese zu begründen – die Vorarbeiten dazu werden wichtiger, die Gliederung und der Aufbau des eigenen Textes rücken stärker in den Vordergrund. Die Schülerinnen und Schüler müssen genauer planen und überlegen, auf welche Aspekte der Texterschließung sie sinnvollerweise setzen, damit sie ihre Deutungshypothese belegen können. Bei der Bewertung der Arbeiten kann sich die Lehrkraft darauf konzentrieren, inwiefern es der Schülerin bzw. dem Schüler gelungen ist, einen kohärenten, argumentativ überzeugenden und sprachlich gelungenen Aufsatz zu verfassen.
Kurt Finkenzeller, Zum Begriff „Deutungshypothese“ (ISB)
Für mich klingt das danach, dass die Deutungshypothese zu begründen ist, und nicht darum, sie zu überprüfen, also sie zu bestätigen oder zu widerlegen.
Optimistisch, aber naheliegend finde ich den Gedanken, dass die Texte kohärenter werden; behutsam das „kann davon ausgegangen werden“. Interessant und sinnvoll finde ich den Gedanken, dass die Aufsätze dann kürzer werden. Die Prüfungszeiten, Abitur eingeschlossen, werden jedenfalls regelmäßig verlängert. Das muss kein Widerspruch sein, weil ja dann mehr Zeit zum Denken und Planen verwendet werden könnte, ruft bei mir aber eine gewisse Skepsis hervor.
Was die Fachdidaktik dazu sagt (na gut, ein Buch)
In dem ISB-Kommentar werden ein Fachdidaktiker und ein Werk erwähnt: Michael Rödel, Interpretationsaufsätze schreiben. Also gut, schauen wir uns den an – es gibt das Buch weder in Staats- noch Stadtbibliothek, auch anderswo finde ich es nicht kostenlos, also kaufe ich es für zwanzig Euro als PDF-Datei (kein DRM, aber eine Art Wasserzeichen auf den Seiten).
Stellt sich heraus: Das Buch ist direkt gut und empfehlenswert. Ja, manche sehen als Leistung von Schülern doer Schülerinnen ein „Rezeptionsdokument“, aber nicht als Prüfungsleistung. Nach Rödel legt der Begriff „Deutungshypothese“ eine vorläufige Deutung nahe, und er spricht sich dagegen aus, dass „diese vorläufige Deutung Bestandteil des Aufsatzes sein soll, etwa im Rahmen eines epistemischen Schreibens, in dem der Verfasser erst während des Schreibprozesses zu seinem Ergebnis kommt.“ Er benutzt stattdessen den Audruck „Interpretationsthese.“ Für Rödel sind beide Varianten legitim: die Interpretationsthese vor den argumentativen Text zu stellen („deduktiv“) oder an dessen Ende („induktiv“); beides hat Vor- und Nachteile, das induktive Vorgehen sieht er eher bei geübteren Schreibern.
Und dann steht da noch sehr viel mehr Interessantes, in das ich mich bei Gelegenheit vertiefen möchte, etwa dazu, zu welchen Texten sich leichter oder schwerer Interpretationsthesen aufstellen lassen. Je verschlüsselter der Text ist, desto leichter sei demnach, eine Interpretationsthese zu finden; wenn der Text offensichtlich ist, sei es schwer, die Deutung vom Inhalt abzugrenzen, weil: steht da doch schon.
Außerdem gibt es viele Vorschläge zu Gliederungsverfahren, aber, nun ja, seit die Gliederung nicht mehr als Teil der Arbeit gewertet ist, ist es still geworden um die real existierende Gliederung.
Und jetzt?
Jetzt machen halt alle, was sie wollen, und ich muss leben mit dem formelhaften: „Hat sich gezeigt, dass sich meine Deutungshypothese bestätigt hat.“ Auch wenn es sich nach dem Protokoll eines Experiments anhört; ich sehe den Schüler geradezu mit dem Skalpell in der Hand, die Reste des sezierten Gedichts blutig auf dem Schreibtisch verteilt. Vielleicht frage ich mich auch nur, wozu dieser epistemisch-selbstvergewissernde Aufsatz diese Verkündigung – und Einleitung und Schluss -überhaupt braucht, wenn er doch gar nicht adressatenbezogen ist.
Vielleicht sollte man mal nur Deutungsthese zu Gattung und Thema vorgeben, ohne das konkrete Gedicht, und dann hypothetisch formulieren, welche Stilmittel und sprachliche Auffälligkeiten sie erwarten würden, die diese Deutung stützen könnten. So wie Lem – und sicher auch andere – Vorworte zu nicht existierenden Büchern geschrieben hat, gibt es doch bestimmt auch Interpretationsaufsätze zu nicht existierenden Gedichten.
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