Als das Buch herauskam, hatte ich es mir notiert, weil ich Nacherzählungen oder Parallelfassungen oder literarische Remakes mag. (Angefangene Liste harrt der Veröffentlichung.) Frau Rau hatte es neulich gelesen, ihr hatte es nicht so gut gefallen, sie gab es an mich weiter.
James beginnt als eine Art Neufassung von Mark Twains Huckleberry Finn. Hier ist aber nicht Huck Erzähler und Hauptperson, sondern Jim, oder eher James, der versklavte Schwarze, mit dem Huck auf dem Mississippi reist. Gleich am Anfang erfährt man: James spricht nicht den gebrochenen schwarzen Südstaatendialekt wie Mark Twains Jim, sondern spricht differenziert, ohne klischeehafte Floskeln, mit elaboriertem Satzbau, mit sehr, manchmal demonstrativ großem, auch analytischem Wortschatz und selbstverständlich standardmäßiger Rechtschreibung, und zwar sowohl als Erzähler als auch, wenn er sich nicht verstellt, im Gespräch.
Erst im Nachhinein überlege ich: Wäre das, wenn die Geschichte aus James‘ Perspektive erzählt werden soll, überhaupt anders gegangen? Kann man heute noch anfangen und dem Publikum zumuten: „You don’t know about me without you have read a book by the name of The Adventures of Tom Sawyer; but that ain’t no matter“ – und das ist der viel korrektere Huck, nicht Jim, der da spricht?
Der Gedanke ist für mich aber so prägend für das Buch, dass ich das nicht für einen Nebeneffekt halten mag, sondern für den zentralen conceit des Romans: Was wäre, wenn Jim nicht Jim wäre, sondern James, und reden würde wie ein traditionell gebildeter Mensch?
Dann ist es allerdings nicht nur James, der so redet, sondern alle versklavten Schwarzen sind zweisprachig, sprechen unter sich ein modernes hochsprachliches Englisch und verfallen nur, wenn Weiße dabei sind, in den Dialekt, wie man ihn auch bei Twain liest. (Wie authentisch dieser bei Twain ist und wie sehr konventionelle Karikatur, das weiß ich nicht mehr. Ich bemühe mich außerdem, nicht von falschem und richtigem Englisch zu sprechen; es ist kompliziert.) Das heißt, sie machen den Weißen etwas vor. Lesen können allerdings nicht unbedingt alle, und schreiben schon gleich gar nicht.
Das hatte ich nicht erwartet. Damit schlich sich das Buch für mich in die nicht-realistische, am Ende noch fantastische Literatur, weil es kontrafaktisch ist: Was wäre, wenn die versklavten Schwarzen in den USA-Südstaaten (also, zumindest da) alle heimlich hervorragend Englisch sprechen würde?
Ich fühlte mich dabei erinnert an Conjure Wife von Fritz Leiber aus dem Jahr 1943. Da findet ein Kleinstadt-Collegelehrer heraus, dass nicht nur seine Frau heimlich eine Hexe ist, sondern dass alle Frauen hexen können, und dass das allen Männern verborgen bleibt.
Das ist keine realistische Prämisse, und es wird auch nicht untersucht, wohin diese Prämisse führen würde, oder was geschehen bei Entdeckung und Bekanntwerdung geschehen würde (weil sich die Geschichte der USA ja auch nicht anders entwickeln kann und wird, es ist ja doch keine Science Fiction oder Parallelweltgeschichte). Wenn es nicht realistisch ist, ist es parabel- oder symbolhaft, und tatsächlich geht es vielleicht nicht um die Sprachkenntnisse, sondern eher um: Was, wenn die versklavten Schwarzen alle richtig intelligent wären und ein eigenes, reiches, emotionales Innenleben hätten? Wobei sie das natürlich hatten. Ernährung, Erniedrigung, Wurzellosigkeit machten die Bildung schwer. Und die Sprache der weißen Zeitgenossen war natürlich auch keinesfalls so gebildet und elaboriert, wie die von James als Erzähler oder auch nur den anderen Versklavten im Buch; sie wird dort auch nicht als solche präsentiert: James erzählt sprachlich wie ein moderner Erzähler.
Die Geschichte läuft zuerst einigermaßen parallel zu Twain, aber wenn sich James und Huck treffen, bleibt die Perspektive diesmal bei James, und früher oder später werden die Unterschiede zu Twain immer größer.
Das Ende ist etwas abrupt, also nicht das letzte Kapitel, da ist das okay, sondern das vorletzte. Dazwischen ist das eine leicht und schnell zu lesende Abenteuergeschichte, keineswegs heiter, manchmal bitter. Es geht um Ausgeliefertsein, Unfreiheit, Willkür, Ungerechtigkeit, und den Umgang damit. Den Humor, den manche Rezensenten darin entdeckt haben, habe ich nicht wahrgenommen, ihn aber auch nicht vermisst. Vom der zentralen Sprach-Idee abgesehen, an der ich noch herumkaue, fühlt sich das Buch etwas leichtgewichtig an. Das muss nicht schlecht sein, Beloved von Toni Morrison ist so ein mitnehmendes Schwergewicht, dass ich froh und erleichtert bin, nicht noch einmal so etwas lesen zu müssen.
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