Lehrkräfte rechnen Noten aus, oder halt nicht

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In Bayern werden Noten gewichtet (wobei die Gewichtung vorher bekannt gegeben wird) und verrechnet und auf zwei Nachkommastellen ausgerechnet. Pädagogen und Pädagoginnen aus anderen Bundesländern nehmen das in den sozialen Medien gerne mal als pars pro toto dafür, dass ihnen am bayerischen Schulsystem etwas missfällt. Denn: In manchen anderen Bundesländern darf gar nicht so gerechnet werden. Was hier so vertraut ist wie das Zentralabitur, schockiert anderswo wie das Zentralabitur.

Es gibt das polemische Argument gegen das Ausrechnen: Dass es Mühe macht. Gerne wird dabei ein Bild der Lehrkraft bemüht, wie sie mit dem Federkiel mühsam Noten in einen Taschenrechner eintippt, oder so. Tatsächlich bereitet das gar keine Mühe. Das macht das System automatisch. Ich tippe die Noten ein und kriege den aktuellen Durchschnitt.

Es gibt das mathematische Argument: Es geht gar nicht, von Noten einen Mittelwert zu errechnen, weil Noten ordinalskaliert sind. (Das wäre so, als würde man den Mittelwert zwischen zwei Siebtklässlerinnen und drei Achtklässlerinnen berechnen wollen, oder zwischen einem Unteroffizier und einem Offizier.) Allerdings geht es sehr wohl, wenn man mir einen Taschenrechner gibt, kann ich das demonstrieren, zur Not auch mit Bleistift und, na ja, Bierdeckel wäre mir peinlich, der ist verbrannt. Gemeint ist natürlich, dass das Berechnen des Mittelwerts nicht sinnvoll ist. Das lernt man vermutlich schon im Einführungskurs. Aber wir haben hier eine andere Domäne, einen anderen Anwendungsfall, und ob das da sinnvoll ist oder nicht, ist eine andere Frage. (Spoiler: Klar ist das sinnvoll, innerhalb bestimmter Grenzen.) Für mich hat das etwas von „Schwarz ist keine Farbe“ – stimmt schon, einerseits, ist aber nicht überall eine hilfreiche Einstellung. Ich vermute sehr, dass auch in den Studiengängen, in denen man lernt, dass man von Noten keinen Mittelwert bilden darf, aus Noten ein Mittelwert gebildet wird. Zu sagen, dass der Mittelwert pädagogisch ungeeignet ist: gerne. Zu sagen, dass man den Mittelwert nicht berechnen kann: fügt sich nicht der Realität. Vielleicht braucht man in der Einführung in die Statistik einfach andere Beispiele?

Die Kritik am Mittelwert: Wenn jemand zweimal 3+ und einmal 4- hat, also jeweils um 1 Punkt neben der anderen Note liegt, käme etwas anderes heraus, wenn man am Ende die Punkte statt der Noten verrechnen und aus diesen die Noten bilden würde. Das stimmt schon, aber in Deutsch bilde ich meine Noten nicht nach Punkten, bei mündlichen Noten auch nicht, und in Englisch und Informatik wenigerals man denkt.

Sonst kenne ich eigentlich keine sinnvollen Argumente dagegen, außer die Argumente gegen Noten überhaupt, von denen es schwächere und sehr gute gibt.

Bei welchem Notendurchschnitt am Schuljahresende ich welche Noten gebe, ist übrigens nicht in der Schulordnung vorgeschrieben. Eine Gesamtnote wird unter Berücksichtigung der Gewichtungen ermittelt, aber es ist ein Gerücht, dass ich bis 3,50 eine 3 und ab 3,51 eine 4 geben muss. Natürlich gibt es da Spielraum in beide Richtungen. Es steht auch nirgendwo, wie groß der Spielraum ist. Wichtig ist, dass die Klassenkonferenz von der Note überzeugt ist, denn die entscheidet über die Note und nicht die einzelne Lehrkraft. Wenn ein Kollege mit 3,3 eine 4 geben will, muss er das halt begründen, wenn eine Kollegin mit 3,8 die 3, dann auch. Zugegeben: Wie viel da in Konferenzen hinterfragt wird, das ist kulturelle Tradition, und wie viel Spielraum als sinnvoll erachtet wird. Wahrscheinlich gibt es auch Urteile dazu. Und da ist vielleicht doch ein Nachteil: Man kann es sich als Lehrkraft leicht machen und zum einen ,50 als Grenze nehmen und zum anderen sich nicht für die Noten der anderen zu interessieren.

Wie ist das in anderen Ländern, wenn da nicht gerechnet wird? Gewichtet man im Nachhinein bei der einen Schülerin die eine Prüfung mehr, beim anderen Schüler weniger? Gibt es da irgendeine Kontrollinstanz, muss man seine Noten jemandem gegenüber rechtfertigen? Ich bin tatsächlich auch dafür zu sagen, die Note vergibt man als Lehrkraft nach Gefühl, aber führt das nicht zu Ärger? (Anscheinend nicht.) Meinem Gefühl traue ich ja, aber die anderen haben am Ende andere Gefühle.

Letztlich keine sehr wichtige Frage. Man kann es sich so oder so leicht machen mit der Bewertung, oder eben nicht.

tl;dr: Wenn man für ordinalskalierte Werte keinen Mittelwert angeben kann und bei Noten einen Mittelwert ausrechnen kann, sind sie entweder nicht ordinalskaliert oder das Ergebnis ist kein Mittelwert, sondern etwas anderes. Mir ist alles recht.

Nachtrag: Zwei 5er oder so führen nicht zwangsläufig zu einer Wiederholung des Schuljahrs. Es wird immer geprüft, ob eine Vorrücken auf Probe sinnvoll ist.

Nachtrag: Wenn Noten mehr oder weniger erwürfelt werden, wieso sind sie dann über Jahre stabil? (Ich schaue mir ja gerne mal die Abiturnoten derjenigen an, die ich schon aus der Unterstufe kenne.) Werden die nur einmal am Anfang ausgewürfelt?

Nachtrag: Es gibt wirklich „Man kann nicht“-Ultras. Es ist absurd zu sagen, dass nicht möglich ist, was in der Realität geschieht. Ich habe ja schon angeboten, dass dann nicht mehr Mittelwert zu nennen, aber das Angebot wurde ausgeschlagen.

Nachtrag: Schönes Beispiel eines Mathematikers auf Twitter, der meinte, man könne ja auch den Mittelwert von „männlich“ und „weiblich“ berechnen, wenn man das mit Zahlen 0 und 1 kodierte, und ein Geschlecht von 0,7 sei ja wohl absurd. (Ist es nicht, würde ich Computerspiel so machen, wo meine Population dann einen Geschlechterwert von 0,47 hätte, zum Beispiel.) Oder als würde man den Mittelwert von „Turm“ und „Bauer“ beim Schach berechnen wollen. (Das geschieht selbstverständlich im Schach, wo die Figuren Wertigkeiten haben.) Ich kann auch ordinalskalierten Noten Werte zuweisen und dann den Mittelwerte daraus berechnen, etwa 3 Euro für jedes „sehr gut“ im Zeugnis, 2 für „gut“, 1 für „befriedigend“. Es kommt halt immer darauf an, ob die Kodierung von Ordinalskalen und das Rechnen mit der Kodierung im Anwendungsgebiet sinnvoll ist oder nicht. (Von den Ordinalskal-Werten selber will man ja keinen Mittelwert berechnen.)


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5 Antworten zu „Lehrkräfte rechnen Noten aus, oder halt nicht“

  1. Ich finde, es gibt durchaus ausreichend weitere Argumente gegen das Ausrechnen von Noten. Z.B. die Tatsache, dass Notengebung auch in Bayern eigentlich eine Veranstaltung sein soll, die „die gesamte Persönlichkeit des Schülers unter pädagogischer Sicht“ berücksichtigen sollte. Mich gruselt es regelmäßig, wenn ich Gespräche mitbekomme, in denen der Lehrer auf die Frage, warum denn der Schüler diese oder jene Note hat, als Antwort bekommt: Weil da jetzt 3,4 rausgekommen ist.
    Irgendwo im SchulrechtsKommentar habe ich auch diesbezüglich ausdrücklich den Hinweis gelesen, dass die Notengebung kein Ergebnis von Berechnung sein darf, sondern immer pädagogisch sein muss.
    Ich habe von LehrerInnen aus anderen Bundesländern gehört, dass es dort eben ausdrücklich auch nicht sein darf, dass man Noten berechnet. In meiner Erinnerung – ich kenne es ja nur aus Schülersicht – haben wir in allen Fächern Schulaufgaben geschrieben, je nach Haupt- oder Nebenfach eben eine oder drei pro Halbjahr. Die Gesamtnote ergab sich aus der Betrachtung von schriftlichen und mündlichen Leistungen – und eben nicht aus Berechnung. Nach meinem Empfinden wurde Engagement im Unterricht also eben Mitarbeit mindestens genauso stark berücksichtigt wie die schriftlichen Ergebnisse. Dadurch habe ich meinen Unterricht in Hamburg und NRW immer als lebendiger erlebt als ich ihn in Bayern sehe, weil es mehr wert war. Die sonstige mündliche Mitarbeit in Bayern ist ja nur eine Note, die irgendwo zwischen den anderen verschwindet – vor allem kann diese ja auch aus einer reinen Abfrage bestehen. Um es noch mal zu betonen – du darfst mir widersprechen: Dauerhafte mündliche Mitarbeit wird in Bayern nicht unbedingt belohnt.
    Mein ewiges

  2. Vielen Dank für den Einwand. Du hast wahrscheinlich recht, dass es das Rechnen leicht macht, eben nicht den Einzelfall zu betrachten, sondern nur den Notenschnitt. (Noch leichter wird das, wenn die Klassenkonferenz das Begründen einer unüblichen Entscheidung besonders schwer macht, dann lässt man es halt. Das war mal so, ist aber schon lange nicht mehr der Fall.) Ich nicht beurteilen, ob das in einem anderen System auch so wäre, vielleicht sagt man da „Übergewicht der Schulaufgaben“ und basta? Aber selbst das erfordert wohl mehr Denken.

    Das andere… ja, dauerhafte mündliche Mitrarbeit wird in Bayern formal nicht belohnt. Vermutlich ein bisschen durch unbewusstes Bias oder wissentliche Entscheidung; ich halte nicht viel von der Zuverlässigkeit mündlicher Noten. Und es wird hoffentlich belohnt durch andere Formen der Anerkennung als Noten.

    Ich finde das in Ordnung. Sollte das sonst im Gegenschluss heißen, dass fehlende mündliche Mitarbeit bestraft wird, direkt oder indirekt? Damit hätte ich dann Schwierigkeiten, auch aus meiner Biographie heraus. Ich möchte „die gesamte Persönlichkeit des Schülers unter pädagogischer Sicht“ berücksichtigen, aber ich möchte sie nicht bewerten. Noten haben viele Funktionen, oft wird eine 2 wohl verstanden als „alles okay so“, und so eine Rückmeldung ist schön und wichtig. Andererseits möchte ich lieber, dass Noten über die fachliche Leistung Auskunft geben und nur darüber. Gut, das tun sie nur halbwegs (aber immerhin), vielleicht könnte man das auch ändern.

  3. Steckenpferd

    Man könnte es auch so sehen: Wer sich häufig im Deutschunterricht meldet, trägt auch mit schwächeren Beiträgen zum Unterrichtsfortschritt bei. Viele Schülerinnen und Schüler in der Oberstufe, die einfach nur die anderen reden lassen, statt selbst etwas beizutragen, tun das eben nicht und erhalten also nur die eine bayerische, mündliche Pflichtnote. In meinem Unterricht ist das eigentlich aber kaum der Fall. Es gibt mehrere mündliche Noten (mit den üblichen Zweifelhaftigkeiten), die auch mehr abbilden, als häufig von Kollegen in anderen Bundesländern behauptet wird.
    Die andere Bewertungskultur ist mir noch aus dem Grundstudium in unangenehmer Erinnerung. Am germanistischen Institut zu München ließ sich in jedem Proseminar rasch feststellen, ob eine Teilnehmerin oder ein Teilnehmer in Bayern Abitur gemacht hatte. Sie fielen mit einander zugeworfenen, vielsagenden Blicken auf, wenn das Dampfgeplauder endlich verstummt war.

  4. N aus SH

    Wie passend dieser Beitrag! Ich bin nachdem ich mein Referendariat in Bayern im Sommer beendet hatte nach Schleswig-Holstein und konnte nach bayerischer Ausbildung von der Grundschule bis zum 2. Examen kaum glauben wie es hier ist: Mündliche Noten zählen grundsätzlich mehr als schriftliche von der Gewichtung, aber wie genau was gewichtet wird entscheide ich ganz alleine. Und während mir in Bayern noch beigebracht wurde „Für selten/nicht eigenständig melden darf es keine schlechte Note geben bzw. wenn der Schüler dann auf Aufforderung richtig antwortet darf er auch ne 1 bekommen“ heißt es hier: „Du bist im Unterricht zu still, das ist eine 4.“
    Manchmal fällt es mir schwer zu begreifen, dass das beides tatsächlich im selben Land stattfindet und am Ende sowohl die Schüler hier im Norden als auch unten im Süden eben „Abitur“ oder „Mittlerer Schulabschluss“ auf dem Zeugnis stehen haben – ganz gleichwertig.
    Lieben Gruß
    Nina

  5. >“Du bist im Unterricht zu still, das ist eine 4.”
    Noten sollten nur eine Sache messen. Selbst das tun sie ja nur unvollkommen, aber wenn zur Leistung auch noch das Verhalten kommt, wird es ganz undurchsichtig. Oder heißt das, man nimmt irgendein Verständnis von Teamfähigkeit mit in die Note hinein, und fasst alles unter einer Kompetenz zusammen?

    Aber Vergleichbarkeit wäre schon schön. Andererseits: Erkenntnisse über die Zeit nach der Schule (oder Universität) kenne ich keine, am Ende spielt das alles dann keine Rolle mehr.

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