Ich weiß nicht mehr, was meine erste „Was wäre, wenn“-Geschichte war. Als Science-Fiction-Leser war man ja quasi permanent mit so etwas beschäftigt. Etwas abgekürzt gesagt, ging es nämlich bei science fiction – Betonung auf dem ersten Wort – am Anfang darum, dass eine neue technische Erfindung postuliert wurde, und dann spann man eine Geschichte drumrum.1 Zuerst ersetzte dabei der technische Reiz einer neuen Erfindung eine sinnvolle Geschichte, so dass man Charakterisierung und Handlung, wenn sie mal weniger entwickelt waren, gar nicht groß vermisste. Was wäre, wenn es Leben auf anderen Planeten gäbe, wenn man zum Mond fliegen könnte, wenn es Teleportation gäbe? Später wurde in vielen Geschichten dieser technische Reiz dann zu bloßem Lokalkolorit: Raumschiffe und ferne Planeten waren gegeben, und die Geschichten hatten mit der Technik und ihren Konsequenzen nicht unbedingt viel zu tun: Space Opera.2 Ab den späteren 1950er Jahren ging es vielen Science-Fiction-Autoren dann doch wieder um die Konsequenzen der Technik, diesmal auf die Gesellschaft und ihre Entwicklung. Damit näherten sie sich der klassischen Utopie und Dystopie. Erhalten blieb das „was wäre, wenn“.

Eine verwandte Art von „What if“ kommt aus der Geschichtsschreibung. Begegnet bin ich ihr zum ersten Mal in der Marvel-Comic-Serie „What If“ (1977): In jedem Heft wurde eine Situation aus der etablierten Marvel-Geschichte neu durchgespielt. Bekanntlich versuchte der frischgebackene Superheld Spider-Man ja im ersten Heft seiner eigenen Serie, dem Superheldenteam Fantastic Four beizutreten, es kam allerdings aus verschiedenen Gründen nicht dazu. Das erste What-If-Heft trägt den Titel „What If Spider-Man Joined The Fantastic Four“ und schildert eine alternative Version der Marvel-Geschichte.
Die Comicserie hat diese Idee natürlich auch nicht erfunden, in der Literatur gibt es viele Vorgänger. Bei amerikanischen Autoren geht es typischerweise um Welten, in den die Südstaaten den Bürgerkrieg gewonnen haben; häufig sind auch Geschichten, in denen der zweite Weltkrieg anders verlaufen ist.3 Bei Wikipedia gibt es eine lange Liste von alternate histories und counterfactual history. (Der Unterschied zwischen beiden ist hier egal.)
Ein frühes Mitglied des Genres ist die Anthologie If It Had Happened Otherwise (1931), herausgegeben von J.C. Squire. Vorbild dazu war der Essay „If Napoleon had Won the Battle of Waterloo“ (1907) des Historikers George Trevelyan, im Anhang der Neuausgabe von 1972 erhalten. — Ebenfalls im Anhang: Ein Auszug aus The First World War: An Illustrated History (1963), in dem der Historiker A.J.P. Taylor argumentiert, dass der Erste Weltkrieg möglicherweise nicht unausweichlich war, sondern tatsächlich eine Vielzahl von möglichen Kleinigkeiten vor der Ermordung von Großherzog Ferdinand und seiner Frau in Sarajevo diese hätten verhindern können, und dass daraufhin die unausweichliche Kriegsmaschinerie sich nicht hätte in Bewegung setzen müssen.
Für die Anthologie wurden solche Essays von meist britischen Autoren geschrieben. Wegen einer solchen Geschichte war ich seit ein paar Jahren hinter dem Buch her: „If Lee had not Won the Battle of Gettysburg“ von Winston Churchill. Zur Erinnerung: Der Südstaatengeneral Lee verlor die Schlacht von Gettysburg, ein Wendepunkt im amerikanischen Bürgerkrieg. Churchills Text stellt demnach die Gedankenspielerei eines Historikers aus einer Welt dar, in der die Südstaaten den Bürgerkrieg gewonnen haben, und in der spekuliert wird, wie es gewesen wäre, wenn der Norden gewonnen hätte.
Tatsächlich gibt es diese Gedankenspielerei in Ansätzen auch in einigen der anderen Texte. Bei Hillaire Belloc (französische Revolution), Robert Knox (Generalstreik von 1926), Charles Petrie (Bonnie Prince Charlie) wird in der alternativen Welt spekuliert, wie es gewesen wäre, wenn die Ereignisse sich so entwickelt hätten wie in unserer Welt. In anderen Geschichten (Maurois, Belloc, Waldmnn) wird von den alternativen Historikern betont, dass deren jeweilige Entwicklung „unvermeidlich“ war – ironisch natürlich, weil es ja eben doch nicht so war, und damit implizit fragend, wie unausweichlich die Geschichte in unserer Welt ist.
Fast alle Essays nehmen die Form historischer Geschichtsschreibung mit der entsprechenden historischen Distanz an. Guedalla (siegreiche Mauren in Spanien) ergänzt das durch Briefe und andere Dokumente aus seiner Welt. Eine Ausnahme stellen lediglich drei Texte dar, die Geschichte um das misslungene Attentat auf Lincoln, und die beiden in der jüngsten Vergangenheit spielenden: Das eine ist ein mehr oder weniger erzählender Text von John Squire, laut dem im Jahr 1930 entdeckt und bewiesen wird, dass in der Tat Bacon Shakespeares Dramen geschrieben hat. Das führt zum wirtschaftlichen Niedergang der Region um Shakespeares Geburtsstadt Stratford und zu weltweiten Namensänderungen – bis sich in einer genialen Wendung herausstellt, dass dafür Shakespeare Bacons Prosawerke verfasst hat.
Die andere Geschichte ist ein Kuriosum von Ronald Knox, den ich als Krimiautor aus der Agatha-Christie-Schule kenne. Den anderen Essays ist jeweils eine ganz knappe Einführung vorangestellt, die den Leser darüber informiert, wie die Eriegnisse tatsächlich waren, dass also Lee eben nicht die Schlacht von Gettysburg gewonnen hat. Bei der Shakespeare/Bacon- und bei der Knox-Geschichte fehlt das, vermutlich, weil die auslösenden Ereignisse 1926 spielen und damit den Lesern von 1931 bekannt sind. Für mich ist das aber nicht mehr Zeitgeschichte, sondern tiefste Geschichte, so dass ich mit dem Hintergrund ausgerechnet dieses Texts am wenigsten vertraut bin, zumal Wikipedia zum erfolglosen Generalstreik von 1926 schreibt: „In the long run, there was little impact on trade-union activity or industrial relations.“
Bei Knox ist das anders. In seiner Welt war der Streik erfolgreich; wir erfahren das alles aber nur indirekt: Seine Geschichte besteht aus einem Quasi-Faksimile einer Ausgabe der Times vom 31. Juni 1930 (sic). Im etwas mühsamen Zeitungsstil der Zeit geschrieben, zeichnet die Sammlung von verschieden Leserbriefen, Artikeln und Kommentaren ein Bild der Welt vier Jahre nach dem erfolgreichen Streik. Anscheind ist England jetzt ein sozialistisch regiertes Land; immer wieder ist von Zensur die Rede. Bürger sind verpflichtet, den Staatssender BBC zu hören (das Vorlesen einer Marx-Biographie in der Kinderstunde wurde aber aufgegeben). Minenbesitzer leben „on the edge of starvation“, weil sie im Zuge des Streiks gezwungen sind, feste Löhne unabhängig von ihrem Gewinn zu zahlen, also auch, wenn es keine Arbeit zu tun gibt. Den unkündbaren Arbeitern geht es natürlich gut dabei; die Regierung überlegt, ob man nicht eine Art Sozialhilfe („the dole“) für verarmte Minenbesitzer einführen soll. Kurios.
Insgesamt ein Buch für Freunde alternativer Geschichte, aber zum Einstieg gibt es spannendere Werke.
- Ein spätes Beispiel für eine Geschichte, die nur aus Wissenschaft mit ein bisschen kriminalistischer Handlung drumrum besteht, ist „Die Billardkugel“ von Isaac Asimov. Ein frühes Beispiel ist Flatland von, uh, A. Square.
- Edmond Hamilton und Edgar Rice Burroughs, auf ganz verschiedene Art. Da geht es nicht um die Auswirkungen oder die Faszination neuer Technik. Hamilton war aber toll.
- Sehr spannend: Fatherland von Robert Harris (1992). Spannend und empfehlenswert: The Yiddish Policemen’s Union von Michael Chabon (2007). Nicht gelesen: Making History von Stephen Fry (1996).
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