Ungewöhnliche Lesesituationen 1: John Hawkes, Travestie

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Vor fünfzehn oder sechzehn Jahren: Wir waren zu dritt im Auto, ich selber saß am Steuer (das Auto gehörte meinen Eltern), T. neben mir, hinten M. Wir fuhren nach Garmisch ins Kino*.
Auf dem Beifahrersitz kramte T. ein Buch heraus und begann vorzulesen:

Nein, Henri, nein. Hände weg vom Steuer. Bitte. Es ist zu spät. Mit hundertneunundvierzig Stundenkilometern auf einer Landstraße in der finstersten Stunde der Nacht, da ist es letzten Endes klar, daß deine leiseste Anstrengung, mir das Steuer aus den Händen zu winden, uns alle in die stille Welt der Überlandstraßentragödien stürzen wird, und das noch schneller, als ich es geplant habe. Übrigens ist es nicht zu glauben, aber wir beschleunigen noch immer.
Du, Chantal, paß auf. Du sollst deinem Vater gehorchen. Du mußt dich in deinen Sitz zurücklehnen und deinen Sicherheitsgurt anlegen und aufhören zu weinen. Und, Chantal, den Fahrer nicht mehr auf die Schultern schlagen, nicht mehr an seinem Arm rütteln. Nimm dir ein Beispiel an Henri, arme Chantal, und beherrsch dich.

Das Buch ist der Monolog eines Mannes am Steuer eines durch die Nacht rasenden Wagens. Hinter ihm sitzt seine Tochter Chantal, neben ihm sitzt Henri, der zumindest möglicherweise ein sexuelles Verhältnis mit der Tochter und/oder der Frau des Fahrers hatte. Ziel der Fahrt ist das Schloss, in dem seine Frau auf die Fahrenden wartet, und Ziel ist – wohl – auch der geplante tödliche Autounfall dort.

Wenn man das Buch am Steuer eines Wagens vorgelesen kriegt, ist die Situation scheinbar ganz anders als im Buch: Hier hört der Fahrer zu, dort spricht der Fahrer. Und doch passt das Gefühl. Schließlich ist man als Zuhörer dem Erzähler ähnlich ausgeliefert wie als Passagier dem Fahrer.

(Ganz haben wir das Buch damals nicht gelesen, nur zwanzig Minuten lang. War aber sehr schön.)

*Ende der 80er Jahre: In Garmisch gab’s wegen der dort stationierten US-Soldaten ein Kino, das Filme im amerikanischen Original zeigte, und das oft zeitgleich zum US-Start. Sonst dauerte es damals mindestens ein Dreivierteljahr, bis die deutschen Versionen ins Kino kamen, und auch das Cinema in München konnte die Originalversionen erst zu diesem Zeitpunkt zeigen.


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