Ich lese gerade Mistakes were made (but not by me) von Carol Tavris und Elliot Aronson. Untertitel: „Why we justify foolish beliefs, bad decisions, and hurtful acts“. Ich bin erst am Anfang, will aber trotzdem jetzt schon ein paar Gedanken dazu loswerden.
„Kognitive Dissonanz„, so Wikipedia, ist „eine Theorie, die erklärt, wie durch miteinander unvereinbare Kognitionen – Wahrnehmungen, Gedanken, Meinungen, Einstellungen, Wünsche oder Absichten – innere Konflikte entstehen, die Vermeidungsreaktionen oder andere zur Verminderung dieser Konflikte geeignete Handlungen hervorrufen.“
Solche unvereinbaren Beobachtungen sind zum Beispiel: a) ich bin ein ehrlicher Mensch und b) ich betrüge bei meiner Steuererklärung. Oder der historische Fall, der als Auslöser für die Enstehung der Theorie genannt wird: a) ich habe all mein Hab und Gut aufgegeben, weil meine Kult-Chefin von Außerirdischen vom Planeten Clarion erfahren hat, dass am 21. Dezember die Welt in einer riesigen Flutkatastrophe untergehen wird und nur die Gläubigen von fliegenden Untertassen gerettet werden und b) es ist der 22. Dezember und trocken.
Diese unvereinbaren Tatsachen führen zu einer „kognitiven Dissonanz“, die der Mensch abzubauen bestrebt ist. Man „betrügt“ eben nicht bei der Steuer, sondern holt sich nur das, was einem zusteht. Und die Angehörigen des Kultes haben sich tatsächlich nicht von ihrer Anführerin abgewandt, sondern im Gegenteil: Je mehr Energie – Zeit, Geld – sie in ihren Glauben investiert hatten, desto eher blieben sie dabei. Nur wegen der Gläubigen nämlich, so erklärten sie es sich, wurde die Menschheit für diesmal verschont und bekam etwas Aufschub. Jaja. Je mehr man sich blöd benommen hat, desto größer ist das Bedürfnis, sich eben nicht blöd benommen zu haben. Und je blöder die Aufnahmezeremonie in eine Studentenverbindung, desto größer die Dissonanz zum Selbstbild („Ich bin doch nicht blöd.“) – die man zum Beispiel dadurch auflösen kann, dass man die Verbindung für ganz, ganz toll hält.
Kann alles stimmen, kann auch nicht. Wissenschaftlich ist es, Theorien im Experiment zu überprüfen. Das ist zum Beispiel so geschehen (und von anderen Wissenschaftlern mehrfach wiederholt worden): An der Universität von Stanford wurde – vorgeblich – eine studentische Gruppe gegründet, die sich mit der Psychologie des Sex beschäftigte.
Die Hälfte der Interessierten bekam eine einfachen Aufnahmezeremonie, die andere eine hochnotpeinliche. Danach bekamen die neuen Mitglieder eine inszenierte (auf Tonband aufgenommene) Diskussion zu hören, die ziemlich uninteressant und schlecht durchgeführt war. Diese Diskussion sollten sie dann in Fragebogen bewerten. Diejenigen mit der einfachen Aufnahmezeremonie bewerteten sie deutlich schlechter als diejenigen mit der peinlichen. — Elliot Aronson and Judson Mills (1959), „The Effect of Severity of Initation on Liking for a Group,“ Journal of Abnormal and Social Psychology, 59, pp 177-181.
Die Theorie der kognitiven Dissonanz erklärt das so: Es gibt einen Widerspruch zwischen dem Aufwand für die Aufnahme in die Gruppe und ihrem tatsächlichen Wert. Diesen Widerspruch ist um so größer, je größer ebendieser Aufwand war (und je kleiner der Wert dafür). Man kann den Widerspruch verringern, indem man den Wert der Gruppe höher ansiedelt – sie sich schönredet. Je größer der Widerspruch bei den Versuchpersonen war, desto mehr geschah das.
Ein weiteres Beispiel: Wenn ein Mensch böse zu einem anderen ist, dann kann das zu einer Dissonanz führen: a) ich bin ein guter Mensch und b) ich tue dem anderen Leid an. Auflösen kann man den Widerspruch prima durch ein „Also wird er es wohl verdient haben.“
Sehr schön an dem Buch sind die ausführlichen Fußnoten mit Quellenangaben. Darin bin ich auf den Aufsatz mit diesem wunderschönen Titel gestoßen: Why people fail to recognize their own incompetence (pdf) von David Dunning, Kerri Johnson, Joyce Ehrlinger und Justin Kruger. (Current Directions in Psychologial Science 12, 2003, pp. 83-87.) Allein wegen dieses Titels sollte man viele Kopien davon dezent im Lehrerzimmer ausliegen lassen und ihn vielleicht auch den Vorgesetzten empfehlen.
Tatsächlich geht es in dem Aufsatz eher um Studenten – je schlechter Studenten bei einem Test abschneiden, desto mehr liegen sie bei der Einschätzung des Test daneben (natürlich bevor sie die Ergebnisse erfahren). Und zwar schätzen sie ihr Ergebnis jeweils zu hoch ein. Das Diagramm dazu sieht überzeugend aus.
Der Aufsatz ist kurz, enthält einige Diagramme, und das ist ein schöner Text, den man im Englisch-LK als Beispiel für „wissenschafltiche Prosa“ verwenden könnte, wie es im Lehrplan heißt. Für diese Textsorte habe ich tatsächlich zu wenig geeignete Beispiele, jedenfalls was empirische Wissenschaften betrifft.
— Möglicherweise bin ich bereits während der Vorbereitung auf mein Psychologie-Staatsexamen auf den Begriff der kognitiven Dissonanz gestoßen. Sicher bin ich mir nicht, vielleicht bringe ich etwas durcheinander, vielleicht brachte auch der Aufsatz, an den ich mich zu erinnern glaube, etwas durcheinander.
Darin ging es darum, dass erfolgreich Lernende ein gewisses Maß an Dissonanz aushalten können müssen. Es hilft beim Lernen von neuen Konzepten, wenn man scheinbare Widersprüche erst einmal aushalten kann. Manche Sachen kann man eben vorerst noch nicht an bisher Bekanntes anknüpfen. (Das ist möglicherweise ein Widerspruch oder eine Ergänzung zu konstruktivistischen Lerntheorien. Bin aber Laie.) Manche Puzzleteile kann man noch nicht anbauen, sondern muss sie erst mal auf einen zweiten Stapel legen.
So muss man auch damit leben können, dass es für einen Text zwei verschiedene Interpretationen gibt. Oder mit dem Welle-Teilchen-Dualismus. Tatsächlich kann so eine Dissonanz auch Lustgewinn bringen. Ich habe jahrelang an einer Brecht-Parabel geknabbert, bis ich endlich meinen Frieden mit ihr gemacht habe. („Herr K. und die Konsequenz“ – heute ist der Zauber des Unverständnisses leider dahin, aber ich erinnere mich noch gut daran.)
Damit haben wir uns aber weit entfernt von der ursprünglichen Definition des Begriffs. Mit einem abschließenden Beispiel möchte ich dazu zurückkommen:
Wenn man a) sich für einen klugen Kopf hält und b) einen Job macht, der eigentlich sinnlos ist, dann besteht die Gefahr, dass man die kognitive Dissonanz dadurch verringert, dass man sich einredet, der Job sei gar nicht so sinnlos.
Ich mein ja nur. Eventuell übernehme ich im neuen Schuljahr nämlich eine neue Aufgabe. Mehr Informationen dazu gibt es erst in einiger Zeit.
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