Vor einigen Jahren trieb man in der 11. Klasse im neunjährigen Gymnasium Aufklärung und las dazu häufig Nathan der Weise von Lessing. Ein Stück, das ich mag – weniger wegen der Ringparabel, die ich für überschätzt und nicht besonders anschaulich halte und die mir in ihrer Religionskritik nicht weit genug geht. Aber der Zwiespalt des Tempelherrn und die Figuren Patriarch und Klosterbruder haben es mir angetan, und allen voran die Eröffnung mit Recha, die von einem Engel gerettet worden zu sein wünscht; mit Daja, die ihr den harmlosen Wahn lassen will; und mit Nathan, der überzeugend argumentiert, warum das Engel-Konzept nicht nur überflüssig, sondern sogar schädlich ist.
Im Unterricht fragte damals ein Schüler – einer, der später viel Geld verdienen möchte und dazu halt einen Abiturbescheinigung braucht – warum man in der Schule als Lektüre immer nur so Sachen wie Nathan liest und nie etwas, das einem fürs Leben wirklich etwas bringt. (Eine legitime Frage, die ich gerne beantworte, sofern sie aus echtem Interesse gestellt wird.) Der Schüler hatte sogar ein Buch, das einem fürs Leben wirklich etwas bringt, und lieh es mir.
Das Buch war Vom Kopf ins Herz von Franx X. Buehler und die Lektüre war ein Erlebnis, das ich bis heute noch nicht ausreichend und zu meiner Zufriedenheit verarbeitet habe.
Das Buch sah aus wie eines aus dem Weltbild-Verlag. War es aber nicht, sondern in einem, uh, spezialisierten Verlag erschienen. Keine Sorge, inzwischen gibt es das Buch tatsächlich bei Weltbild. (Ein Buch, wo man schon froh sein muss, dass es nicht auf dem Gabentisch für Lehrer landet.)
Das Buch ist eine dieser üblichen Sammlungen von Erkenntnissen, Lebensweisheiten und Geheimnissen für den inneren und äußeren Erfolg. Echte Fans des Genres machen sicher einen Unterschied zwischen den verschiedenen Erfolgsheimnissen, ob Dale Carnegie oder Jürgen Höller, ob vier Säulen oder drei, positives Denken oder Wünsche ans Universum – für mich ist das alles gleichermaßen unbrauchbar und ungenießbar. Ich spiele ja nicht mal bei Getting Things Done mit.
Was ist drin in dem Buch, das einem fürs Leben wirklich etwas bringt? Zitate von erfolgreichen Menschen zum Beispiel. Erfolgreich, das sind gerne mal Figuren aus dem Sport. Ein Nationalmannschafts-Trainer wird als Autorität für Konsequenz bemüht. (Fußnote: Ende Dezember wurde die Eisschnellläuferin Jenny Wolf uns allen in einem Interview in der SZ als Vorbild hingestellt – erfolgreich im Sport und nebenbei Germanistik studieren. Was natürlich nur geht mit der Disziplin, die man vom Leistungssport lernt. Ein Leserbrief ein paar Tage später merkte die germanistischen Fehler im Interview an – unter anderem sei Fontane nun mal kein Autor der Romantik. Ich kann mir aber auch vorstellen, dass da der Interviewer geschlampt hat.)
Überhaupt, Autoritäten. “Schon Friedrich Schiller sagte.” Und Henry David Thoreau wird zitiert: “you are what you think, all day long”, ein Zitat, das – in besserem Englisch als hier – laut Google-Recherche in der Motivationsszene schon seit Generationen bemüht wird, mal diesem, mal jenem zugeschrieben. Geht wohl auf Wayne Dyer zurück, der das ganze von Ralph Waldo Emerson hat. Kein Thoreau weit und breit. Auch Marc Aurel hat Ähnliches gedacht. Aber wen auch immer man als Autoritäten für Zitate anfügt: es ist egal. Wenn man wirklich wissen will, was diese Leute damit jeweils gemeint haben, muss man ihre ganzen Bücher lesen. Ein Zitat ist ein Hinweis auf ein solches Buch und sagt nur dem viel, der Werk und Autor bereits kennt.
(Meine persönlicher Lieblingsversion ist übrigens: “We are what we pretend to be, so we must be careful about what we pretend to be.” Aber wer das verstehen will, kommt nicht umhin, Mother Night von Kurt Vonnegut zu lesen.)
Auch schön: “only what you measure get’s [sic] improved” – wie wichtig es ist, regelmäßig zu messen. Laut Quelle stammt das Zitat, ganz ironiefrei, vom “CEO einer Messgerätevermietungs-Gesellschaft”.
Aber die meisten Zitate stammen doch von unserem alten Freund “unbekannt” oder vom Autor dieses kleinen Büchleins selber.
Ein wiederkehrendes Thema dieser Bücher – ich fasse jetzt mal zusammen – ist der Umgang mit Misserfolgen. Die gibt es als solche nicht. Positiv denken. Zweifel hemmen nur, “ja, aber” sind Verliererworte. Ich bin selber ein großer Aber-Sager und halte es mit Brecht:
Gelobt sei der Zweifel! Ich rate Euch, begrüßt mir
Heiter und mit Achtung den
Der Euer Wort wie einen schlechten Pfennig prüft!
Das Hauptthema solcher Ratgeber scheint mir aber zu sein: Man muss nur wollen. Du kannst alles, wenn du nur willst. Und das ist natürlich falsch. Darf ich das den Legasthenikern in meinen Klassen auch sagen? Und Basketball-Nationalspieler werden, kann das auch jeder, wenn er nur will? Dass diese Schule der Selbsthilfebücher ihre Wurzeln in den USA hat, wundert mich nicht, das ist schließlich nur eine Umformung des amerikanischen Traums: du kannst alles werden, was du willst. Ein schöner Gedanke mit einer furchtbaren Umkehrung: wer kein Nationalspieler ist, wer erfolglos, arm oder krank ist, der hat halt einfach nicht genug gewollt. (Und die wichtige Frage, was man eigentlich wollen soll, bleibt dabei ohnehin unbeantwortet.)
Sicher gibt es in Vom Kopf ins Herz auch sinnvolle Texte, die ich unterschreiben kann. Nur: ohne Kontext, einfach so in Yoda-artigen Häppchen, bringt das nichts. Lesen öder Hören, einmal dazu nicken, das ändert einem das Leben nicht. Es gibt bestimmt Momente, in denen ein einziger Satz, weise oder nicht, einem eine Erleuchtung bringt, auch ohne mehrjährige Meditation zuvor. Aber solche Epiphanien sind Ausnahmen und können auch nicht dadurch vermittelt werden, dass man anderen diesen kostbaren Satz weitergibt.
Bleiben zwei Fragen: warum glaubte der Schüler, das Buch würde ihm mehr fürs Leben bringen als Nathan? Und: warum halte ich das für eine so wichtige Frage, dass sie mich noch nicht losgelassen hat?
Erst einmal ist das ja begrüßenswert, wenn Leute etwas lernen wollen, das einem fürs Leben etwas bringt. Das zeigt von einem gewissen Bildungswunsch, jedenfalls ist das nicht bildungsfern. Möglicherweise ist das Konzept von Bildung und die Auswahl dessen, was man lernen will, aber sehr eng: Bildung ist, was einem Erfolg im Beruf bringt. Es sollte aber sein: was einem ein glückliches Leben beschert. Aber da sind wir schon in Woody-Allen-Land. Am Ende von Annie Hall sieht Allen ein glückliches Pärchen auf der Straßte und fragt es nach dem Rezept für ihr Glück. Die Antwort: “Uh, I’m very shallow and empty and I have no ideas and nothing interesting to say.”
Aber ich glaube, man lernt nicht viel aus weise klingenden Zitaten ohne Hintergrundwissen. Es ist ein verbreiteter, aber naiver Glaube, man müsse den Leuten etwas bloß mal sagen und dann funktioniere das schon. Die blöden Lehrer lesen immer nur Nathan und so komplizierte Sachen, statt den Schüler einfach mal deutlich zu sagen: “Ihr müsst euch anstrengen, sonst wird das nichts.” Ich kann mich an die Abiturrede eines Elternbeirats erinnern, die auf mich den Eindruck machte, als sollten darin die Versäumnisse der Schule dadurch wett gemacht werden, den Schülern eben genau diese Botschaft mitzugeben, die die Schule zu verbreiten zugunsten von weniger griffigen Dingen versäumt hat: “Ihr müsst euch anstrengend, sonst wird das nichts.” Den Satz unterschreibe ich ja, cum grano salis. Aber dadurch, dass man das den Schülern einfach nur sagt, ändert sich noch lange nichts.
Als Fundstück zum Schluss: Things you really have to learn von Stephen Downes, gefunden bei Jochen Robes. Hier die Kurzfassung:
1. How to predict consequences
2. How to read
3. How to distinguish truth from fiction
4. How to empathize
5. How to be creative
6. How to communicate clearly
7. How to learn
8. How to stay healthy
9. How to value yourself
10. How to live meaningfully
And to educators, I ask, if you are not teaching these things in your classes, why are you not?
Daran könnte man seinen Unterricht und Selbsthilfebücher und Motivationstrainer messen.
Bleibt noch, zu untersuchen, ob Nathan einem mehr bringt als Selbsthilfebücher. Das passt aber nicht mehr in diesen Eintrag.