Lesenswert und oft verlinkt: Liebe Marie, ein Artikel in der Zeit, in dem der Journalist Henning Sußebach so tut, als schriebe er seiner Tocher (fünfte Klasse, Gymnasium, Schleswig-Holstein) einen Brief. Und mit vielem in diesem Brief hat er recht. Er greift dabei nur wenig die Lehrer an, sondern eher das Schulsystem, die Politik, die Erwachsenen. Für den Unterricht ist der Text gut geeignet, da ich mir vorstellen kann, dass jeder dort viele Punkte findet, denen er zustimmt, und andere, die er ablehnt. So auch ich.
Der Tenor: Warum müssen die Kinder so viel Leid und Stress haben in der Schule, so viel Zeit damit verbringen, wo man ihnen dadurch wichtige Kindheitszeit stiehlt, wo man ihnen dadurch wichtige Erfahrungen vorenthält – auch Muße und Langeweile – und sie stattdessen zu bürofreundlichen Arbeitserledigern heranbildet?
Im Prinzip gebe ich Sußebach Recht, aber ich mag das Kleinzprinzliche der Brieffiktion nicht. „In dem Zauber verweilen, den jeder kennt, der aus dem Kinodunkel ins Licht tritt – als laufe man erwachend durch einen Traum.“ Da möchte ich mit Ringelnatz immer seufzen: „Ich weiß! Ich weiß! Schon gut! Schon gut!“ Warum hört man immer von den kleinen Mädchen, die ihre Reitstunden aufgeben müssen, weil das Gymnasium so schwer ist, und nie von den betrunkenen Abiturfeiernden, wie sie letzten Mittwoch nach den letzten Prüfungen im Supermarkt neben unserer Schule Kassiererinnen nervten? Oder von den Schülern der Nachbarschule, die ihre Hochschulreife mit Bier- und Schnapsflaschen und Fässern auf dem gemeinsamen Schulgelände grölend feierten? Das sehe ich noch viel mehr als Versagen von Bildung und Erziehung.
Bei verklärenden Kindheitsbildern seit Rousseau schalte ich gerne mal voreilig ab. Neulich Hartmut von Hentig gelesen, Bildung – und alle Beispiele darin entstammten der schönen Literatur. Bis auf eines, die Biographie einer Schauspielerin (Namen vergessen), die auch ganz ohne Schule und unabhängig und auf Boot etc. aufgewachsen. Informiert man sich, stellt man fest: diese Biographie war auch nur erfunden. Das heißt alles nicht, dass Hentigs Menschenbild nicht stimmt. Es heißt nur, dass man gerne auf schöne Geschichten hereinfällt.
Zurück zum Brief an Marie. Dort wird die Ansicht des Soziologen Hartmu Rosa wiedergegeben: „Ihr Kinder müsst Euch wieder langweilen dürfen.“ D’accord. Wie schön allerdings, dass eine Studie herausgefunden hat, dass Schule langweilig ist– und damit übrigens eine wenig ältere Studie bestätigt, die zum gleichen Ergebnis kommt. Wir tun ja schon alles, was wir können!
(Man könnte argumentieren, dass es Rosa um ein Langweilen-Dürfen geht, während Schule eine Langweilen-Müssen ist. Aber selbst bei letzterem kann man gut kritzeln und Briefchen schreiben, und solange es Two-and-a-Half-Men und Facebook gibt, wird ersteres nicht mehr geschehen. Langweilen kann man sich nur, wenn man nicht gelernt hat, wie man Zeit totschlägt.)
Zum Ergebnis der Studie: Schüler langweilen sich auf der Grundschule wenig, auf Mittelschule und Gymnasium mehr. Das ist schlecht, keine Frage. Aber: kann das nicht auch am Alter liegen? Entwicklungsbedingt sein? Ab wann haben Schüler das Recht, selbst zu verantworten, ob sie sich langweilen oder nicht? So oder so ist es wohl: selbstbestimmte Arbeit ist keine Arbeit, sondern macht Spaß. Fremdbestimmte Arbeit ist immer Arbeit. Die kann allenfalls halbwegs erträglich sein (so wie ich das aus meiner Schulzeit kenne), wenn die Anforderungen gerade so sind, dass ich mit ein wenig Mühe knapp erreiche. Das ist dann befriedigend. Aber immer noch Arbeit. Warum kann die Arbeit an der Schule nicht selbstbestimmt sein? Weil der Staat sagt, dass Schüler bestimmte Sachen lernen sollen. Dagegen kann man natürlich sein, und vielleicht ist das sogar eine gute Idee.
Fußnote 1: „Wird Dir jemals ein Lehrer erzählen, dass das Wort Schule aus dem Griechischen stammt und eigentlich ‚freie Zeit‘ bedeutet?“ Aber klar. Lehrer erzählen Schülern ständig so etwas. Und Marie wird mit den Augen rollen dabei.
Fußnote 2: Sußebach zitiert den Bildungsforscher Kurt Heller mit einem differenzierten Blick aufs G8. Das habe „für 25 bis 30 Prozent der Gymnasiasten mehr gebracht – für die anderen wäre G9 vorteilhafter gewesen.“ Ich weiß nicht, ob die Zahlen stimmen, kann mir das aber schon so vorstellen. Leider hört man selten so differenzierte Aussagen.
Der Hauptanklagepunkt Sußebachs ist vielleicht der, dass alles in der Kindheit einen Zweck haben muss, einen Sinn. Das ist tatsächlich schlecht. Und wird von vielen Eltern und der Wirtschaft tatsächlich zumindest für die Schule gefordert: die muss unmittelbar verwertbar sein. „Wir haben Euer Leben den Regeln der Wirtschaft unterworfen.“ Stimmt. Und das ist schlecht, ich wiederhole das. Sußebach macht sich Sorgen, dass nur die angepassten, braven am Gymnasium bestehen. Dass „die Querköpfe, die Nervensägen, die Rotznasen“ aussortiert werden. Hm, weiß nicht. Querköpfe gibt es sehr wenige an meiner Schule, das stimmt. Aber ich weiß nicht, woran das liegt, und ob es weniger sind als früher. Vielleicht. Ich würde aber nie sagen, dass die Braven, Angepassten bleiben. Siehe bierfreudiges Abifeiern. Aber auch da kommt es darauf an: angepasst woran?
Muss jetzt schließen, die Batterie vom Keyboard ist leer. Eigentlich: Abendessen, aber so oder so höre ich jetzt auf, unfertig wie der Text auch ist.
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Hörenswerter Vortrag einer Anthropologin:
Amber Case: We are all cyborgs now.
Dort habe ich auch zum ersten Mal den inzwischen häufiger gefundenen Begriff digital adolescence gehört. Ist vielleicht eine interessante Ergänzung zu digital resident und digital visitor. (Das mit den natives wollen wir ja eh mal ruhen lassen.) Demnach gäbe es auch digital adults und digital infants und dergleichen – eine zeitliche Bildebene statt einer räumlichen.
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Neues vom Abitur: bis vor ein paar Tagen hatte man das G8-Abitur in Bayern nicht bestanden, wenn man in den drei Pflichtfächern Deutsch, Mathematik und Fremdsprache mehr als einmal unter 5 Punkten in der Abiturprüfung hatte. Das war mir selber, ehrlich gesagt, auch erst zu spät klar geworden, sonst hätte ich das angesprochen. Die Schüler hatten das alle in ihren Informationsbroschüren stehen, aber ich weiß nicht, ob sie das wirklich verstanden haben. Denn unter 5 Punkten, das kommt in Klausuren wie in Abituren nicht so gar selten vor.
Deshalb mag es für manche ein Glück gewesen sein, dass ein Schreiben des Ministeriums vorgestern die Schulen darüber informierte, dass die Regelung entschärft worden ist: einmal 4 Punkte und einmal 5 Punkte in diesen drei Fächern gehen auch.
„Diese Entscheidung erfolgte auf der Basis vorliegender Rückmeldungen von Schulen und nach Gesprächen mit Lehrkräften, Schulleitern, sowie Vertretern von Lehrer- und Elternverbänden“ und ist Teil eines sogenannten Monitoringprozesses – das heißt, dass während der gesamten G8-Oberstufenphase immer wieder Feinjustierungen an der Notenregelung und anderem vorgenommen wurden, wenn es denn Gespräche mit Lehrkräften, Schulleitern, sowie Vertretern von Lehrer- und Elternverbänden erforderten. So konnten die Schüler etwa wählen, ob die Klausurnoten im Vergleich zu den anderen Noten doppelt oder einfach gewichtet werden sollten.
Im G9 gab es das Problem in dieser Form nicht: da musste niemand in Deutsch oder Mathematik Abitur machen, und jetzt müssen das alle. Kein Wunder, dass das nicht so glatt geht. (Pressemitteilung der bayerischen Grünen dazu, denen die Verpflichtung zu diesen drei Fächern nicht gefällt.) Ich halte es eigentlich schon für sinnvoll, diese drei Fächer herauszuheben. Aber dann muss das den Schülern und Schulen auch bewusst sein und es muss die nötigen Ressourcen dazu geben. Diese Feinjustierung in letzter Minute wirkt jedenfalls sehr, sehr ungeschickt, auch wenn Lehrer und Schüler froh sein werden über die ansonst nötig gewesenen Zusatzprüfungen, die jetzt entfallen. Eine Niveausenkung ist das allemal.
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