Habe ich hier tatsächlich noch nie etwas über Matt Ruff geschrieben? Seinen Erstling, Fool on the Hill (1988) habe ich bald nach Erscheinen gelesen, und vor wenigen Jahren wieder: Hat sich gut gehalten, ist aber sicher nicht für jeden etwas. Meine Leserunde würde sich schütteln… aber ein tolles Buch: Ein Universitätsroman mit einem jungen Träumer als Helden und einer Bande von schrägen Tolkien-Fans auf Motrrädern, und – essentiell, aber ziemlich unbemerkt von allen anderen – einer Reihe von intelligenten Hunden und Katzen und, uh, Elfen und Kobolden, die sich alle auf dem Campus der Cornell-Universität herumtreiben. “ ‘Ich hasse es, wenn sie Bradbury gelesen haben’ ”, sagt einer. Wie gesagt, tolles Buch.
Sewer, Gas & Electric (1997): Habe ich als gut in Erinnerung, aber nicht sehr gut. Aber auf jeden Fall originell. Noch origineller, und sehr gut, ist Set This House in Order (2003), den ich nicht spoilern möchte. Bad Monkeys (2007) war das einzige Buch, das mich enttäuscht hat. The Mirage (2012) war dann wieder gut, und originell… das Wort passt zu Ruff:
11/9/2001: Christian fundamentalists hijack four jetliners. They fly two into the Tigris & Euphrates World Trade Towers in Baghdad, and a third into the Arab Defense Ministry in Riyadh. The fourth plane, believed to be bound for Mecca, is brought down by its passengers.
The United Arab States declares a War on Terror. Arabian and Persian troops invade the Eastern Seaboard and establish a Green Zone in Washington, D.C. …
Das Buch ist sehr viel besser, als man zuerst befürchtet. “Full Ninja” als Umgangssprache für Vollverschleierung, “Library of Alexandria” statt Wikipedia.
Dieser Tage kam Matt Ruffs jüngstes Buch heraus, Lovecraft Country. Wie nach seinem Erstling immer wieder hat er dann doch nicht den Roman geschrieben, den ich eigentlich wollte. Also bin ich wieder ein kleines bisschen enttäusch. Aber vielleicht tut Ruff auch gut daran.
Lovecraft Country ist eine Sammlung von acht verbundenen Kurzgeschichten oder Vignetten, die zusammen einen Roman ergeben. Erzählt werden die Abenteuer einer schwarzen Chicagoer Familie Mitte der 1950er Jahre, jeweils mit dem einen oder anderen Familienmitglied als Hauptperson. Und die Geschichten sind alles Gruselgeschichten. Es sind trotz des Titels keine typischen Lovecraft-Geschichten (Tentakelmonster, kosmisches Grauen, Bedeutungslosigkeit der Menschheit), keine psychologischen oder ekligen modernen Horrorerzählungen, aber auch keine letztlich christlichen Geschichten um Geister oder Vampire. Widersacher sind eher wahnsinnige Kultisten; Vorbilder sind Ray Bradbury oder Stephen King.
Und das alles vor dem Hintergrund des Rassismus der 1950er Jahre, schlimm genug im Norden (Chicago, Neuengland), noch gefährlicher im Süden. Atticus Turner sucht in der ersten Geschichte seinen Vater, Montrose, zusammen mit dessen Bruder George. George ist Herausgeber des Safe Negro Travel Guide, ein regelmäßig erscheinender Reiseführer für schwarze Amerikaner. Da steht drin, welche Orte man als Schwarzer meiden sollte, wo man bedient wird und wo nicht, wo es Toiletten gibt, die Schwarze benutzen dürfen, welche Motels und Gaststätten sie aufnehmen und welche nicht. Selbst wenn die sich herausbildende schwarze Mittelschicht über Geld verfügt, gibt es wenige weiße Orte, an denen man es ausgeben kann. – Vorbild für diese Publikation ist sicher The Negro Motorist Green Book (1936–1966).
Stellt sich heraus: ein Geheimbund, the Order of the Ancient Dawn, lauter weiße Männer und Frauen, ist hinter Atticus her, aus Gründen. (Atticus stammt ab von einem der Gründer.) Der neue Anführer ist dann aber erst einmal kein unmittelbarer Feind der Atticus-Familie, sondern ein gefährlicher Helfer, der schon auch mal einen Gefallen springen lässt, aber vor allem mit Hilfe von Atticus versucht, die Kontrolle über andere Zweige des Bundes zu gewinnen. Das entwickelt sich erst im Lauf der Geschichten, bis im Finale die verschiedenen Parteien – die Zweige des Bundes, Atticus und seine Familie und Freunde – aufeinandertreffen.
Das Titelbild des Buchs ist bunt und reißerisch, ganz wie die Pulpgeschichten, die Atticus und George so lieben (und ähnlich gerastert). Schönes Detail: wie die Tentakel unten den Hintergrund bilden für weiße Klan-artige Mützen. Der Einband des Buchs ist dicke Pappe, aber ganz anders als bei üblichen Hardcoverbüchern. Diese Art Einband kenne ich vor allem von den Jugendbüchern meiner Kindheit. Und so sind die Geschichten dann auch am ehesten Abeneteuergeschichten, viel mehr als Horrorgeschichten, auch wenn es durchaus gruslige Momente gibt. Aber das Abenteuer dominiert. Horror, ja, aber eher der Horror, wie ich sie aus etwas pulpiger gespielten Call-of-Cthulhu-Rollenspielszenarios kenne. In mindestens zwei Geschichten gibt es ominöse Auftraggeber, in mindestens einer beugt sich eine Gruppe von Helden über den Grundriss eines Gebäudes und plant einen Einbruck. Einmal geht es um einen nächtlichen Einbruch ins Museum, mit Geheimtüren und Rätsellösen – glücklicherweise hat die Gruppe ein Seil dabei. Es gilt die traum-hafte Logik des Rollenspiels, wo komplizierte Pläne leicht umgesetzt werden und sich niemand groß über das Wunderbare wundert:
“It’s an alternate dimension!” he said. “Another universe, maybe.”
“Yeah,” said Pirate Joe. “So who wants to go first?” (p. 161)
Und doch: Mir hat das sehr gut gefallen, und für Rollenspiele lassen sich einige der Geschichten wunderbar übernehmen. Ich musste mich halt erst damit abfinden, dass das Buch dann doch kaum etwas mit H. P. Lovecraft zu tun hat, von dem einen oder anderen Schlenker abgesehen. Und dann natürlich die Prämisse: Lovecraft selber war sehr rassistisch, und dieser Rassismus ist explizit oder implizit in vielen seiner Geschichten spürbar. Ich hatte mir zuerst ein ernsteres Buch erwartet, mit mehr Verbindung zwischen Rassismus und Tentakelmonstern, wie das Titelbild nahelegt. Aber nein, der Rassismus ist einfach nur Alltag und hat mit den übernatürlichen oder abenteuerlichen Aspekten der Geschichten selber wenig zu tun.
Beim Lesen habe ich mich gefragt: Ist es in Ordnung, wenn ein Weißer so ein Buch schreibt? In den Acknowledgements nennt Ruff einen Essay, “Shame”, von Pam Noles, wie es ist, ein schwarzer Science-Fiction-Fan zu sein. Lesenswert.