Seit mehreren Wochen schon sah man in vielen Dörfern an der äußeren Region des Immerwalds einen Reiter auf einem weißen Pferd reiten.
So fing der Aufsatz an, und das fand ich toll und bemerkenswert, und um das zu erklären, will ich ausholen.
Im 9-jährigen Gymnasium darf man auch in der 7. Jahrgangsstufe wieder erzählen, und das finde ich gut. Das heißt, Erzählen darf man natürlich immer, aber ernsthaft benoten nicht, und weil man stattdessen immer anderes ernsthaft benoten muss, macht man halt das. Etliche Kollegen mögen das Erzählen in der 7. Klasse nicht, weil diese Aufsatzsorte dort eben ausläuft; ich halte sie allerdings erstens für nützlich, weil das Produzieren von Texten später beim Analysieren von Texten hilft, und zweitens für vergnüglich. Aber es stimmt auch, dass in manchen Klassen schon in der 6. Jahrgangsstufe manche Jungs die Nase voll haben vom Erzählen.
Meine aktuelle 7. Klasse scheint es allerdings zu mögen. Wir orientieren uns dabei an der Lektüre, höfischer Roman, und dem Schwerpunkt Schildern. Das heißt, es soll gar nicht viel an Handlung passieren, aber diese anschaulich geschildert werden. Und zwar so:
- mit anschaulichen Details, mit Aufzählungen, mit konkreten Einzelheiten
- mit Sinneseindrücken: Temperatur; Tastsinn; was man hört
- mit Bildern, also Vergleichen oder Metaphern
- mit innerer Handlung, also Gedanken und Gefühlen
Ausgangspunkt war eine Stelle aus Stephen Kings Es, die ich ausgeteilt hatte: George geht während eines Stromausfalls in den dunklen Keller, um Öl für die Lampen zu holen, fürchtet sich, findet das Öl, und geht dann wieder hinauf. Und das mit 800 Wörtern, etwa vier handschriftlichen Aufsatzseiten. Und natürlich macht Stephen King all das mit den Bildern, den Sinneseindrücken, den konkreten Aufzählungen, den Gedanken und Gefühlen.
Außerdem, und eher am Rand nebenbei, stellte ich noch zwei Erzählweisen vor: die des oft allwissenden Erzählens lange nach der Zeit der Handlung, mit Kommentierung und Abschweifung, Fachausdruck „Labersack“, und die des personalen Erzählens. Dazu nicht viel Theorie oder weitere Differenzierung, das kommt alles später noch. Ich lese nicht viel moderne Jugendliteratur, aber ich glaube, die ist fast durchgehend personal erzählt – eben nicht aus der Perspektive danach, nicht mit mehr Wissen, als die Figur zu der Zeit der Handlung hat. Kinderliteratur ist da wieder anders, da gibt es auktoriales Erzählen noch. Walter Moers zähle ich auch eher zur Kinderliteratur als zu young adult fiction. Und ich mag das auktoriale Erzählen sehr.
Dann gab es folgende Themen für den Übungsaufsatz:
- Der Ritter Gawain (Iweins bester Freund) verfolgt die Spur eines Drachen und trifft ihn schließlich in einem finsteren Wald. Deine Erzählung soll abbrechen, bevor es zu einem Kampf kommt, also mit der Begegnung – der Kampf, wenn es einen gibt, wäre dann im folgenden Kapitel. Überlege dir, wie Gawain in den Abschnitten immer näher an den Aufenthaltsort des Drachens kommt und wie dabei Spannung entsteht. (Am besten: 3. Person!)
- Lunete sucht einen magischen Schlüssel, der alle Tore und Türen öffnet, auf dem Speicher/Dachboden der Burg, in der sie wohnt. Tageszeit: Kannst du dir aussuchen, spielt aber sicher eine Rolle für die Stimmung. (Am besten: 3. Person!)
Was herausgekommen ist, hat mir wirklich sehr gut gefallen. Da ist zum einen eben dieser Anfang:
Seit mehreren Wochen schon sah man in vielen Dörfern an der äußeren Region des Immerwalds einen Reiter auf einem weißen Pferd reiten.
Ja, ich habe ein Vorfeldkomma entfernt, und der reitende Reiter ist nicht ideal. Aber dennoch ist das ein schöner Anfang, und zwar deshalb: Er ist nicht personal erzählt, nicht aus unmittelbarer Perspektive der Hauptperson heraus, die ja später der Reiter selber sein wird. Das geschieht in Schulaufsätzen so gut wie nie, glaube ich. Eine Ausnahme sind vielleicht Erklärungssagen, die eine halbwegs formelhafte Einleitung haben, in der ein Phänomen vorgestellt wird, dessen Herkunft dann mit einer Geschichte erklärt wird.
Aber sonst, sonst ist das immer personal. Gerne mal Beginn mit einer unwesentlichen Frühstücksszene, im Idealfall wenigstens in medias res: „Er rümpfte seine Nase. Es war schon viertel vor acht“ oder „Die S-Bahn hielt an“ oder „Sie begutachtete das Hühnchen.“ Aber immer, immer personal. Wir bringen ihn nichts anderes bei. Und das macht diesen ersten Satz so erfrischend und ungewöhnlich: es ist eine andere Perspektive.
Aber auch andere Anfänge waren schön. Bei diesem hier war ich gerade im Lehrerzimmer, musste laut lachen und dann erklären, warum ich lachte, was ein wenig umständlich war. Hier der Anfang:
Als Gawain bemerkte, dass kein freudiger Zug mehr seinen Mund umspülte, er keine Turniere mehr reiten konnte, ohne den Hintergedanken, sich gleich von seinem galoppierenden Pferd auf den tödlichen, harten Boden zu werfen, und ihn selbst ein Sieg gegen einen der Besten, seinen Freund Iwein, nicht mehr mit Triumph erfüllte, wusste der Beste der Besten, dass es höchste Zeit für ihn war, auf ein neues, waghalsiges Abenteuer aufzubrechen, um seine Ehre zu erweitern und sein Lebensglück zurückzuerlangen.
(„Der Beste der Besten“, so wird Gawain im Buch mehrfach genannt.)
Der Grund, warum ich diesen Anfang so lustig fand, abgesehen von der ungewohnten Perspektive, die eine Art distanzierte Innenperspektive sein mag, ist folgender: Ich habe einen Mebiskurs für meine Deutschklassen. In diesem ist nicht nur Material für den aktuellen Unterricht, sondern auch zu anderen Themen, und auch in die Themen anderer Jahrgangsstufen kann man schauen. Und so gibt es einen Abschnitt darin, der „Tipps und Tricks“ (zum Erzählen) heißt, den ich in dieser Klasse gar nicht angesprochen habe, der auch noch gar nicht vollständig ist, aber einen ausgeführten Punkt enthält, der „Von Vorbildern lernen (uh, klauen)“ heißt. Den hat sich die Schülerin wohl angeschaut, und da steht als Beispiel der Anfang von Moby Dick, ein paar Zeilen nach dem so oft zitierten Anfangssatz:
Wenn ich einen freudlosen Zug um meinen Mund herum bemerke, wenn ein nasser und niesliger November in meiner Seele herrscht, wenn ich unwillkürlich vor jedem Sargmagazin stehenbleibe und jedem Leichenzug sehnsüchtig nachsehe, und ganz besonders wenn ich mich der Schwermut so wenig erwehren kann, dass es der höchsten moralischen Prinzipien bedarf, um mich davon abzuhalten, auf die Straße zu stürzen und systematisch allen Leuten den Hut vom Kopf zu schlagen – dann ist es allerhöchste Zeit, wieder einmal auf See zu gehen.
Das klaut/zitiert/verwendet Ray Bradbury, der ein großer Fan des Buches war, für seinen eigenen Roman Der Tod ist ein einsames Geschäft:
Wann immer ein trister und feuchter November in meiner Seele herrscht, dann weiß ich, dass es höchste Zeit ist, das Meer zu verlassen und jemanden mein Haar schneiden zu lassen.
Und die Schülerin hat das eben auch übernommen für ihren Gawain-Anfang. (Auch hier könnte man monieren, dass bei Melville und auch noch Bradbury ein Teil des Witzes im Kontrast zwischen dem wortgewaltigen ersten Teil der Periode und ihrem schlichten Ende besteht. Aber das ist Kritik auf hohem Niveau.) Jedenfalls brachte mich die Kombination dessen, dass solche Tipps und Tricks im Mebiskurs auch tatsächlich gelesen und angewendet werden, und der originelle Einstieg zum ungläubigen Lachen im Lehrerzimmer.
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