Über Register: von Dennis Duncan zu J. G. Ballard

Frau Rau wies mich auf eine Besprechung der deutschen Ausgabe des Buchs Index, eine Geschichte des. Vom Suchen und Finden von Dennis Duncan hin (Süddeutsche Zeitung, Paywall), ob ich das kenne, das sei doch etwas für mich. Ich kannte es nicht. (Aber hier ein Podcast über Alphabetical Order.) Ein Buch über Register, mit Register. Auf jeder Seite sollte etwas Spannendes stehen! Das wollte ich lesen, aber ich wusste nicht, ob ausnahmsweise auf Papier oder doch digital. Also lud ich mir auf das Kindle eine Leseprobe herunter, die mir bei der Entscheidung helfen sollte.

(Mein Hauptproblem mit digital gekauften Büchern: Sie sind nur geliehen, nicht gekauft, und ich kann nicht beliebig digital mit ihnen arbeiten. Alle technischen Möglichkeiten, das zu ändern, sind wahrscheinlich nicht legal. Meistens lese ich digital, aber sehr vieles davon ist alt und gemeinfrei.)

Die Leseprobe habe ich nur überflogen, nach der längeren Einführung beginnt gleich das erste Kapitel mit einem Hinweis auf eine Kurzgeschichte „The Index“ von J. G. Ballard, die neben zwei einleitenden Absätzen nur aus dem Register einer angeblich verschollenen und natürlich fiktiven Autobiographie bestand. Die Lebensgeschichte der Hauptperson und vielleicht sogar einige Hintergründe des Verschwindens kann man sich aus dem Register zusammensuchen. Das kannte ich nicht, Ballard schon, ist genau mein Ding (Blogeintrag), also las ich die Geschichte. Papier-Veröffentlichungen der Geschichte findet man hier, wenn auch nur Bücher, keine Zeitschriften; auch online ist sie teilweise zu finden oder auszuleihen. Sie ist acht Seiten lang.

Mir fielen Dinge auf und ein:

  • Als ich den Index las, kam es mir vor, als ob ich doch so vage leicht chronologisch lesen würde. Die Entstehung der Autobiographie selber, also das letzte, was man vom Autor erfährt, und der Ersteller des Indexes und seine kleine Minigeschichte stehen ganz am Ende, weil der Nachname des Erstellers praktischer Weise mit Z beginnt. Aber auch eine große Krise im späteren Leben des Autors taucht aus ähnlich alphabetischen Gründen erst spät im Register auf, über seine Geburt erfährt man vorher etwas. Ballard scheint also das Lesen des Registers in alphabetischer Reihenfolge etwas zu unterstützen.
  • Andererseits stößt man immer wieder auf Einträge wie „Nizza, 45“ oder „Rapallo, Rekonvaleszenz in, 321“ oder „Tangier, geheimer Aufenthalt in, 653-5“ bei denen man sich wünscht, das Register wäre nicht alphabetisch sortiert, sondern nach Seitenzahlen, um so leichter herausfinden zu können, was um die Seiten 45 oder 321 oder vor allem 653-655 herum noch alles los war. Kurz: Man wünscht sich eine Konkordanz des Registers, oder jedenfalls der Seitennummern darin.

Ach, ach: Ich wäre ein guter Vampir geworden. Denen hat man Erbsen oder Linsen ins Grab gegeben, weil die Vampire, wenn sie nachts erwachen, sie zwanghaft zu zählen beginnen und so gar nicht erst aus dem Grab kommen, bevor die Sonne aufgeht. (Der Count von Count aus der Sesamstraße nur Zufall?) Ich bin da ähnlich zwanghaft. Also erstellte ich mir ein solches Register: Sauberer Scan, OCR, dann viel Suchen-Ersetzen im Textverarbeitungsprogramm und Export in Tabellendokument. Das dauert schon drei Stunden.

Benfords Gesetz

Und wenn man die Daten hat, kann man mit ihnen arbeiten – erst einmal Benfords Gesetz überprüfen; eine passende Tabellendokument-Vorlage hatte ich im Haus, weil ich das mal für die 9. Klasse vorbereitet hatte. Benfords Gesetz, das natürlich kein Gesetz ist, aber so heißt, besagt: In vielen natürlich entstandenen Datensätzen taucht als erste Ziffer der Zahlen die 1 viel häufiger als die 2 auf, und die 2 häufiger als die 3, und so weiter. Warum das so ist, ist nicht ganz klar, und es gilt auch nicht uneingeschränkt, aber dennoch ist der Unterschied zu reinen Zufallszahlen klar: Da erscheint jede Ziffer gleich oft am Anfang einer Zahl.

Hier die Verteilung der Anfangsziffern der erfundenen Seitenzahlen in Ballards „The Index“. Bei Angaben wie „S. 123-34“ habe ich jeweils nur einmal die erste Ziffer genommen – eventuell verfälscht das das Ergebnis?

J. G. Ballard, „The Index“, Benford’s Law

Zugegeben, ab der 2 sinkt die Häufigkeit, wenn auch nicht so extrem wie sonst bei Benfords Gesetz, und dass die 1 so selten ist, das scheint ungewöhnlich. Aber vielleicht folgen die Seitenzahlen in Registern ja gar nicht Benfords Gesetz? Ich hatte ein weiteres Sachbuch da, in digitaler Form, mit einem Personen- und einem Sachregister. Diese Register wertete ich ähnlich aus (alles bis auf Ziffern und Kommas löschen, bei Einträgen wie 123-25 auf die Bindestriche achten; die Kommas dann als Tabellenbegrenzung verwenden). Hier die zwei Ergebnisse:

Zum Vergleich

Vergleichsregister 1, Benford’s Law
Vergleichsregister 2, Benford’s Law

Das passt schon besser zu Benfords Gesetz, wenn auch nicht ideal – es liegt vielleicht auch ander Struktur des vewendeten Sachbuchs. Zum besseren Vergleich bräuchte ich das Register einer Biographie oder Autobiographie, aber so etwas hatte ich nicht digital da, und zum Einscannen und Texterfassen hatte ich so gar keine Lust.

Fazit: Die Seitenzahlen sind wahrscheinlich erfunden! (Oder ist auf den Seiten 100-199 einfach so wenig passiert, weil die Hauptperson noch jung war?)

Alphabetische Chronologie

Was war mit meinem Eindruck, dass Ballard das Register doch leicht chronologisch aufgebaut hat, unseren Lesegewohnheiten entsprechend, also dass die alphabetisch späteren Einträge auch chronologisch später im Buch erscheinen, also mit höheren Seitenzahlen und damit vermutlich später im Leben der Hauptperson? Das lässt sich auch leicht überprüfen, wenn auch mit ein wenig mehr Aufwand, weil man Einträge wie „Gandhi, Besuch bei 251; Diskussion mit, 253; Waschen des Dhoti, 254; Abwendung, 256“ alle so umformen muss, dass sie einzeln unter G wie Gandhi stehen. Heraus kommt dabei folgende Verteilung:

Ballard, Verteilung der alphabetisch geordneten Einträge auf Seitenzahlen

Man sieht als erstes eine Lücke in der Mitte. Das sind niedrige Seitenzahlen, die alphabetisch erst am Ende der ersten Hälfte kommen. Man sieht zweitens eine Art spitz nach rechts zulaufender Blöcke oder Türme: Diese Art der Spitze entsteht durch Stichwörte wie bei Gandhi oben, wo es mehrere Seitenzahlen zum gleichen Stichwort gibt; diese Seitenzahlen sind dann natürlich aufsteigend angeordnet. Man sieht aber auch allgemein eine aufsteigende Tendenz, fast eine Kurve: Der ersten Hälfte des Alphabets entsprechen niedrige Seitenzahlen, der zweiten Hälfte, insbesondere am Ende, hohe Seitenzahlen. Aber auch hier muss man wieder mit anderen, echten Registern vergleichen. Hier wieder die gleichen Vergleichsregister wie vorhin:

Vergleichsregister 1, Verteilung der alphabetisch geordneten Einträge auf Seitenzahlen
Vergleichsregister 2, Verteilung der alphabetisch geordneten Einträge auf Seitenzahlen

Die spitzen Türme sind wieder da, aber keine Kurve nach rechts oben. Auch hier wäre es gut gewesen, wenn ich eine Biographie statt eines generischen Sachbuchs hätte verwenden können. Ich vermute mal, dass das bei einer Biographie ähnlich aussieht, kann es aber nicht belegen.

Fazit: Ja, die Vermutung ist belegt.

Leseweisen

Ich habe die Geschichte dann also ein zweites Mal gelesen, in pseudo-biographischer Reihenfolge, also nach Seitenzahlen sortiert. Da fällt einem manches weniger gut auf als bei der anderen Reihenfolge, etwa das sich wiederholende Muster bei der Begegnung mit berühmten Personen der Geschichte: Erst lernt diese die Hauptperson kennen, schätzt und fördert sie, und wendet sich doch jedesmal am Ende von ihr ab. – Auf S. 45 und Umgebung war außer „Nizza“ dann übrigens doch nichts Besonderes los. Immerhin: Dass er bei seinem Flugzeugabsturz in Kambodscha eine Gehirnerschütterung davongetragen hat, wird nur bei der zweiten Lesart klar, ist aber auch nicht sehr wichtig. Außerdem erscheinen da ein paar Ungereimtheiten, die ich für unabsichtliche Artefakte halte.

Ausblick

Das war die Folge des erstes Absatzes des ersten Kapitels von The Index von Dennis Duncan. Mir graut davor, was das Buch bei mir anrichtet, wenn ich es erst ganz in Händen habe.

(Nachtrag)

Kurz vor Fertigstellung erreicht mich noch eine Biographie. Vielen Dank dafür! Hier zum Vergleich die Häufigkeit der Verteilung der ersten Ziffer der Seitenzahlen im Register:

Vergleichsregister Biographie, Benford’s Law

Die 3 ist überraschend wenig vertreten, sonst okay. Wieder führt die 1, wenn auch mit weniger Vorsprung als erwartet.

Und hier die Reihenfolge der Seitenzahlen:

Vergleichsregister Biographie, Verteilung der alphabetisch geordneten Einträge auf Seitenzahlen

Die üblichen schrägen Spitzen insbesondere ab Element 715 – und ich sag noch beim Abtippen zu Frau Rau: Der mochte Nietzsche schon besonders gern. Aber keine allgemeine Aufwärtstendenz, wie sie ja auch nicht zu erwarten wäre.


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