Wie ein Mythos entsteht: Die 14 Weisheitstafeln der ME in der Wikipedia

(4 Kommentare.)

Ich bin so etwas von kein Sumerologe. Also bitte alles mit Vorsicht lesen, vielleicht blamiere ich mich enorm. Aber ich habe gelernt, mit Quellen zu arbeiten. Ich verstehe, dass das hier vermutlich nicht von allgemeinem Interesse ist.

1. Der Ausgangspunkt

Auf den deutschen Wikipediaseiten zu Enki und zum Mythos von Inanna und Enki geht es um die Erzählung, in der die Göttin Inanna den Gott Enki um die Mes in seinem Besitz bringt. Am nächsten Tag wird sie zwar verfolgt, entkommt aber mit ihren Schätzen. Am Ende gibt Enki zu, dass die Mes jetzt Inanna gehören.

Zwei Punkte bei den Details in Wikipedia halte ich für falsch. Erstens ist da von den „Weisheitstafeln der ME“ die Rede. Zweitens steht da etwas von vierzehnmal Zuprosten und Danken:

„Im Namen des Tempels, die schöne Göttin Inanna soll als Göttin über Sumer herrschen, Hohepriesterin soll sie sein, ebenso wie sie die Krone und den Thron des gesamten Landes erhalten wird. Ich werde ihr die Erkenntnis der Wahrheit geben; dazu die Liebeskunst und die Heilige Hochzeit, die durch den Abstieg in die Unterwelt und der nachfolgenden Wiederkehr gefeiert werden wird. Die Macht des Schicksals soll Inanna erhalten, die Sterne regieren, den Menschen soll sie Freude und Trauer geben. Die heiligen Tempel des Landes Sumer sollen ihr gehören.“

Inanna prostete insgesamt vierzehnmal Enki zu und sagte jedesmal nur kurz „Schön, die Geschenke und Zusprüche nehme ich gerne an“. Am Ende der Feier folgte von Enki an seine Helfern die Anweisung, die Weisheitstafeln der “ME“ Inanna zu übergeben.

Wikipedia, ohne Beleg; aber die Quelle lässt sich aus den allgemeinen Literaturangaben vermuten – dazu später mehr.

Außerdem steht als Einleitung davor, dass Enki eben dadurch „jeden Wunsch der reizvollen Inanna erfüllte“. An anderer Stelle wird das so zusammengefasst:

[Als Enki] ihr 14 Wünsche auf den Weg mitgibt, schreiben sich diese Wünsche in die Schicksalstafeln ein und ermöglichen es Inanna, diese mitzunehmen.

Wikipediaseite zu Enki

2. Mein Problem mit der Situation

Ich habe originalgetreue Übersetzungen der Keilschrift-Texte gelesen, deutsche und englische, und jeweils Transliterationen verglichen. Dort finde ich keine Tafeln und keine Vierzehn und kein regelmäßiges Zuprosten und schon gar keine Wünsche, die sich einschreiben. Aber ja, das ganze geschieht in einer trunkenen Nacht. (Was es gibt, aber in einem anderen Mythos von Enlil oder Enki: eine Tafel des Schicksals, die tatsächlich auch mit den Mes in Verbindung steht.)

Die Mes können gedeutet werden als eine Erklärung dafür, warum die Welt so ist, wie sie ist, und reibungslos funktioniert: Eine Menge von göttlichen Regeln und Anleitungen. Sie spielen vor allem im genannten Mythos von Inanna und Enki eine Rolle, wo die Zivilisation in etwa hundert solche Elemente aufgeteilt wird (alles: Kramer 1963, S. 110). Und im Mythos von Inannas Abstieg in die Unterwelt rüstet sich die Göttin mit einer kleinen Anzahl an Mes. – Meine Frage ist nun, welche Form diese Mes annehmen. Es sind teils konkrete Objekte, teils abstrakte Konzepte, teils kulturelles Fertigkeiten. Bei Kramer steht nirgendwo, dass sie die Form von Tafeln haben.

3. Mögliche Quellen

Die vierzehn Weisheitstafeln und Bedankungen finden sich wirklich überall im Web und in der Literatur, selbst in Habilitationsschriften. Das kann nicht alles aus Wikipedia abgeschrieben sein. Wo kommt das her? Bei den Wikipedia-Einträgen fehlen jegliche Belege, ich bin einer der genannten Literaturangaben nachgegangen: Heide Göttner-Abendroth Inanna, Gilgamesch, Isis, Rhea – Die großen Göttinnenmythen Sumers, Ägyptens und Griechenlands (2004). Das ist aber, auch laut Untertitel, eine moderne Nacherzählung, als Quelle für den Originalmythos ungeeignet. Die wörtlichen Zitate in Wikipedia stammen nicht aus diesem Buch, aber im Prinzip steht das genau so drin: „Inanna antwortete gelassen: ‚Das nehme ich!’“ und: „Vierzehn Mal hob Enki sein Gefäß und prostete Inanna zu.“ Die übergebenen Mes enthalten hier in freier Übersetzung „Göttinnschaft“ und „Hohepriesterinnentum“, und transportiert werden sie in der Tat als die „heiligen Gesetzestafeln“.

Diese Nacherzählung hat natürlich Vorläufer. Eine ältere Quelle mit „Vierzehnmal erhob Enki seinen Becher zu Inannas Wohl“ und „Inanna gab zur Antwort: Ich nehme an!“ ist: Elisabeth Hämmerling, Mondgöttin Inanna: Ein weiblicher Weg zur Ganzheit (1995). Dort wird die Zahl 14 auch erklärt oder gedeutet: „Es ist die Zahl der Nächte von der Dunkelmond- zur Vollmondphase“ (S. 41 in der Ausgabe von 2018, Untertitel: „Inannas Heldenreise“). Viele dieser Quellen sind geprägt vom spirituellen Feminismus (Wikipedia) ab den 1970er Jahren und Matriarchatstheorien.

Fußnote: Auch in anderen Bereichen der Esoterik spielen Inanna und insbesondere die Mes eine Rolle. Der „Grenzwissenschafts-Autor und Privatforscher Manfred Greifzu“ (so wird er vorgestellt) nennt in in Rätsel der Sumerer: Die Schwächen der Keilschriftübersetzung – eine Analyse (2017) zwei Interpretationen der „MEs“, einmal als „Tafeln“ (nach Zecharia Sitchin) oder „Geräte“ (nach Dr. Hermann Burgard“) vor, kommt selber zu dem Schluss: „Sie können also nur Teile von Maschinen oder Apparaten gewesen sein.“ Anderswo würden sie dargestellt als „zwölfseitige Kristalle von großer Schönheit und Färbung“, aber der Link geht nicht mehr.

Für das Entstehen des Zuprostens, der rituellen Annahme und der Betonung der Vierzehn habe ich eine zumindest mich selbst überzeugende Erklärung zum Ursprung; für die Entstehung der Weisheits- oder Gesetzestafeln halte ich für sie nicht ganz so gesichert, aber bedenkenswert. Diese wortreich ausgeführte Hypothese zur Entstehung des Mems folgt ab jetzt. (Das war ja die ursprüngliche Bedeutung von Richard Dawkins‘ Mem-Begriff. Heute bedeutet meme das gleiche wie gif, oder?)

4. Meine Hypothese

Beides, die Betonung der Vierzehn und der Weisheitstafeln, könnte zurückgehen auf: Diane Wolkstein and Samuel Noah Kramer, Inanna, queen of heaven and earth: her stories and hymns from Sumer, 1983.

Kramer war ein namhafter Sumerologe. Wolkstein war folklorist und 1967 – 1971 New York’s official storyteller. Auf Wikipedia steht, dass sie mit Kramer zusammenarbeitete, „to translate Inanna, Queen of Heaven and Earth“ – die angegebene Quelle dafür sagt aber wörtlich „to translate and retell“, und das trifft es eher: Wolkstein fertigte auf Grundlage von Kramers Übersetzung – der sie in den Details sehr folgte – eine Nachdichtung an. Im Vorwort zum Buch schreibt Kramer, dass Wolksteins Aufgabe es war,

to arrange, combine and mold their raw contents in a way that would make them alive and meaningful to modern readers. […]

[She] skillfully wove the texts of numerous related poems into a unifying whole […] re-creating […] tales and songs.

Völlig legitim, selbstverständlich. Wolkstein hatte laut ihrem Vorwort zu Mondgöttinnen recherchiert, aber wenig gefunden, bis sie auf Inanna in Poetry from Sumer (Kramer 1979) stieß. Sie fand weitere Texte bei Kramer, die beiden hatten Kontakt, das Buch entstand. Es geht darin nicht speziell um den Mythos von Inanna und Enki, sondern um alle verschiedenen Erzählungen zu Inanna, die Wolkstein anordnet zu einem Zyklus, und in Versform – übersetzt, nachdichtet, nachempfindet? Ich kann das nicht beurteilen; ich habe mir aus diesem Buch lediglich den einen Mythos von Inanna und Enki gründlich angeschaut, „Inanna and the God of Wisdom“.

In Originaltext des Mythos werden die Mes viermal aufgezählt:

  1. Als Enki sie Inanna übergibt: „Holy Inana received…“ / „Nahm die reine Inanna in Empfang.“
  2. Als Inanna ihre Schätze betrachtet: „He has given me…“
  3. Als Enki am nächsten Morgen seinen Verwalter Isimud fragt, wo denn seine Sachen sind: „Where are the…“
  4. Als Inanna in Uruk ankommt: „Inanna, you have brought with you…“

Erstens: Aus dem schlichten „I will give them to holy Inana“ in (1) ist bei Wolkstein „Enki raised his cup and toasted Inana [a second, a third time]“ geworden, aus der neutralen Akzeptanz ohne wörtliche Rede wurde ein: „Inana replied: I take them“ entstanden. Und daraus wird über ein paar Stufen das: „Schön, die Geschenke und Zusprüche nehme ich gerne an“ geworden sein.

Zweitens: Das viermalige Aufzählen von hundert Mes ist bei einer modernen Nachdichtung, die auch zum Vortrag gedacht ist, ungeeignet. Wolkstein fasst das dann auch mit zwei Tricks zusammen. In den Situationen (1) und (3) werden immer nur drei Gruppen von jeweils vier bis sechs Mes genannt. Nach jeder Gruppe kommt in Situation (1) ein wiederholtes „Inana replied: I take them“, das so eben nicht im Original steht, und in späteren Fassungen ausgebaut wird.

Im Anschluss an diese drei Mes-Kostproben wird erzählt, aber eben nicht langatmig gezeigt, dass Inanna das insgesamt vierzehnmal durchführt:

(Fourteen times Enki raised his cup to Inanna
Fourteen times he offered his daughter five me, six me, seven me. Fourteen times Inanna accepted the holy me.)

Die vollständige Aufzählung gibt es dann nur einmal, entsprechend Situation (2) oben, auf eineinhalb Doppelseiten, die man beim Vortrag auch weglassen kann. Bei Soundcloud habe ich jedenfalls eine Aufnahme von Wolkstein aus dem Jahr 1988 gefunden, da wird das übersprungen. Und diese vollständige Aufzählung ist dann auch in vierzehn Abschnitte unterteilt:

Diane Wolkstein and Samuel Noah Kramer, Inanna, queen of heaven and earth: her stories and hymns from Sumer, 1983, page 16 (Ausschnitt). Im ersten Kästchen könnte stehen ein undeutliches NAM, nam, 𒉆, gefolgt von einem EN, en, 𒂗, zusammen nam-en: hohes Priesteramt, wie auch in der Transliteration. Das zweite Kästchen könnte sein: PA, ĝidru, Zepter, 𒉺, gefolgt von MAH, maḫ, majestätisch sein 𒈤, gefolgt von etwas, das ich nicht zuordnen kann – passt zumindest in etwa zur Transliteration des Originals.

Diane Wolkstein and Samuel Noah Kramer, Inanna, queen of heaven and earth: her stories and hymns from Sumer, 1983, page 16-18

Bei (4) gibt es gar keine Nennung mehr, auch nicht als Auszug, allerdings werden neue Mes genannt, „more me than Enki had given Inanna“, die vorher nicht genannt worden waren. Gedeutet werden die an anderer Stelle dann so, dass Inanna sich die Geschenke Enkis zu eigen macht und über sie hinauswächst, indem sie eigene Mes produziert hat.

Das alles halte ich für den Ursprung der Betonung der Vierzehn in späteren Nacherzählungen. Tatsächlich ist der Text des Originalmythos auch wirklich in Gruppen aufgeteilt, soweit kein Problem. Es gibt in Aufzählung (4), der am vollständigsten erhaltenen (in den anderen fehlen dreißig bis achtzig Zeilen), zwar nicht 14, sondern 16 solcher Gruppen; wobei eine Gruppe so lückenhaft ist, dass die Begriffe nicht erschlossen werden können; und die letzte Gruppe (die mit den Musikinstrumenten) ist die, die bei Wolkstein als zusätzliche Mes genannt werden. Ob man das bei den vielen Lücken in den Aufzählungen davor so sagen kann, kann ich nicht beurteilen; bin aber skeptisch.

Drittens: Auch in der Wolkstein-Fassung ist nie von Weisheitstafeln die Rede, oder auch nur von irgendwelchen anderen Tafeln. Wären denn dann nicht ohnehin die letzte Gruppe von Mes eine zusätzliche, fünfzehnte Tafel? (Dass mindestens eine Tafel ohnehin bei der Überlieferung verloren gegangen ist, geschenkt.)

Wenn ich mir die Illustration oben ansehe, dann habe ich eine Vermutung. Diese schönen Kästchen neben den vierzehn Gruppen – sehen die nicht irgendwie aus wie Tafeln, zumal sie beschriftet sind mit den jeweils ersten Begriffen des Textes daneben? Dass der Wunsch nach Tafeln da ist, ist verständlich: Man muss schließlich für moderne Vorstellungen erklären, wie Inanna nicht nur konkrete Gegenstände, sondern Anleitungen und abstrakte Vorstellungen transportieren kann. Was einfacher, als dass das in Tafeln festgehalten ist? Nur dass davon eben keine Rede im Originaltext ist – anders als in „Ninurta and the turtle“, wo es tatsächlich die eine Tafel des Schicksals bei Enki gibt.

Mir fehlt jetzt jetzt nur noch die Quelle, die zum ersten Mal den Begriff „Weisheitstafeln“ eingeführt hat. Hämmerling hat ihn nicht. In Nacherzählungen ist er ja ohnehin in Ordnung.

Ich versuche gerade, das alles in Wikipedia zu aktualisieren, ist aber zäh. Eine neue Seite zu den Me habe ich angelegt, ist noch nicht gesichtet, ähnlich wie die ersten zaghaften Verbesserungsversuche auf den Seiten zu Inanna, Enki, Inanna und Enki.

5. Gegenhypothese

Die lautet: Es gibt eine wissenschaftliche Tradition, die Mes als auf Tafeln eingeschrieben zu betrachten, vielleicht weil Enki in „Ninurta and the Turtle“ eine Tafel und Mes mit sich trägt und beides verliert. (Kriegt es am Ende aber wieder.) Das legt ja nahe, dass auf der Tafel Mes stehen und wird so gedeutet. Wird am Ende daraus als Analogie geschlossen, dass Mes immer in Form von Tafeln existieren, auch wenn nicht explizit von Tafel-Heit die Rede ist? Bei Kramer steht allerdings nie etwas von Tafeln.

Welche der beiden Hypothesen zutrifft, weiß ich nicht; ich kenne leider auch niemanden, der sich mit Sumerologie auskennt. Am Ende bin ich jetzt selbst Grenzwissenschaftsautor und Privatforscher.

6. Links

Bonusmaterial

Wer bis hierhin durchgehalten hat, kriegt „Blue Suede Shoes“ auf Sumerisch von Doctor Ammondt. Text habe ich im Booklet, online leider nicht gefunden:

„Blue suede shoes“ wird übersetzt mit e-sir2 kuš-za-gin3-na: „Sandale Haut-Lapislazuli-?“, die Keilschriftzeichen darüber sind 𒂊𒁍 (e-sir2, Sandale) 𒋢 (kuš, Haut), 𒍝𒆳 (za-gin3, Lapislazuli) und 𒈾 (NA, na). Letzteres ist ein Suffix, den ich nicht zuordnen kann; an anderen Stellen im Liedtext steht stattdessen ein ĝu10, Possessivsuffix 1. Person Singular, also: my blue suede shoes, „Sandale Haut-Lapislazuli-meine“.


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4 Antworten zu „Wie ein Mythos entsteht: Die 14 Weisheitstafeln der ME in der Wikipedia“

  1. Poupou

    Ich habe mal deine Beiträge in WP durchgesehen und dir passive Sichterrechte verliehen. Damit kannst du bereits gesichtete Versionen überarbeiten und deine Änderungen gelten dann auch als gesichtet.

    LG
    Poupou

  2. Cool, vielen Dank, Poupou! Ich hatte mir schon zurechtgelegt, was ich alles in welchen Abständen machen muss, um passiver Sichter zu werden. Ich fange dann mal behutsam an, mich hineinzufinden!

  3. Ein Autor mit viel Erfahrung im Bereich Altertum ist Marcus Cyron, den könntest du ggf. mal ansprechen, falls du Fragen hast.

    LG
    Poupou

  4. Also Thomas, ich verstehe noch viel weniger als manche davon, aber ich finde Deine Ausführungen hochinteressant. Lieben Gruß aus der Sonne, vom Meer und dem guten Essen.

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