Erzähltheorie: Wo überall die Erzählinstanz drinsteckt

(12 Kommentare.)

Beim Erzählen versichert uns eine Erzählistanz kraft ihrer Autorität, was Sache ist. Wenn da steht: „Jones came home at 10 o’clock“, dann war das so, dass Jones um zehn nach Hause kam. Wenn da steht: „The grandfather clock was striking ten when Jones reached home“, dann wird zwar nahegelegt, dass das um zehn Uhr war – aber tatsächlich ist nur sicher, dass die Uhr zehnmal geschlagen hat. Und vielleicht ging die Uhr ja falsch.

In den Texten, die einem in der Schule begegnen, spielen diese Feinheiten keine große Rolle. Da draußen aber schon. Die zwei Beispielsätze oben stammen aus einem Aufsatz von Dorothy L. Sayers über Kriminalgeschichten („Aristotle on Detective Fiction“), und in diesen werden oft solche falschen Fährten gelegt.

Erzählautorität im Rollenspiel: Worauf man sich verlassen kann

Mitte der 1980er Jahre, Fantasy-Rollenspiel; lass es AD&D gewesen sein. War Michael Leiter, gespielt wurde bei Alexander? Ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls beschrieb der Spielleiter den Platz, wo wir unser Lager aufschlagen wollten, mit sinngemäß folgenden Worten: Da ist ein Platz für euer Feuer, daneben sind ein Busch und zwei große Steine. Wir lagerten also, legten eine Feuerstelle an, und die zwei Steine erwachten und griffen uns an. Hat uns der Spielleiter belogen, war er fair? Denn es waren ja dann doch keine Steine gewesen, sondern irgendwelche AD&D-Monster oder -Monsterpflanzen. Hätte er also sagen sollen: „Da sind zwei Objekte, die wie Steine aussehen“? Aber dann wären wir doch nie in die Falle getappt, es sei denn, er hätte das jedesmal so gemacht: „Ihr seht etwas, das wie ein Wirtshaus aussieht. Das, was wie Tür öffnet sich, und heraus kommt, was wie ein junger Bursche aussieht.“ Das ist korrekter, aber natürlich unspielbar.

Doppelgänger und andere falsche Identitäten

Ähnlich ist es bei Doppelgängern, falscher Identität oder unerwartetem Geschlecht. Doppelgänger gibt es bei den Doc-Savage-Abenteuern ständig. Aber Respekt: da hält der Autor das wirklich seitenweise durch, sich nicht zu einer vorschnellen Festlegung hinreißen zu lassen und stattdessen zu schreiben: „Die hochgewachsene Gestalt“, „der Angesprochene“, „der Hüne“ heißt es da, und erst nach diesen Seiten erfährt man, ob das nun das Original ist oder die Fälschung.

Überhaupt, die Wahl des Prononomens „he/she“ – lehnt sich da nicht die Erzählinstanz bereits aus dem Fenster? Der schwarze Ritter, der sich überraschend als Frau herausstellt (in diesem Fall: Leigh Brackett, People of the Talisman) – wird man da im Englischen die Benutzung des Pronomen „he“ in der ersten Hälfte des Buches konsequent vermeiden können? In Naomi Novik, Temeraire, entpuppt sich eine Person, „one of the boys, sandy-haired and round-faced“, „a slim young boy, his voice not yet broken but tall for that age“, Pronomen: he/him, bald darauf und für geübte Lesende wenig überraschend als junge Frau, ab da she/her.

Die Fokusperson

Tatsächlich sind nur Krimis und Rollenspielrunden manchmal besonders streng beim Erzählen. Meist ist die Erzählinstanz schon zuverlässig, auch wenn sie dabei zumindest in Details die Sicht einer Figur für sich heranzieht. Nach einem Modell würde man einfach sagen, das ist Innenperspektive, aber es geht in den Beispielen oben gar nicht so sehr um das, was eine Figur denkt oder fühlt, sondern ihren Wissenshorizont. Limited third person heißt das manchmal auch. Oder vielleicht passt interne Fokalisierung besser, aber so wie ich Genette verstehe, ist deren Extremform der innere Monolog, und das ist eigentlich gar nicht das, um das es mir geht.

James Joyce macht das in einer Kurzgeschichte so. Die Figur O’Connor sitzt in einem Zimmer, jemand kommt herein:

Someone opened the door of the room and called out:
“Hello! Is this a Freemasons’ meeting?”
“Who’s that?” said the old man.
“What are you doing in the dark?” asked a voice.
“Is that you, Hynes?” asked Mr. O’Connor.
“Yes. What are you doing in the dark?” said Mr. Hynes, advancing into the light of the fire.
He was a tall, slender young man with a light brown moustache.

James Joyce, „Ivy Day in the Committee Room“

Wer die Tür aufmacht, das ist erst „a voice“, dann vermutet O’Connor, dass es sich um „Hynes“ handelt, und erst ab dann wird der Türöffner „Mr. Hynes“ genannt – nicht die Gestalt, die aussah wie Mr. Hynes, sondern regulär „Mr. Hynes“, vor dem Wissenshorizont der Fokusperson O’Connor, und das lässt immer noch die Möglichkeit offen, dass sich „Hynes“ als Monster herausstellt, dass nur die Gestalt von Hynes angenommen hat. Bei anderen Autoren als Joyce kann so etwas ja durchaus vorkommen.

Bald darauf wird die Tür noch einmal geöffnet, ähnliches Vorgehen:

A person resembling a poor clergyman or a poor actor appeared in the doorway. His black clothes were tightly buttoned on his short body and it was impossible to say whether he wore a clergyman’s collar or a layman’s, because the collar of his shabby frock-coat, the uncovered buttons of which reflected the candlelight, was turned up about his neck.

James Joyce, „Ivy Day in the Committee Room“

Erst ein paar Zeilen später wird die Gestalt als „Father Keon“ erkannt und ab da so genannt. Wie eine Figur genannt wird, das hängt entweder vom Verhältnis der auktorialen Erzählinstanz zu der Figur ab, oder, heutzutage häufiger, von den anderen Personen um die Person herum. Und wenn sie alleine ist? Warum „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte“ und nicht „Herr Samsa“ oder nur „Gregor“, wie ab dann im Rest der Erzählung? Gilt als Regel: Beim ersten Mal die vollste Form des Namens, ab da eine von mehreren möglichen, dann aber konsequent durchgehaltenen Kurzformen? Ist der Butler im Krimi auch dann „Mortimer“ und nicht „Mr. Mortimer“, wenn die Herrschaft nicht anwesend ist?

Als Beispiel, willkürlich herausgegriffen, weil es aus anderen Gründen hier liegt (und bitte nicht die Fortsetzungen lesen), der Anfang eines Romans:

From her arrival at the docks to the appearance of Roger’s letter, […] three months had passed. On that morning, […] Miss Temple had not seen Roger Bascombe for seven days.

G. W. Dahlquist, The Glass Books of the Dream Eaters

Zuerst „Roger“, weil die Fokusperson Miss Temple ihn so nennt, dann „Miss Temple“, weil die Erzählinstanz sie so nennt. (Und das das ganze Buch über so halten wird; dass sich in dem Verhältnis Person-Erzählinstanz etwas ändert, kommt wohl allenfalls bei auktorialem Erzählen vor.) Dann wieder „Roger Bascombe“, weil wieder etwas weggerückt vom Miss-Temple-Fokus? Siehe Exkurs unten.

Die Erzählinstanz in der gedruckten wörtlichen Rede

Selbst in der wörtlichen Rede steckt die Erzählinstanz drin. Denn es ist ja bereits Interpretation und benötigt das Urteil einer auktorialen Autorität, um schriftlich festzuhalten, welche Wörter mit den Lauten, die aus dem Mund einer Figur kommen, eigentlich gemeint waren; man denke nur an Homophone. Ohne Erzählinstanz müsste alle wörtliche Rede Lautschrift sein. In mindestens einem Krimi wird das genutzt, dort hinterlässt ein Mordopfer nur die sterbend vor einem Zeugen ausgesprochenen Worte, hier vom nicht-auktorialen Erzähler festgehalten:

„Your gloves,“ he said distinctly – and then died.

John Dickson Carr, Patrick Butler for the Defence, p. 19.

Am Ende stellt sich heraus, dass er gar nicht Englisch, sondern Französisch gesprochen und tatsächlich „Vos gants“ gesagt hat (S. 193), was ja auch wirklich „Ihre Handschuhe“ heißt. Aber noch tatsächlicher hat er dann doch /vo ɡɑ̃/ gesagt, was schon als „vos gants“ gehört werden kann, aber in Wirklichkeit der falsch ausgesprochene englische Nachname „Vaughan“ war – ein Hinweis auf den Täter.

Verhörsituationen wie in Sand von Wolfgang Herrndorf, wo bis zum Schluss unklar bleibt, ob ein zentraler Satz nun lautet „Du Arsch, wenn er die Schiene funkentstört!“ oder nicht, ebenso ob ein Pilot nun „Turbulenzen“ oder „Tänzen“ gesagt hat.

Humoristisch verwendet wird das in Compton Mackenzie, The Rival Monster, wo jemand den englischen Dichter Spenser als Autorität für eine Rechtschreibfrage heranzieht. Das Gegenüber lässt das nicht gelten, kennt Spenser aber auch nicht, was in der Rechtschreibung ausgedrückt wird:

„Spenser spelt it the way I do.“

„Then Spencer ought to have known better.“

Compton Mackenzie, The Rival Monster (Kapitel 7), in: The Highland Omnibus p. 587

Ebenfalls humoristisch bei Terry Pratchett, wo jemand gerade das Wort „quantum“ erfindet, das von jemand anderem dann als „kwa-“ ausgesprochen wird

„It’d be a whole quantum leap in pyramidology,“ said IIb, sitting back with a messianic grin on his face.

„It’d be a whole kwa-„‚ IIa began.

„Quantum,“ said IIb, savouring the word.

„It’d be a whole quantum leap in bankruptcy,“ said IIa.

Terry Pratchett, Pyramids, p. 121

Ähnlich: „‚Captain, you’ve lost me again. What are Devices and why do you pronounce the capital D?’“ Terry Prachtett, Thud!, p. 282

Und noch eins aus Mark Twain, The Adventures of Tom Sawyer, wo Tom Angst hat, sich an „verdigrease“, korrekt: „verdigris“ /ˈvɝ.də.ɡɹis/ zu vergiften. Es gibt sicher viele solcher Beispiele von, uh, Orthographie-Malapropismen?

Die Regel scheint also zu sein, dass in Anführungszeichen das steht, was der Sprecher im Kopf hatte beim Sagen, auch wenn dabei eine falsche Vorstellung im Spiel ist. Innensicht auch in der wörtlichen Rede. Ausnahmen sind aber das Vos-gants-Beispiel, und manchmal – viel zu selten – bleibt das überhaupt unklar, etwa bei Herrndorf in Sand als eine Person fragt: „Können Sie das lösen?“ und dann, weil unverstanden, wiederholt: „Können Sie das lesen?“ Versprecher? Verhörer? Fiese Falle?


Exkurs zu Namen

Man möchte eine Liste anfertig, wie die Hauptpersonen in erzählenden Werken von der Erzählinstanz genannt werden: Vorname, Vor- und Nachname, mit Anrede, wechselnd? Ich blättere mal unsystematisch ein paar Bücher durch, jeweils mit Personen, die über solche modernen Namen verfügen, ohne Ich-Erzählungen. Vermutlich unterscheidet sich das nach Genre, Epoche, Urpsrungssprache? Das gibt es vermutlich schon längst irgendwo als Doktorarbeit.

1. Nur Vorname

  • Theodor Fontane, Effi Briest. Tatsächlich taucht „Effi Briest“ nur zweimal auf, einmal bei der Verkündigung ihrer Verlobung, einmal als Inschrift auf ihrer Grabstätte. Auch „Effi von Instetten“ erscheint nur einmal, und auch hier nur als Beschriftung einer Karte.
  • Theodor Fontane, Irrungen, Wirrungen.

1b. Bei Einführung einmal voller, danach nur Vorname

  • Kafka, „Die Verwandlung“
  • Annette von Droste-Hülshoff, „Die Judenbuche“

2. Nur Nachname

  • Friedrich Dürrenmatt, Der Richter und sein Henker. Eingeführt allerdings einmal mit „Kommissär Bärlach“ in einer Zusammenfassung, vielleicht gibt es weitere Fälle, eventuell zu 2b verschieben.
  • Gerhart Hauptmann, „Bahnwärter Thiel“. Eingeführt einmal als „Bahnwärter Thiel“, eventuell zu 2b verschieben.

2b. Bei Einführung einmal voller, danach nur Nachname

  • E. T. A. Hoffmann, „Das Fräulein von Scuderi“
  • Dashiell Hammett, The Maltese Falcon
  • Friedrich Ani, Süden und das heimliche Leben
  • Franz Kafka, Der Prozess. (Auch wenn der Nachname nur „K.“ abgekürzt wird.)

3. Vor- und Nachname

  • Jules Verne, Die Reise um die Erde in 80 Tagen. Oft aber auch „Herr Fogg“ als höfliche Anrede.
  • Richard Matheson, I Am Legend. Geschätzt: 1/3 „Robert Neville“, 2/3 „Neville“ allein. Ist der volle Name am Anfang von Abschnitten? Früher im Buch? Dazu bräuchte ich eine gute digitale Fassung und Zeit.

4. Nachname mit höflicher Anrede

  • Alice Berend, Die Reise des Herrn Sebastian Wenzel. „Herr Wenzel“ und „Herr Sebastian Wenzel“ wechseln sich ab, einmal allerdings habe ich auch „Sebastian Wenzel“ gefunden. Nicht alle Kapitel überprüft.
  • In H. G. Wells‘ The History of Mr. Polly ist natürlich immer von „Mr. Polly“ die Rede.
  • James Joyce, „Ivy Day in the Committee Room“: stets „Mr. O’Connor“

5. Mit Adelstitel, akademischem Grad, Berufsbezeichnung oder militärischem Rang

  • Hans Dominik, „Professor Belians Tagebuch.“ Der Professor ist aber nicht die Hauptfigur, für alle anderen Personen gilt das Modell: einmal voller, dann nur Vorname. Hier müsste man nach mehr Texten mit Dr., Prof., Captain suchen, ob die auch Hauptfigur sein können. Elphiston bei Jules Verne in etwa der Hälfte der Fälle „Major“. (Bei Ich-Erzählern: „Professor Lidenbrock“ bei Jules Verne ist nur sehr selten „Otto Lidenbrock“, sonst Professor; „Challenger“ ist bei Doyle nie „Professor Challenger“.)

6. Ohne Namen

  • James Joyce, „Eveline“: das ist nur von „she“ die Rede. Ähnlich weitere Geschichten in den Dubliners, anders aber auch in anderen Geschichten dort.

Bezeichnet da jeweils die Erzählinstanz aus eigener Motivation heraus die Personen so, oder ist das jeweils die Anrede, die eine im aktuellen Fokus stehende Person verwenden würde? Manche Erzählinstanzen siezen, andere duzen die Hauptfigur quasi. Besonders interessant wäre es, wenn sich das im Lauf einer Erzählung ändert.

(Nicht groß recherchiert, aber zumindest hier wird das in einem Forum für – ich weiß nicht, wie professionelle – Autoren und Autorinnen thematisiert.)

Nachträge: Zumindest in Der Vorweiner von Bov Bjerg gibt es tatsächlich eine Stelle, wo wörtliche Rede in IPA-Lautschrift wiedergegeben wird.


Beitrag veröffentlicht am

in

Kommentare: 12

Schlagwörter:

Kommentare

12 Antworten zu „Erzähltheorie: Wo überall die Erzählinstanz drinsteckt“

  1. Ganz spontan – die Uhr sagt, es sei knapp vor acht und meine Schulklingel hat noch nicht geläutet – eine Anmerkung, weil ich hier „Herr Fogg“ lese. Obacht bei Übersetzungen, gerade aus dem Regal von Jules Verne über Dickens zu Twain, Melville und Stevenson. Diese sind ja gerade im deutschsprachigen Raum in zum Teil absurden Fassungen übersetzt (und oft als „Kinder-“ oder „Jugendliteratur“ verhackstückt). Da kommt durch die Übersetzung glatt noch mal eine weitere „Erzählinstanz“ dazu.

  2. Ja, Übersetzungen sind tückisch. Gerade bei In 80 Tagen gibt es eine schöne Stelle bei Rückkehr von Fogg nach London: „[Q]uand le gentleman arriva à la gare, neuf heures moins dix sonnaient à toutes les horloges de Londres.“ Die Uhren schlugen zehn vor neun in London. Eine meiner deutschen Versionen übersetzt: „Als Mr. Fogg in London ankam, war es 8,50 Uhr“ – was erst einmal legitim scheint. Allerdings hat Philip José Farmer einen ganzen Roman daraus gemacht, in dem er der Frage nachgeht, warum Uhren um so eine krumme Zeit überhaupt schlagen sollten, und das geht dann natürlich nicht mehr. (Details in Blogeintrag.)

  3. OT: Hier ist ja auch alles schön neu gemacht! (Sehe ich gerade erst, wie lange denn schon?)

  4. Ich glaube, seit drei Wochen. Ganz zufrieden bin ich noch nicht, aber an einem Punkt, wo ich nicht weiß, was ich eigentlich will, und deshalb habe ich erst einmal aufgehört.

  5. Poupou

    Worüber ich schon länger immer wieder nachdenke, und wofür mir passende Bezeichnungen fehlen: wie nennt man das, wenn die Leser entweder gar nicht oder direkt angesprochen werden und dann geduzt oder gesiezt werden? Mich beschäftigt das immer wieder im Zusammenhang mit Blogs, die ich lese und die sich teils direkt a die Leserschaft wenden, teils nicht, und teils per du oder Sie. Gibt es dafür Fachbegriffe?

    LG
    Poupou

  6. Aus der antiken Rhetorik gibt es sicher akzeptierte Begriffe für verschiedene Arten der Ansprache, aber das gilt eher für Reden, nicht fürs Erzählen. Blogeinträge können aber beides sein, erzählend oder sich als Rede direkt an ein Publikum wenden. „Captatio Benevolentiae“ ist die spezielle Art der Ansprache, bei der eher am Anfang des Texts um das Wohlwollen des Publikums gebeten wird. Es kann gut sein, dass es da weitere Fachbegriffe gibt, aber da kenne ich mich nicht gut aus. Jedenfalls wendet man sich bei Reden viel öfter unmittelbar an das Publikum als beim Erzählen.

    Beim Erzählen kommt es sehr auf das Modell an. Wenn man „auktorial“ sagt, outet man sich als altbacken (Modell von 1955), das moderne Äquivalent lautet „nicht-fokalisierte heterodiegetische Narration“, nun ja.

    Ein echter Fachbegriff fällt mir nicht ein außer „(direkte, unmittelbare) Leseransprache.“ Die ist ein typisches Merkmal der auktorialen Erzählweise, in der sich die Erzählinstanz deutlich präsentiert als kommentierende, erklärende, wertende, aus der Distanz erzählende Figur. Oft wird das auch „allwissender Erzähler“ genannt, aber der Begriff ist nicht gut gewählt. Der Erzähler in den Brenner-Romanen von Wolf Haas ist sicher auktorial, aber eben explizit auch nicht allwissend:

    Jetzt warum ist der Brenner schon wieder auf der Tankstelle? […] Pass auf, der Brenner hat sich gedacht […] Die beiden Säufer waren natürlich da, soll ich jetzt sagen „wieder“ oder „immer noch“, ich weiß es nicht, die dürften da gewohnt haben.“

    Laut eigenem Eingeständnis nicht allwissend. Ein wenig Leseransprache in Form von rhetorischer Frage und dem „Pass auf“, also typisch auktorial. Auktorial war bis 1850 oder 1900 Standard, dann geriet das außer Mode, galt als schwatzhaft, selbstverliebt, und die Leser und Leserinnen sollten sich selber eine Meinung bilden statt von der Erzählinstanz alles kommentiert und erklärt zu bekommen. Mir liegt das Auktoriale allerdings sehr.

    Kurz: Außer „Leseransprache“ fällt mir nichts ein. Aber ich helfe gerne bei weiterer Klärung.

  7. Poupou

    Blogs, die die Leser anreden als Reihe von an ein Internetpublikum gerichteten Reden. Das habe ich noch nie so betrachtet, leuchtet mir aber spontan ein und dann habe ich auch ein Vokabular aus dem Latein-LK dazu, das ich nur wieder ausgraben muss. Und die anderen sind dann eher erzählende Blogs, die andere Stilmittel und Erzähltechnik verwenden. Beide sind dann in verschiedenen Kategorien unterwegs?

  8. Blogeinträge sind vielleicht oft Mischformen, ähnlich wie Essays. (Die hat man seit ein paar Jahren an der Schule, dort werden sie vorgestellt als Mischform aus Erzählen, Informieren, und Argumentieren. Und jetzt muss ich mir den Mund mit Seife auswaschen, aber das hat etwas mit der Realität des Essays in der Schule zu tun.) Da treffen sich die Kategorien. Richtig erzählt wird nicht so oft, beim Herrn Buddenbohm immer wieder mal, und die Leseransprache wie beim auktorialen Erzählen gibt es vermutlich nicht viel, eben weil die Erzählsituation fehlt. Aber die Ansprache wie in der Rhetorik, die gibt es öfter, ich habe leider kein schönes Fremdwort dafür gefunden. Latein-LK könnte eine gute Quelle sein.

    Wir bräuchten aber auch neue Fremdwörter für die Aufforderungen am Ende vom Blogeintrag: „Wie siehst du das?“ oder einen Stöckchenwurf, Formen der Publikumsansprache, die es so nur bei interaktiven schriftlichen Textformen gibt.

    (In der Wikipedia lese ich gerade: „Die Erstellung einer Erörterung folgt der klassischen Rhetorik und besteht aus vier Arbeitsschritten“ und denke mir, nicht in meiner Welt. )

  9. Poupou

    Mit Essay verbinde ich vor allem das, was ich an meiner englischen Uni verfassen musste. Und das war in der Tat im Stil erzählender als was meine deutschen Professoren gewollt hätten, zugleich sollte es aber inhaltlich neuartiger und Erkenntnis präsentierender sein (probably publishable). So viel Anspruch lese ich nur in wenigen Blogs. Aber auch das könnte man dann eher als Rede/Ansprache/Vorlesung an die Leser ausgestalten oder eher als Erzähltext.

    Aus dem Latein-LK steigt mir der Begriff Adhortativus auf. Das geht dann so ein bisschen in Richtung et ceterum censeo, zum Beispiel „Bitte benehmen Sie sich. Und bitte geben Sie mir keine Tipps, danke.“ (klbrüllen)

    Eine andere Art der Ansprache ist für mich, einen Dialog mit dem Leser anzudeuten, obwohl alle Beteiligten wissen, dass hier keine Antwort erwartet wird, also eher ein rein rethorischen Ansprechen: „Wenn man vom Feld geschickt wird, hält man die Fresse, bitte entschuldigen Sie das böse Wort. Eventuell habe ich ein böseres Wort gesagt, aber wir sind ja hier im Bildungs-Internet.“ (herzbruch) Oder: „Wenn Sie beim Startzeitpunkt des Kitaplatzes Juli angeben, kann ich Ihnen sagen, dass die Chancen sehr, seeeehr schlecht stehen, dass Ihr Kind einen Platz im Juli haben wird.“ (Zwischen Tiber und Taunus).

  10. Das ist ja fast wie früher, als Blogs etwas waren, das als Textsorte untersucht wurde! Um 2004 herum habe ich mich da mal eingelesen, war die letzte heiße Sache in der Didaktik.

  11. Poupou

    Vermutlich gibt es dazu längst Doktorarbeiten, aber ich habe halt keine Ahnung!

  12. Aginor

    Ist jetzt bisschen am Thema vorbei, aber zu dem falsch gehörten fällt mir immer „Boneapple tea“ ein:

    Gab da mal einen berühmten Tweet (oder so) der zeitweise sogar ein subreddit erzeugt hat. Da fragte jemand IIRC warum Franzosen eigentlich immer „Boneapple tea“ sagen bevor sie anfangen zu essen.

    Und dann ist da natürlich noch Coldmirror (auf Youtube) mit Liedern wie „Keks alter Keks“, und andere sogenannte „Agathe Bauer“ songs. Da wurde das verhören zur Kunstform erhoben.
    Man kann z.B. in „I just died in your arms tonight“ von Cutting Crew den deutschen Satz „Du musst besoffen bestellen“ hören.

    Gruß
    Aginor

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert