Vorgestern stellte ich auf Twitter eine Frage zu einem Thema, das mich interessierte:
Immer öfter Eltern-Wunsch (Unterstufe), die zu erledigenden Hausaufgaben online zu stellen, für Eltern einsehbar – weil SuS es nicht schaffen, ihre Aufgaben selbst zu notieren. Meine 1. Reaktion: so weit kommt's noch, 2.: hätte schon Vorteile, 3.: nein, aber aus Gründen. Ihr so?
— Thomas Rau (@Herr_Rau) November 25, 2021
Und im Lauf des Tages kamen nach und nach viele bereichernde Antworten aus verschiedenen Perspektiven. Das hat mich sehr gefreut. Also erstens die Antworten, und zweitens der Ton: Es blieb freundlich, wenn auch nicht ohne Differenzen, aber ohne Vorwürfe und Besserwisserei. Nur ganz am Ende wollte partout jemand – keine Lehrkraft – mir erklären, aber auch dass im höflichen Rahmen, dass das doch ganz einfach ginge, weil… ganz einfach ist selten etwas.
Mein Tweet beschreibt meine ehrlichen Reaktionen auf die Frage, und ich glaube, die wird von vielen Gymnasiallehrkräften geteilt. Zuerst ist da schon etwas Dünkel: Haben wir noch nie gemacht, wo kämen wir da hin, ist unnötig, bin ich der Sekretär – aber vermutlich steckt dahinter ganz viel von: was soll ich denn noch alles machen? Ich halte all das für absolut legitim und sogar für die richtige Vorgehensweise, wenn irgendwelche Neuerungen vorgeschlagen werden, weil es davon sehr viele gibt.* Aber man darf bei dieser Reaktion nicht stehenbleiben, sondern muss der neuen Idee schon auch eine Chance geben und über sie nachdenken. Wenn die Hausaufgaben irgendwo online stünden, das hätte schon auch Vorteile, für alle Parteien, das kann man nicht leugnen. Viele davon stehen in den Twitter-Antworten. Es gibt eigentlich nur zwei potentielle Nachteile, die kann man allerdings auch nicht leugnen: Es ist erstens zusätzliche Arbeit für die Lehrkraft. Wenn man zweitens nicht mehr von den Schülern und Schülerinnen verlangt, ihre Hausaufgaben selbst zu verwalten, erlernen sie nicht das selbständige Verwalten und Erledigen von Aufgaben.
Meine Gedanken dazu, angeregt durch die Twitter-Kommentare:
- Lernen die SuS wirklich so viel Selbständigkeit mit dem Hausaufgabenheft? Das müsste man zumindest diskutieren, und auch, ob es nicht reicht, wenn sie die später lernen. Tatsächlich haben manche die bis zum Abitur nicht erlernt, zu prüfen wäre, was sich ändern würde, notierte man die Hausaufgabenstellung für die SuS.
- Zusätzliche Arbeit für die Lehrkraft: Ist so, und solange das so ist, ist das ein Problem. Man kann diese zusätzliche Arbeit minimieren durch eine geeignete Software- und Gerätestruktur oder eine Änderung der eigenen Unterrichtsvorbereitung – das sind aber alles große Schritte und nichts für einfach nebenbei.
- Man muss also weg von dem Gedanken, dass das aktuell vielleicht nicht gut leistbar ist, hin zu: wenn es ginge, wäre es sinnvoll?
- Ich finde inzwischen: ja. Ich gebe die Hausaufgaben ja zu einem Zweck und möchte, dass sie erledigt werden. Das ist mir wichtiger als die ominöse Selbständigkeit.
- Zur Erinnerung: Die Infrastruktur und eine Lösung für die zusätzliche Arbeit vorausgesetzt.
- Am liebsten würde ich so unterrichten: Am Vorabend schreibe ich in meinen Onlinekurs den Arbeitsauftrag für die Doppelstunde, mit Material und allem. Wenn ich Ausfrage, dann auch gleich mit den Fragen, die ich stelle. Die Stunde selber beginnt dann nach der Begrüßung oder auch schon davor mit dem selbstständigen Arbeiten. Ansonsten bin ich präsent, und in der zweiten Hälfte der Stunde ist dann Raum für Unterrichtsgespräch. Die Hausaufgabe steht dann auch online, die schreibe ich gegen Ende der Stunde dort auf. (Vorher geht schlecht, weil die Aufgabe ja auch vom Verlauf der Doppelstunde abhängt. Ich unterrichte Menschen, nicht Maschinen.)
- Demnach wären die Hausaufgaben online, was wirklich praktisch für viele Schüler und Schülerinnen ist. Aber ie wären je Fach an einem eigenen Punkt. Eine zentrale Anlaufstelle für „Alle Hausaufgaben auf einen Blick“ möchte ich tatsächlich nicht – wegen der Eigenverantwortung. Wer mag, kann ja am Ende der Stunde die Hausaufgabe selber anderswo notieren.
- Eine gar nicht so ungeschickte Zwischenlösung: Ja, Hausaufgabe online für Eltern als Erinnerung einsehbar machen, aber nur hinschreiben: „Siehe Hausaufgabenheft.“
(Auf Twitter war man so nett, meinem Wunsch nachzukommen, nicht die Sinnhaftigkeit von Hausaufgaben zu diskutieren. Das ist ein anderes Thema, nur kurz: Bin für Hausaufgaben. Diskutiere gerne darüber, in einem anderen Blogeintrag, weil man viel Unsinn dazu liest.)
Das war das eine Twitter. Das andere… ich fragte mich neulich, wo die ganzen Besserwisser und Lehrerbelehrer im Kollegium hin sind. Jetzt weiß ich es: die sind auf Twitter und erklären uns am Gymnasium, was wir alles falsch machen.*
Hey Kolleginnen und Kollegen, habt ihr Notenbesorgungsdruck? Meine Kids (Gym) schreiben jetzt jede Woche 2 Schulaufgaben und werden laufend abgefragt. Mega gestresst. Die sehnen einen Lockdown herbei. 🙈 Macht mal locker bitte 😁 #twlz
— Flori Kohl 🦊|BY (@FloriKohl) November 26, 2021
Schreibt der stellvertretende Vorsitzende der GEW Bayern. (In den letzten zwei Tagen hatte er einen Lauf. Mantel des Schweigens.) „Macht mal locker bitte“ impliziert, dass die Lehrkräfte am Gymnasium gerne Noten geben, und gerne Notenstress machen, und das alles vermeiden können, wenn sie einfach lockerer wären. So locker wie die Kollegen und Kolleginnen an anderen Schularten, heißt das dann wohl? Ich habe ja eine Beißhemmung, den anderen Schularten zu erklären, was sie alles falsch machen, weil dann wieder auf die arroganten Gymnasialkräfte eingeprügelt wird; andersherum gibt es das nicht. Das ist ein wenig… asymmetrisch.
Locker machen: So war das Gymnasium meiner Schulzeit. Da möchte ich tatsächlich wieder hin! Noten gab es nach Gefühl, hat immer gepasst, weil Gefühl gar nicht so schlecht; besser als das Punktezählen jedenfalls. Lehrplan war auch nur so halbwichtig. Aber die Eltern und ihre Anwälte wollen das nicht, haben ja auch nicht ganz unrecht. Ein System muss sich überlegen, wo genau es sich auf dem Spektrum zwischen extremer Bürokratie auf der einen Seite über Lockerheit und Beliebigkeit bis zur Korruption im anderen Extrem positioniert. Da wünschen sich Leute, dass „gerade bei der Pflichtgehorsamkeit viel öfter ein wenig ‚lockerer gemacht‘ werden würde.“ Was immer das heißt, es klingt nicht nach Vereinbarkeit mit meinem Diensteid.
Locker machen: So war das noch in meinem Referendariat. Drei mündliche Noten pro Halbjahr als Pflicht („mündlich“ Fachausdruck, lange Geschichte), ich habe sie gemeinsam mit meiner Betreuungslehrkraft erfunden. Da möchte ich tatsächlich wieder hin! Noten gab es nach Gefühl, hat immer gepasst, weil Gefühl gar nicht so schlecht; besser als das Punktezählen jedenfalls. Ist das okay mit dem stellvertretenden Vorsitzenden der GEW? Mit dem Landeselternverband?
Locker machen: So war das noch mit den Kollegen, die vor zehn, zwanzig Jahren pensioniert wurden. Alte Haudegen, Alt-68er, gerne so Deutsch-Geschichte-Sozialkunde. Schulaufgaben (größere schriftliche Prüfungen) wurden spontan geschrieben, kurz gehalten, über Nacht und recht oberflächlich korrigiert. Lehrplan auch eher egal. Mitreißende oder zumindest emphatische Reden in den Konferenzen Gestern erst wurde im Kollegium in einem Gespräch dieser Generation nachgetrauert, wenn auch nicht von mir. Möchte ich dahin zurück? Vielleicht. Darf ich?
Locker machen: Ich breche und biege Vorschriften ständig, und mit einem gewissen diebischen Vergnügen daran, aber mit Augenmaß und wenn es nötig ist. Eine gleichermaßen große Freude bereitet es mir allerdings, Vorschriften zu kennen (Schulrecht, so schön!) und einzuhalten. Beamter, Diensteid, Aufrechterhaltung der Zivilisation und so. Pauschal von allen Gymnasialkräften Lockerheit zu fordern, ist unangemessen. Ich bin übrigens nie locker, aber fast immer entspannt.
Noten geben ist das, was ich am wenigstens gern in meinem Beruf mache. Selbst schriftliche Korrekturen wären viel leichter, wenn ich einfach nur kommentieren könnte statt mich begründet und gerichtsfest auf eine Note festzulegen. Ich betrachte das viele Geld, das ich kriege, als Schmerzensgeld für diese Notengeberei. (Heißt das dann, dass weniger Geld okay ist, wenn man sich dafür mehr locker machen kann? So wie in anderen Schularten, anscheinend? Das würde manches erklären.)
Zumal der Notenstress, wenn es ihn denn gibt, und das ist wieder ein anderes Thema, ja nicht von den Lehrkräften kommt, sondern vom Gesetzgeber, also vom Wählerwillen, und von den Eltern. Gibt es bei euch auch viermal im Jahr einen kleinen Notenschluss, weil dreimal Mitteilungen über den aktuellen Notenstand und einmal Jahreszeugnis? Und Klagen darüber, wenn da keine aussagekräftigen Noten drinstehen? Keine Prüfungen an den ersten Tagen nach den Ferien? Nicht am Nachmittag, nicht in der 6. Stunde? Man könnte diesen schönen Fragebogen noch erweitern:
Wir bedanken uns bei allen Lehrerkräften, die in dieser schwierigen Situation den Humor behalten und solche Fragebögen vorschlagen… Ihr seid super! #Untis pic.twitter.com/WxuTMJKMMC
— Untis Bayern (@UntisB) November 22, 2021
Die Frage, ob Schüler und Schülerinnen („kids“) sich einen Lockdown wünschen und aus welchen Gründen, ob sie zuviel Prüfungen ausgesetzt sind, ist eine sinnvolle und wichtige Frage. Aber einfach mal locker ist keine Antwort darauf.
*) Anderer Tweet neulich: „Liebes #twlz Mein subjektiver Eindruck ist, dass Kolleg:innen am Gymnasium konservativer gegenüber pädagogischen Reformen eingestellt sind als solche an Gemeinschaftsschule-/Gesamtschulen. Was denkt ihr und welche Gründe könnte dies haben?“ Das ist etwas dran, aber es war dann leider auch ein Lehrerbelehrer ohne echtes Interesse an einer Antwort.
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