Vor auch schon zehn Jahren gelesen, das immer schon wiederholen wollen, und auf Anregung auf Twitter kam es jetzt dazu. Kleinere und mittlere Spoiler folgen. Ich gehe dabei nur auf drei große Aspekte ein.
Die Welt als unzuverlässiger, unverstandener, unwirklicher Ort
Ganz wesentlich für mich war beim Lesen das Gefühl, dass die Welt um die gedächtnislose Hauptperson Carl, aber vielleicht auch um andere, nur eine Kulisse ist, ein Konstrukt.
- Am Rande hierher gehören die Zitate, die den Kapiteln vorangestellt sind. Gleich das erste, Herodot zugewiesen, hielt ich für eine falsches Zitat, eine Täuschung: „Wir schicken jedes Jahr – und scheuen dabei weder Leben noch Geld – ein Schiff nach Afrika, um Antwort auf die Fragen zu finden: Wer seid ihr? Wie lauten eure Gesetze? Welche Sprache sprecht ihr? Sie aber schicken nie ein Schiff zu uns.“ Ich habe meinen digitalen Herodot durchgekämmt, aber nichts gefunden. Im Web gibt es dieses Zitat natürlich, aber keine Quellen dazu. Es wäre nicht das erste Buch mit erfundenen Zitaten. („‚One of the joys of travel is visiting new towns and meeting new people‘ – G. Khan.“) Diese Skepsis behielt ich bei, bis sich die anderen unwahrscheinlichen Zitate dann beim Recherchieren zu meiner Überraschung nach und nach doch als korrekt erwiesen, einschließlich weiterer Herodot-Zitate. Also was ist jetzt mit dem ersten: Echt oder nicht?
- Das Maschinengewehr, mit dem Carl aufwacht, ist eine Attrappe, ein Kinderspielzeug.
- Eine Frau auf einer Party: „Sehr schlank, sehr blond, große Brüste, aber irgendetwas schien mit ihr nicht zu stimmen. Ihre Mimik wirkte sonderbar verrutscht.“ Als wäre ewas nicht echt an ihr.
- Polidorio und Canisades machen aus Langeweile einen nicht sehr aussagekräftigen Intelligenztest, für Polidorio ergibt sich ein beschämender Wert von 102. Nach einem Sandsturm steigt Polidorio aus seinem Auto und sieht ein „paar Meter vor dem Wagen […] ein Schild, das dort vorher nicht gestanden hatte. Es schaute mit der Spitze aus einer mannshohen Düne, war dreieckig und verrostet und die Aufschrift kaum leserlich. 102 … Rest unentzifferbar.“ Zufall oder Zeichen?
- Kapitel 15 beginnt: „Ein Blick wie auf eine Theaterbühne, zwei dunkle Holzbretter rechts und links als improvisierte Vorhänge.“ Kapitel 16 beginnt: „Im selben Moment, als die Männer rechts aus dem Bild verschwanden, tauchte wie ein Schauspieler auf dem Boulevardtheater hinter dem Holzbrett links die Sonne auf.“
- Das Kulissenhafte der Praxis des Psychiaters. Ganz am Ende sind alle Möbel fort, und auch während Carls Besuch dort wirkt es wie eine Kulisse heraus:
«Meine Bibliothek», sagte der Arzt. Er war vor einer Tür stehen geblieben, öffnete sie schwungvoll und knipste das Licht an. Der Schein einer schwachen Glühbirne beleuchtete eine winzig kleine Kammer. Zwischen Staub und zerbröselten Ziegelsteinen lag ein abgebrochenes Waschbecken auf der Erde, zwei verrostete Rohre stachen aus der Wand.
«Hoppla», sagte Dr. Cockcroft. Nonchalant zog er die Tür wieder zu.
- In Kapitel 44 beobachtet Carl, wie ein riesenhaftes Ouz (ein Tier, das einige Male im Roman auftaucht) durch die Gassen der Oase Tindirma getrieben wird; es handelt sich um ein Ritual oder eine Prozession – am Ende stellt sich heraus, dass das Ouz gar nicht echt ist: „Das hintere Bein lag abgerissen da, und in den eingedellten, aufgerissenen Flanken des Tieres wurden Holzlatten und Gestänge sichtbar.“
- Als die Agenten versuchen, aus Carl Informationen herauszuholen, kommt diesem vor, „als sei alles nur ein Traum“, es macht „auf ihn einen zunehmend unwirklichen Eindruck, den Eindruck des auswendig Gelernten und vorher Geprobten“, es macht den „Anschein des Schülertheaters“.
- In Kapitel 14 läuft im Hintergrund der Handlung ein Fernseher. Beschrieben werden dabei unzusammenhänge Einzeleindrücke, fast wie im Zeilenstil eines expressionistischen Gedichts, vom Zusehenden nicht beachtet oder nicht verstanden. Die medial vermittelte Welt bleibt dem fiktionalen Publikum rätselhaft, zumindest interessiert sich Canisades nicht dafür:
Ein hoher Offizier wurde zum Provinzgouverneur ernannt. Eine Oberschule war abgebrannt. Der Nachrichtensprecher las ernst und salbungsvoll. Als hinter ihm das Bild einer Frau in schwarzem Hidschab erschien, die sich vor verkohlten Kinderleichen auf dem Boden wälzte, brach ihm die Stimme. […] Dazu sah man eine Frau in knappem Höschen, die mit beiden Beinen waagerecht vor sich in der Luft stand. Unter ihr eine Sandgrube, hinter ihr eine Tartanbahn: Heide Rosendahl. Der Sprecher stockte kurz, und schon zeigte ein Einspieler einen Mann mit einem weißen Sonnenhütchen auf dem Kopf und Schuhcreme im Gesicht, der sich mit einer Gruppe von Anzugträgern unterhielt. [Dann etwas, das meine Generation beim Lesen sofort als den Mordanschlag auf die israelische Mannschaft in München identifiziert.]
- Diese Bilder sind sicher alle echt und mindestens teilweise ikonisch, ich habe nicht alle erkannt. Die in der Luft stehende Frau macht erst Sinn, wenn man sie als Weitspringerin identifiziert, und zwar von vielleicht genau diesem Bild:

Warum ausgerechnet die VAR?
Zur Kulissenhaftigkeit auch die Verhörer/Verschreiber:
- Lungren hat einen Sonnenstich, verliert seine Sprache: „und plötzlich war das Wort weg. Ein taubes Gefühl blieb wie Watte auf seiner Zunge zurück. Das Wort war weg. Es war, als würde er sich nicht an seinen eigenen Namen erinnnern.“ Er trinkt Minztee oder Münztee oder Malztee, er schreibt und denkt „Die Wuste lebt.“
- Cockcroft fragt Carl: „Können Sie das lösen?“ und wiederholt „Können Sie das lesen?“
- Im Flugblatt steht „Termiene“.
- Ein allerdings betrunkener Pilot macht eine Durchsage: „Wir durchfliegen ein Gebiet mit Tänzen.“ Oder hat er doch „Turbulenzen“ gesagt und ist nur falsch verstanden worden?
- Ein zentraler Satz lautet: „Du Arsch, wenn er die Schiene funkentstört!“, oder eben auch nicht, das bleibt unklar. (Interessant ist das beim Namen „Cetrois“, der lange nur in mündlicher Form auftaucht, ohne dass irgendjemand die Schreibung kennt. Beim Buch kann man natürlich schlecht alle wörtlicher Rede in IPA-Lautschrift wiedergeben, also wird von Anfang an die Schreibung verwendet, die sich am Ende als korrekt herausstellt. Aber bei einem ersten Recherchieren werden durchaus die Formen „Cetrois, Cetroix, Sitrois, Setrois“ in Betracht gezogen.)
Erinnerungen an andere Geschichten
Ich lese ja doch nicht in Büchern, was drinsteht, sondern wiedererkenne das, was ich eh schon weiß: und so auch hier. Die Sachen, die mir besonders gefallen haben, sind Sachen, die mich an andere Bücher oder Filme erinnert haben; da gehen Ursache und Wirkung wohl in einander über.
- Phillip K. Dick: Die Welt um uns ist nur Kulisse; wir sind nicht, wer wir denken. Das kenne ich aus etlichen seiner Bücher.
- Umberto Eco, Das Foucaultsche Pendel: Wenn genügend Leute an die Existenz von etwas Erfundenem glauben, dann ist das so, als würde es existieren. Und beim Verfolgen mancher Bedeutungsspur kam ich mir selber vor wie William von Baskerville, falschen Spuren folgend, Bedeutung in Rätseln suchend, die keine keine Lösung haben oder keine Rätsel sind.
- Robert Aldrich, Rattennest/Kiss Me Deadly (1955): Ein Schwarzweiß-Krimiklassiker, den ich schon sehr lange nicht mehr gesehen habe. Eigentlich erinnert mich der nur an Sand, weil der MacGuffin darin ein Koffer mit rätselhaftem und ungeklärtem Inhalt ist. Als der Protagonist ihn einmal öffnet, sieht das Publikum nur, wie ein helles Leuchten aus ihm dringt; er erhält eine Verbrennung am Handgelenk. Heißt: Das ist irgendein atomares Material darin. Am Ende öffnete jemand anderes den Koffer und geht in Flammen aus; das ganze Haus explodiert danach. Ist das nicht ein Herrlichkoffer? Es riecht jedenfalls nicht-realistisch. (Herrndorf stellt dem Kapitel 41 ein Zitat aus einem anderen Aldrich-Film voran.)
- Stanley Donen, Arabeske/Arabesque (1966): Mit Gregory Peck und Sophia Loren. Der Titel und der Film selber werden immer wieder gerne verwechselt mit Charade (1963) mit Audrey Hepburn und Cary Grant – Kunststück, derselbe Regisseur. In Arabeske wird ein nichtsahnender Experte für altertümliche Sprachen in ein Komplott verwickelt, komplett mit Agenten von unterschiedlichen und wechselnden Seiten; der MacGuffin ist eine hethitische Inschrift, die er entziffern soll, wobei es am Ende doch eine ganz andere Bewandnis mit dieser hat, als zuerst angenommen. (Das Motiv des Unschuldigen, der in ein Komplott verwickelt und für jemanden gehalten wird, der Teil davon ist, findet sich oft, etwa in North by Northwest oder Into the Night, in dem David Bowie einen Killer spielt, der sich auch in Sand gut gemacht hätte.)
- Textadventures: Siehe vorherigen Beitrag.
Was die Personen der Handlung wissen und was ich als Leser weiß und was ich nicht weiß
In Charles Finney The Circus of Dr. Lao gibt es einen Anhang, das heißt, es gibt neun Anhänge. Der letzte zählt nur „The Foodstuffs“ auf, die im Buch erscheinen; der vorletzte sammelt “Offene Fragen, Widersprüche und Unklarheiten” – einige davon sind wahrscheinlich nur im Zusammenhang mit der Handlung verständlich, wie: „Was war das für eine Angelegenheit, um die sich der tote Man kümmern musste, den Appolonius wiedererweckt hatte?“ oder meinen Favoriten: „War es ein Bär oder ein Russe oder was?“
Ich glaube, ein Motiv in Sand ist das der Zusammenhänge, die der Erzähler und der Leser oder die Leserin kennt oder kennen könnte, aber sonst niemand, oder jedenfalls keine der Hauptpersonen. Oder ist das einfach krimitypisch?
- War es eine Mine oder eine Miene oder was? Den Gedanken „Mine“ bringt zuerst Helen ins Spiel (Kapitel 22), danach Adil Bassir, der sagt, allerdings auf Französisch: „Dann ist das wieder meine Mine.“ Helen gegenüber gibt Carl diese Aussage wieder als: „dann ist das wieder meine“, ohne das Wort Mine zu benutzen. Warum? Hat er es nicht gehört? Wir erfahren ja nur, oder allenfalls, vom Erzähler, was Adil Bassir gesagt hat, nicht, was Carl gehört hat. Das Thema „Verhörszenen in der Literatur“ ist mal einen eigenen Beitrag wert, und ich habe oben schon darauf hingewiesen, dass sich in diesem Buch viel verhört wird. Im Buch geht es viel um Kugelschreiber. Aber können wir sicher sein, dass die Kugelschreibermine das ist, nach dem gesucht wird?
Was hat Adil Bassir wirklich gesagt, auf Französisch, in einem „unbestimmbaren Akzent“? Zumindest im Moment übersetzt mir Google Translate „Dann ist das wieder meine Mine“ als „Alors c’est à nouveau à moi“, was eigentlich eindeutig falsch ist, aber hervorragend passen würde: Dann hätte nicht einmal Adil Bassir von Mine gesprochen, das heißt: Es gibt keine Mine und gab nie eine Mine.
Aktuell übesetzt Google Translate auch dt. „meine Mine“ als frz. „mon mien“, was falsch ist, weil Miene und Mine. (DeepL macht alles richtig.)
„Le mien/la mienne“ heißt: „der/die/das meine, meines“, das klingt ähnlich wie, ist aber kein Homophon von frz. „mine“ (dt. Mine) – außer man spricht mit unbestimmbarem Akzent?
Ich würde ja sagen, dass das Leseparanoia ist. Aber ich kenne einen englischsprachigen Krimi, in dem ein Verhörer eine zentrale Rolle spielt. Sie werden vom Augenzeugen als „your gloves“ wiedergegeben und sind ein entscheidender Hinweis in der Handlung. Nur dass sich am Ende des Krimis herausstellt, dass das ganze auf Französisch gesprochen war, also nicht „your gloves“, sondern: „vos gaunts“, und dass das überhaupt nicht die geflüsterten Worte waren, sondern tatsächlich ein Homophon davon – das ein Hinweise auf den Täter war.
– Frau Kaltmamsell weist mich soeben auf Twitter darauf hin, dass auch im Krimi Dead Again (1991) ein Verhörer um das Wort „Disher“ eine zentrale Rolle spielt – und es außerdem ebenfalls einen Gedächtnisverlust gibt. - Was ist die Vorgeschichte von Carl, dem Mann ohne Gedächtnis? Wie kam er an seinen Ausweis?
- Von wo nach wo genau wandert der Bastkoffer? (Sehr wahrscheinlich sehr genau rekonstruierbar. Nicht für mich.)
- Was machen die Hollerith-Maschinen in Nordwestafrika? (Keine Ahnung, aber wahrscheinlich streng historisch.)
- Wieso kriegt Polidorio jeden Tag um 16 Uhr Kopfschmerzen? (Antworten denkbar.)
- Wer hat Canisades getötet? (Wir wissen es. Aber der Mörder weiß nicht einmal, wen er getötet hat, und was er mit ihm zu tun hat, und die Polizei weiß gar nichts: „Als Canisades’ Mörder hängte man einen alten Schnapsbrenner, der keine Söhne, kein Alibi und, wenn man ehrlich sein wollte, auch kein Motiv hatte.“ Und wir wissen auch, was der Schnapsbrenner und seine Söhne mit der Handlung zu tun haben, sonst kaum jemand mehr.)
- Wo kommt das Spielzeugmaschinengewehr her? (Wir können uns zusammenreimen, wie es in Carls Besitz gekommen ist. Aber man muss genau lesen, um herauszufinden, wer es hat anfertigen lassen. Das erklärt mir endlich auch, warum dieser Person überhaupt so viel Raum gegeben wird, obwohl sie mit der Handlung so wenig zu tun hat.)
- Wo ist die verlorene Kugelschreibermine am Ende? (Wir wissen es, kriegen es vom Erzähler in aller Ausführlichkeit vorgestellt; sonst niemand.)
- Was ist am Ende mit Hakims Hütte und Carl passiert? (Wir und Hakim wissen es; Helen vermutet, aber vermutet falsch.)
- Am Ende, oder kurz vor dem Ende, gibt es noch ein Kapitel, wie ich es sehr schätze, „Was weiter mit ihnen geschah.“ Das gibt es bei Dragnet, in Gerichtsshows, bei Garp, bei American Graffiti, bei mehreren Dickens-Romanen oder Tom Jones. Wir erfahren dabei auch: „Im Sheraton wurde ein Schlüssel vermisst. Im Leeren Viertel kam ein Mann zu Reichtum, der eine günstig erworbene Espressomaschine zum Zehnfachen ihres Preises weiterverkaufen konnte. Eine junge hellhäutige Frau (normannischer Typus) und ihr dreijähriges Kind wurden mit aufgeschlitzten Kehlen in den Bergen aufgefunden. Im Rachen des Jungen entdeckte man ein Amulett in Form eines kleinen Teufelchens. Das Verbrechen wurde nie aufgeklärt.“ (Wir können uns jeweils zusammenreimen, was geschehen ist.)
Im Nachhinein: Vielleicht bleiben doch gar keine Fragen offen und alle losen Enden sind verknüpft? Einiges habe ich aus Diskretion weggelassen,das könnte man auch in eventuellen Kommentaren so halten. Ich hatte mir ja bei diesem zweiten Lesen vorgenommen, sehr analytisch zu lesen, habe mir Notizen gemacht, weil ich herausfinden wollte, was Herrndorf da genau macht und wie. Alles nur Papier und digital, keine Karte an der Wand mit Reißzwecken und Bindfaden, aber das kommt beim nächsten Durchgang. Denn zefix, geknickt muss ich gestehen, Herrndorf hat mich voll drangekriegt. Das war ein kleiner Schlag für mein Selbstbewusstsein, aber sehr schön.
Wo ich doch keine Thriller mag
Es ist ein Thriller, am ehesten, und ich mag keine Thriller. Aber es hilft, dass es ja doch keiner ist, und dass alles so lang her ist, viel länger als noch vor zehn Jahren, als ich Sand zum ersten Mal gelesen habe. Der historische Edelrost hilft, das Schicksal Carls zu ertragen.
Definitiv etwas für die Schule, ab 10. Klasse, eher noch später.
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